Sogenannte Musische Gymnasien und Musikgymnasien sind heute eine wichtige Säule in der (Aus-)Bildung junger Musiker:innen. Es gibt keine eindeutigen Zahlen, aber blickt man sich in Landesjugendorchestern, Musikhochschulen und Musiker:innenlebensläufen um, wird sicherlich ein großer Teil solche Einrichtungen besucht haben. Gründe dafür gibt es viele: Für Jugendliche auf höherem Instrumentalniveau kollidiert der Schulalltag oft mit der arbeitsintensiven musikalischen Freizeitgestaltung. An Musischen Gymnasien ist man sich dessen bewusst und passt den Schulalltag entsprechend an. Auch kooperieren solche Einrichtungen meist mit den PreCollege-Programmen der örtlichen Musikhochschulen. Neben dem höheren Niveau des tatsächlichen Unterrichts findet sich hier leichter eine ähnlich musikbegeisterte Peergroup. Diese Schulen wirken so als Katalysator im undurchsichtlichen Stoffgemisch musikalischer Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen, der bestenfalls mehr bedeutet als nur staatliche Elitenförderung. Tatsächlich liegen die Wurzeln des Musischen Gymnasiums nicht nur in den Utopien von Reformern, sondern – das ist hierzulande ja eigentlich auch wieder keine Überraschung – im Nationalsozialismus und der geistigen und materiellen Enteignung zweier jüdischer Funktionäre.

Am 27. November 1882 wurde Leo Kestenberg im damals österreich-ungarischen Rosenberg (heute das slowakische Ružomberok) geboren. Sein Vater war jüdischer Kantor und gab dem Jungen ersten Klavierunterricht – viele Jahre später sollte dieser nicht nur berühmter Pianist, sondern auch prägend für die Geschichte des deutschen Musikunterrichts werden.

Leo Kestenberg 1905 (Public Domain)

Nur wenige Monate nach Kestenbergs Geburt trat im fast eintausend Kilometer entfernten Frankfurt am Main der 23-jährige Chemiker und Geschäftsmann Arthur Weinberg in das Unternehmen Casella Farbwerke ein. Zunächst kein wirklich bedeutender Schritt, schließlich war es eine Tochtergesellschaft des von seinem Onkel geführten Handelshauses Leopold Cassella & Co. Zusammen mit seinem Bruder Carl baute er den Betrieb aber bis 1900 erfolgreich zum weltgrößten Farbhersteller aus, nach Ende des ersten Weltkriegs fusionierte er – seit einigen Jahren nun als Arthur von Weinberg – 1925 in der IG Farben schließlich die wichtigsten deutschen Farbunternehmen zum damals größten Chemiekonzern der Welt. Mit der Artur von Weinberg-Stiftung unterstützte der jüdische Geschäftsmann großzügig die Forschung, die Gründung der Frankfurter Universität, aber auch Theater und Museen, wodurch ihm eine Reihe von Ehrungen, Titel und hohe Ämter in namhaften Organisationen verliehen wurden. Später sollte er unfreiwillig einen wichtigen Teil zur Gründung des ersten Musischen Gymnasiums beitragen.

Arthur von Weinberg zusammen mit seinem Bruder Carl beim Morgenritt auf dem Gestüt Waldfried (Public Domain)

Während der eine jüdische Erfolgsmann mit chemischen Farben werkelte, spielte der andere sich mit akustischen zum eigenen Ruhm: Als Busonischüler und angesehener Liszt-Interpret erklomm Leo Kestenberg, inzwischen in Berlin, die preußische Karriereleiter. Obwohl, oder vielleicht gerade weil er keinen musikpädagogischen Hintergrund hatte, konnte er dort seine eigenen Visionen von einer umfassenden Musikerziehung für alle Schüler:innen mit personellen und strukturellen Maßnahmen in die Wege leiten. Im Kultusministerium oblag ihm bald die gesamte Berufungspolitik für Berliner Theater und Orchester, er holte unter anderem Schönberg, Furtwängler, Klemperer oder auch den radikal-musischen Reformer Fritz Jöde in die Hauptstadt.

Die bildungspolitische Arbeit des überzeugten Sozialdemokraten Kestenberg (zu einer Zeit, in der die SPD noch für sozialistische Ideale einstand) fußte auf dem Ideal der demokratischen Volksbildung, wie er sie schon im Kleinen bei Gewerkschaften und Arbeitervereinen umsetzte. Motiviert durch Ideen von Gleichheit und allgemeiner Menschenwürde sollte in der Kunst, speziell der Musik, ein Mittel gefunden werden, »welches den Menschen in seinem ganzen Wesen so unmittelbar beeinflussen kann, dass er zu einer höheren Einheit seiner selbst gelangt« – kurz: Erziehung zur Menschlichkeit. Der Wunsch nach ganzheitlicher unmittelbarer Beeinflussung deutet schon an, wer die Früchte dieser Saat – mit gänzlich anderer Motivation – nach üppiger Modifikation später ernten sollte.

Bis zur sogenannten Kestenberg-Reform gab es an Schulen lediglich den Gesangsunterricht aus der Kaiserzeit, bei dem neben patriotischen Volksliedern tatsächlich auch die sängerische Lungengesundheit für zukünftige Soldaten eine Rolle spielte. Als Musikreferent im preußischen Kultusministerium und als Leiter der Musikabteilung des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht wandelte Kestenberg den Gesangs- in einen staatlich geregelten Musik-Unterricht. Dieser sollte die Schüler:innen in ihrer Entwicklung respektieren, ihnen Musik als komplexes Kulturgebiet näherbringen und theoretische Grundlagen vermitteln. Das Fach wurde so um eine kognitive Dimension erweitert, formal anderen Fächern gleichgestellt und verpflichtend für alle Schularten eingeführt. Daraus folgte die finanzielle und gesellschaftliche Gleichstellung der Schulmusiker und eine akademisch fundierte Ausbildung der Lehrer, wie sie – nicht ganz Kestenbergs Vorstellungen entsprechend – in fünfzehn neuen Pädagogischen Akademien in Preußen ab 1926 durchgeführt wurde.

Neben dem Musikunterricht an den allgemeinbildenden Schulen entwarf Kestenberg in seinem wegweisenden Buch Musikerziehung und Musikpflege 1921 das Konzept des Musikgymnasiums: »Wenn in der Volksmusikschule die Möglichkeit der Ausbildung zur musikalischen Berufswahl ohne Zwang geschaffen ist, so will das Musikgymnasium alle Kräfte vereinen, die durch Veranlagung und Begabung für den Musikunterricht bestimmt erscheinen […] Die Idee, die dem Musikgymnasium zugrunde liegt, ist die allgemeine wissenschaftliche und theoretisch-praktische Ausbildung mit besonderer Anleitung und Hinführung zum musikalischen Beruf.« Konkret bedeutet das: Vorauswahl durch Eignungsprüfungen, breite künstlerische Grundlagen statt Spezialisierung, Instrumentalunterricht, Theorie und Geschichte, Ensembles und rhythmische Gymnastik. Die anderen Schulfächer sind in abgespeckter Stundenzahl vertreten. Kestenbergs Musikgymnasium zielt hierbei weniger auf eine Elitenbildung als auf die Sicherung und Förderung des Kulturbetriebs und – auch ganz eigennützig – auf die fundierte Ausbildung zukünftiger Lehrkräfte.

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Diese Pläne wurden nie verwirklicht, im Gegenteil wurde Kestenbergs Reform durch massive Sparmaßnahmen der Regierung bald zunichte gemacht. Schon 1932 wurden deshalb fünf der Pädagogischen Akademien wieder geschlossen, immer wieder wurden Lehrerstellen gestrichen oder Schulen zusammengelegt. Die Reform war auf eine langfristige Entwicklung ausgelegt, doch nun war der größte Teil der Lehrer im Amt noch zur Kaiserzeit ausgebildet worden, die Absolvent:innen des neuen Systems stellten eine deutliche Minderheit dar. Kestenberg wurde kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag noch vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten aus politischen Gründen in den einstweiligen Ruhestand versetzt, emigrierte bald darauf nach Hetzkampagnen und Angriffen Richtung Prag und nach dem deutschen Einmarsch schließlich endgültig nach Tel Aviv, wo er 1961 starb.

Ab dem politischen Umbruch 1933 wurde auch die öffentliche Nennung der Verdienste Arthur von Weinbergs immer mehr zurückgenommen, bevor er sich ab 1935 mit dem Eintreten der Nürnberger Gesetze nach und nach aus allen beruflichen Funktionen zurückziehen musste und sein Name aus den Unterlagen des Unternehmens verschwand. Die Stadt kaufte ihm im selben Jahr noch seinen Grundstückkomplex mitsamt seiner Villa Haus Buchenrode für weniger als ein Fünftel des eigentlichen Wertes ab – das Geld stand ihm letztendlich aufgrund der Gesetzeslage sowieso nicht mehr zu. Zeitzeugen berichten, der NSDAP-Oberbürgermeister Friedrich Krebs und andere Parteifunktionäre hätten sich gewaltsam Einlass verschafft und den 75-jährigen, frisch verwitweten Weinberg mit dem Satz »Der Jud muss raus« in den Park verjagt. 1943 starb Arthur »Israel« von Weinberg im Konzentrationslager Theresienstadt. Friedrich Krebs wurde 1947 im Spruchkammerverfahren als »minderbelastet« eingestuft, er habe »sein Amt durchaus gerecht, korrekt, sauber und unbeeinflusst durch nationalsozialistische Tendenzen« ausgeübt.

Parallel dazu erlebte das Fach Musik inhaltlich eine Rückentwicklung zum Fokus auf gemeinschaftliches Singen und blieb gerade deshalb in seiner Stellung für die Nazis essenziell. Völkisches Liedgut, die neuromantische Ideologie der Wandervogel- und Jugendmusikbewegung und die Förderung des Gruppenzusammenhaltes wurden als wichtige Instrumente in der ideologischen Volkserziehung erkannt. Der musische Gedanke einer umfassenden Erziehung von Körper, Seele und Geist wurde zur NS-Maxime vom Schulunterricht bis zur Hitlerjugend.

Der Erlass über Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule zum Schuljahr 1938/39 legt fest: Als »Teil der nationalsozialistischen Erziehungsordnung« habe die Schule die Aufgabe »im Verein mit den anderen Erziehungsmächten des Volkes, […] den nationalsozialistischen Mensch zu formen«. Die NS-Ideologie wird zum Fundament des gesamten Unterrichts erklärt und verätzt so auch das Fach Musik von innen heraus. Das Singen soll nicht einer künstlerischen Weiterbildung dienen, sondern lediglich Freude und Gemeinschaftsgefühl hervorrufen. Den Mittelpunkt des Unterrichts bildet das deutsche Volkslied, alle anderen Unterrichtsinhalte wie Notenlesen, Gesangstechniken und Gehörbildung sollen nur dessen Ausübung unterstützen. Es wird sogar ausdrücklich betont, dass Formentwicklung und Musikgeschichte nicht in die Schule gehören.

War die ideologische Erziehung der breiten Bevölkerung die eine Säule des NS-Bildungssystems, waren die nationalsozialistischen Eliteschulen die andere. Schon in den Anfangsjahren entstanden viele Einrichtungen wie die Adolf-Hitler-Schulen zur politischen Schulung oder die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten zur körperlichen Ertüchtigung. Diesen sollte laut Führererlass das Musische Gymnasium »zur planmäßigen Förderung der musischen und künstlerischen Anlagen der Jugend« an die Seite gestellt werden. Initiiert wurde diese neue Schulart durch SS-Sturmbannführer und Geschäftsführer der Regensburger Domspatzen Martin Miederer ursprünglich für die Oberpfälzer Heimat des Knabenchores – mit großer Unterstützung Hitlers (hierzu lesenswert: Wie die NS-Geschichte der Domspatzen geklittert wird). Die Kirche hatte mit den Knabenchören bisher eine Monopolstellung in der musikalischen Elitenbildung, die sich das Regime nach und nach aneignen wollte. Schließlich wurde die Schule für Frankfurt am Main beschlossen, um dort unter städtischer Trägerschaft ausgewählte, musikalisch befähigte Jugendlichen des Reiches im Internat in ihren »künstlerisch schöpferischen (produktiven und reproduktiven) Kräften« zu »Führern und Trägern einer völkischen Musikkultur zu bilden«, so die Worte Miederers. Das Schulgebäude: Das enteignete Haus Buchenrode Arthur von Weinbergs. 

Gedenktafel für Arthur von Weinberg mit Abbildung von Haus Buchenrode Foto: Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main e.V.(CC BY-SA 3.0 DE), via Wikimedia Commons

Als Schulleiter wurde der Komponist und Chorleiter Kurt Thomas verpflichtet. Bis dahin wirkte er als Chorleitungsprofessor an der Akademischen Hochschule für Musik Berlin und tourte mit seiner Kurt-Thomas-Kantorei durch Deutschland. Als Miederer ihn 1938 einlud als seinen Wunschkandidaten für die Schulleitung im neuen Projekt, lehnte er den Karriererückschritt ab – bis ihn ein Artikel im Generalanzeiger vom 25. März 1939, also kurz vor Schulbeginn, groß als neuen Leiter verkündete. Politischem Druck ausgesetzt machte er sich mit zahlreichen Einwänden, Bedenken und deftigen Urlaubsforderungen auf den Weg zu den folgenden Verhandlungen mit Miederer. Thomas trat zwar erst nach seinem Amtsantritt in die NSDAP ein, war aber durch seine ideologische Nähe ein nachvollziehbarer Wunschkandidat für das Regime: Schon 1935 hatte er sich per Brief bei der Reichsmusikkammer über eine mögliche Verwechslungsgefahr mit einem Namensvetter im sogenannten Musikalischen Juden-ABC beschwert, obwohl er doch »Vollarier« sei, den darin fehlenden Kurt Weill bezeichnete er als »Vertreter jüdischer Unkultur« ; im Folgejahr war seine Olympische Kantate von Goebbels mit einer Silbermedaille ausgezeichnet worden.

Die Gründung der Schule war im totalitären Staat ohne bürokratische Hürden schnell vollzogen, 1939 sollte das erste Schuljahr beginnen. Erstmalig war also eine staatliche Einrichtung zur künstlerischen Exzellenzbildung entstanden, die zudem »Jungen aus allen Schichten […] ohne Rücksicht auf Stand und wirtschaftliche Lage ihrer Eltern« erziehen und ausbilden soll. Bei aller scheinbaren Offenheit – dass Kinder aus unteren Schichten wirklich den für eine Aufnahmeprüfung nötigen Instrumentalunterricht erhalten haben, ist fragwürdig – verschleiert diese selbstverständlich nur die geforderte ideologische Linientreue und vom NS-Regime sogenannte »Erbgesundheit« der Familien. Das vom geschmähten Sozialisten und Juden Kestenberg 1921 ausgearbeitete Curriculum wurde in weiten Teilen übernommen – von der Anzahl der Musikstunden pro Woche bis zur Ersparnis einer Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule nach erfolgreichem Abschluss. Unter dem Namen Musisches Gymnasium entstand also in Wahrheit ein Musikgymnasium im Sinne Kestenbergs – die Namensänderung kann man dabei so verstehen, dass alle Andeutungen an den verschmähten Reformer unterschlagen werden sollten. 

Von Parteiseite aus existierte kein offizieller Lehrplan für den neuen Schultyp, es wird nur davon gesprochen, die Inhalte des Oberschulunterrichts zu vertiefen und zu erweitern. Das heißt: Das völkische Fundament der Oberschule untermauert auch hier den gesamten Stoff. Nachweislich hatte Kurt Thomas, der dementsprechend viel gestalterische Freiheit bei der Planung der Schule hatte, früher bereits persönlichen Kontakt zu Kestenberg und teilte sogar dessen Ansichten. Der schulische Instrumentalunterricht beinhaltete wie in Kestenbergs Entwurf neben dem Pflichtfach Klavier noch ein frei gewähltes Instrument, Ensembles wie Chor und Orchester brachten anspruchsvolle Werke wie Bachs h-moll-Messe und die Matthäus-Passion, Brahms Deutsches Requiem oder Eigenkompositionen des Schulleiters auf die Bühne — in HJ-Uniform. Nachdem Thomas Klaviere gekauft und eine üppige Musikbibliothek eingerichtet hatte, verzögerte sich der tatsächliche Schulbeginn, da Deutschland am 1. September bekanntermaßen einen Angriffskrieg begann und das Gebäude kurzfristig zum Lazarett umfunktioniert wurde. Der laufende Krieg wirkte sich immer mehr auf den Schulalltag der 300 Schüler aus: Zum neuen Schuljahr mussten neue Instrumentallehrer angestellt werden, da mehrere zum Kriegsdienst eingezogen worden waren, improvisierte Behelfslösungen und Probenunterbrechungen durch plötzliche Fliegeralarme gehörten zur Tagesordnung, besonders tragisch ist der Tod eines Schülers, Dieter Möbius, durch einen Bombenangriff. Im Jahr 1941 errichtete man in Leipzig ein zweites Musisches Gymnasium, das an die Thomasschule mit dem Thomanerchor angegliedert wurde. Von Frankfurt aus kam es noch bis 1943 zu »Kraft durch Freude«-Konzerttourneen durch Deutschland und die Schweiz, wobei während einer solchen das Haus Buchenrode bombardiert und zerstört wurde.

Trotz vieler Bemühungen durch Kurt Thomas konnte erst nach einem zweiten verheerenden Angriff ein Standortwechsel in das Klostergebäude in Untermarchtal bei Ulm erwirkt werden, einer ruhigen Umgebung abgeschieden von den Kriegswirren. Kurz vor der bedingungslosen Kapitulation des Reiches verweigerte der Schulleiter den Befehl, die Einrichtung mit seinen Schülern zu verteidigen. Er zog sich stattdessen mit diesen in nahegelegene Sümpfe zurück und ersparte seinen Schülern (und sich) das Schicksal der aussichtlosen Kämpfe. Mit dem Einrücken der Franzosen am 17. Mai wurde die Schule geschlossen, schnell die politische Harmlosigkeit der Einrichtung bescheinigt, und die Lehrer und Schüler nach kurzer Haft zu Anhörungszwecken in die Freiheit entlassen.

Kurt Thomas‘ Verhältnis zum Nationalsozialismus ist jedoch mindestens kontrovers. Neithard Bethke, Autor des umfangreichsten Werkes Kurt Thomas: Studien zu Leben und Werk verweist darauf, dass dieser sein Amt als Schulleiter nur unter politischem Druck annahm, auch hat er entgegen politischer Widerstände den Religionsunterricht für seine Schüler weiter erhalten. Thomas hatte allerdings schon vorher ein hohes Amt inne, und auch Erfolge im Kulturbetrieb sprechen nicht gerade für eine widerständige Haltung. Auch die Befehlsverweigerung erfolgte zu einem Zeitpunkt, zu dem sie keinen sonderlich nennenswerten Widerstand darstellte. Bethke erscheint häufig arg wohlwollend in seiner Bewertung der politischen Positionierung Thomas’. Den angeblichen Parteibeitritt »ohne eigenes Zutun« entlarvt Fred Prieberg in seinem Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945 schonungslos unter dem Titel Geschichtsfälschung. Auch sollte Bethkes Verweis auf »glaubhaft belegte Angaben« in Thomas‘ Entnazifizierungsakte kritisch bewertet werden: »Die Geschichtsforschung stimmt seit Jahrzehnten darin überein, dass die ›Entnazifizierung‹ eine auf Täuschung der Alliierten angelegte, verabredete Farce war, um Freisprüche oder milde Entscheidungen zu erzielen. Das Lügengewebe von Freunden und Kollegen sollte historische Faktizität beheben. Dem Personal der Spruchkammern fehlte Intelligenz und Kenntnis des Musikbetriebs, dies zu durchschauen.« Über die Bewertung von Kurt Thomas wurde besonders 2004 nochmals gestritten, als die Anti-Nazi-Koordination-Frankfurt erfolgreich eine Gedenktafel verhinderte. Der Historiker Werner Heldmann, Autor der über tausend Seiten schweren Monographie Musisches Gymnasium Frankfurt am Main 1939–1945. Eine Schule im Spannungsfeld von pädagogischer Verantwortung, künstlerischer Freiheit und politischer Doktrin, setzte sich mit der Kritik detailliert auseinander und verteidigte den Schulleiter anschließend in einem Aufsatz weitestgehend. Der WDR-Dokumentarfilm Musensöhne griff die Geschichte der Schule 2012 unter Beteiligung ehemaliger Schüler nochmals für ein breiteres Publikum auf.

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Zu den Schülern des Musischen Gymnasium Frankfurt am Main gehörte eine ganze Reihe später erfolgreicher Künstler, unter anderem der Chorleiter Clytus Gottwald, Pumuckl-Sprecher Hans Clarin und Es gibt kein Bier auf Hawaii-Erfinder Paul Kuhn. Kurt Thomas selbst war bereits 1947 wieder Professor an der heutigen HfM Detmold, Kantor der Dreikönigskirche Frankfurt und später Professor in Lübeck.

Heutzutage gibt es allein in Bayern 56 sogenannte Musische Gymnasien, sowie weitere in Rheinland-Pfalz, Bremen und Baden-Württemberg. Hier sind aber nur in den seltensten Fällen die Schulen exklusiv musisch, dies ist nur ein angebotener Zweig von mehreren. Die meisten anderen Bundesländer setzen auf das Konzept des Musikgymnasiums. Die unterschiedlichen Ansätze – im Gegensatz zum Nationalsozialismus ist Bildung heute ja Ländersache – beruhen alle auf einer stärkeren Bedeutung des Faches Musik, ob als Vorrückungsfach oder sogar mit verpflichtenden Schulaufgaben, schulisch eingebundenem Instrumentalunterricht und dem Ziel der Vorbereitung auf ein Studium. Die Wurzeln der Musischen Gymnasien in der Zeit des Nationalsozialismus sind ein selten thematisiertes Kapitel in der weitverbreiteten Schulform, was gewissermaßen symptomatisch ist für die Geschichtsvergessenheit der Musikpädagogen in der neomusischen Erziehung der Nachkriegszeit.

Einige Musische Gymnasien setzen auch heute noch auf eine Vorauswahl anhand der musikalischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, was angesichts der ohnehin schon eklatanten Verstärkung sozialer Ungleichheit im deutschen Schulsystem mindestens kritisch gesehen werden sollte. Neben den Musischen Gymnasien existieren auch einige wenige Mittel-, Real- und Gesamtschulen mit Musikschwerpunkt, doch die überwiegende Mehrzahl der Angebote beschränkt sich auf das privilegierte Klientel der Gymnasien. So hilfreich eine Minderung der vergleichsweise drastischen Heterogenität im Musikunterricht für Lehrkräfte und Schüler:innen ist, so gefährlich ist es, in die (Hoch-)Begabtenförderung abzudriften. Ein hochkarätiges Schulorchester, das gigantische sinfonische Werke auf die Bühne bringen kann, hat leider mehr politische Strahlkraft als Breitenförderung, Angebote allgemeiner musikalische Bildung, und – wir sollten so langsam im 21. Jahrhundert angekommen sein – wirklich inklusive Musikpädagogik. Gleichzeitig ist das Angebot eines musikalischen Schwerpunkts in der Schule bei entsprechender Öffnung – Luxemburg machte ja gerade international Presse mit der Meldung, Musikschulunterricht künftig kostenlos anzubieten – ein fruchtbares Werkzeug der öffentlichen Hand für eine musikalische Chancengleichheit für alle interessierten Kinder. ¶