Übermorgen wäre Liana Alexandra 75 Jahre alt geworden. Geboren wurde sie am 27. Mai 1947 in Bukarest. Ein Jahr zuvor (am 1. Juni 1946) hatte man den ehemaligen Ministerpräsidenten Ion Antonescu, den Anführer der faschistischen Bewegung in Rumänien, hingerichtet. Bald übernahm die Kommunistische Partei die Regierungsverantwortung. Die Zeit der Monarchie endete mit dem 30. Dezember des Jahres 1947. Liana Alexandras Geburt fällt also in eine Phase des politischen Neuaufbruchs ihres Heimatlandes.

Wie so viele spätere Komponistinnen machte Alexandra zunächst eine Karriere als Pianistin. Das Spiel am Klavier, die Übersicht über Linien, Stimmen, Harmonien, die Steuerung der motivisch-thematischen Verläufe aus einer Hand (beziehungsweise: zwei Händen) war schon immer gut geeignet dafür, später (oder auch recht früh!) selbst kompositorisch tätig zu werden. Das frühe Erlernen von einstimmigen Instrumenten ist freilich kein Ausschlusskriterium; doch die Gesamtheit des »Phänomens Klavierspiel« fördert wohl eher das Bestreben, schon als Kind eigene Stücke zu Papier zu bringen, die eben meist nicht »nur einstimmig« sind, sondern sich klanglich leicht attraktiv entfalten.

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So wird es jedenfalls auch bei Liana Alexandra gewesen sein. Schließlich studierte sie Klavier und Komposition – und zwar am Ciprian-Porumbescu-Konservatorium in Bukarest, benannt nach dem Sohn eines orthodoxen Priesters: Komponist von wohl eher sanften Salonstückchen, dafür Melodien-Schöpfer gleich zweier Nationalhymnen: der früheren rumänischen und der bis heute albanischen. Neben Formenlehre und Musikethnologie belegte Alexandra Komposition bei Tiberiu Olah (1928–2002), einem Komponisten, dessen Symphonie No. 1 (1955) bei gemäßigt modernen Grundvoraussetzungen deutlich filmmusikalische Züge aufweist – kein Wunder, denn Olah wurde vor allem als Filmmusikkomponist bekannt: Unter anderem steuerte er zu der deutsch-französisch-rumänischen Jack-London-Verfilmung Der Seewolf (1971), die noch in den 1980er und 1990er Jahren gerne von deutschen Fernsehanstalten ausgestrahlt wurde, die Musik bei.

Von 1972 an unterrichtete Liana Alexandra selbst: An der Musikuniversität Bukarest gab sie zunächst ihr Wissen im Fach Instrumentenkunde weiter und ab 1980 in Komposition, Orchestration und Analyse. Mit ihrem Ehemann, dem Cellisten, Pädagogen und Komponisten Șerban Nichifor (*1954) trat Liana Alexandra als Pianistin unter dem Namen »Duo Intermedia« auf, man spielte gemeinsam Neue Musik sowie Kammermusik des 19. Jahrhunderts. Über die Projekte des Duos lässt sich Einiges online nachlesen. Außerdem gründete Liana Alexandra ein Neue-Musik-Festival, über dessen Verbleib aber kaum etwas recherchierbar ist. Alexandras Beschäftigung mit Neuer Musik führte zu mehreren Besuchen der Darmstädter Ferienkurse. 1983 erhielt sie (laut Auskunft des Furore-Verlags) ein Stipendium der »United States Information Agency« (USIA) und konnte auf diesem Wege ihre Promotion im Fach Musikwissenschaft ablegen. Für ihre Kompositionen wurde Alexandra vielfach ausgezeichnet.

Liana Alexandra verstarb bereits im Alter von 63 Jahren am 10. Januar 2011 nach einer Hirnblutung in ihrer Geburtsstadt Bukarest.


Liana Alexandra (1947–2011)
Symphonie No. 9 (Jerusalem) (1990)

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Wie ein paar andere Komponierende – so will es die Legendenbildung – starb auch Liana Alexandra vor der Vollendung ihrer zehnten Symphonie. Hiermit reiht sie sich gewissermaßen in die Phalanx der (bekannten) Neun-Symphonien-Komponisten Beethoven, Schubert, Bruckner, Dvořák, Mahler und Vaughan Williams (welcher in dieser Reihung häufig vergessen wird) ein. Neben den neun Symphonien legte Alexandra weitere Orchesterwerke vor (darunter solche mit Chor oder Soloinstrument). Auch elektronische Musik, Solostücke sowie mindestens zwei musiktheatralische Schöpfungen finden sich in ihrem Werkkatalog.

Ihre letzte Symphonie überschrieb Liana Alexandra mit: Jerusalem. Sie entstand 1990. So ganz klar ist nicht, ob die Komponistin wollte, dass wir dieses Werk als ihre »Neunte« verstehen. Denn dann und wann wird das Stück auch »symphonische Dichtung« genannt. Und schaut man sich die kostenlos verfügbare Partitur an und vergleicht diese mit dem Klangergebnis des Bucharest Symphony Orchestra unter der Leitung von Florin Totan, so ist man vielleicht erst einmal überrascht, denn die Umsetzung der Partitur erfolgt hier in den Begleitstimmen äußerst dezent. Die Quart- und Quint-Triolen der tiefen Streicher erscheinen in dieser Realisation nur wie ein (allerdings faszinierendes) Raunen. Über diesem Raunen erheben sich weitere – in diesem Fall flirrende – Begleitungen der höheren Streicher im Verbund mit Pauke und Großer Trommel. Wie sich wiederum darüber motivische Möglichkeitsfelder in den Holzbläsern auffächern, ist von Beginn an von großem Zauber. 

Herrlich undogmatisch ist diese Partitur (bei aller Genauigkeit)! Liana Alexandra »malt« mehr als dass sie komponiert. Bald begegnen uns konkretere Melodien in der Oboe, an möglicherweise hebräische Klagelieder gemahnend. Das Ganze nimmt hymnische Züge an. Eine unheimlich berührende und dabei nicht »unmoderne« Musik. Eine absolute Entdeckung! Ein Werk, das ich schon morgen im Konzertsaal hören will! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.