Die Musik der 1985 geborenen schwedischen Komponistin Lisa Streich ist klanglich und dramaturgisch subtil und fesselt gerade darum umso mehr. Häufig arbeitet sie mit traditionellen Instrumenten, die durch kleine selbstgebaute motorisierte Geräte präpariert oder modifiziert werden. Wenn ich ihre Stücke höre, habe ich manchmal das Gefühl, auf Molekülgröße geschrumpft zu sein und im Innern einer Spieluhr zu sitzen, in der sich die Geräusche der Mechanik mit zerbrechlichen und dennoch klaren Tönen zu einem beunruhigenden und berührenden Ganzen verbinden. 2017 gewann Streich den renommierten Ernst von Siemens Musikpreis und zwei Jahre später den RicordiLab-Preis für junge Komponist:innen, der ihr trotz ihres anfänglichen Widerwillens, den »dünnen, schönen« Look ihrer Partituren zu verändern, mehr Zeit für konzentriertes Arbeiten gab. Sie lebt mit ihren drei Kindern auf der schwedischen Insel Gotland, wo ich sie nachmittags per Videochat erreiche. 

VAN: Wir saßen 2008 zusammen im Gehörbildungsunterricht am Mozarteum in Salzburg. Wie hast du danach gelernt, mikrotonal zu hören? In deinen Stücken arbeitest du ja mit sehr kleinen Intervallen, zum Beispiel Achteltönen.  

Lisa Streich: Ich glaube, das passiert einfach, wenn man viel mit ihnen arbeitet. Ich habe nie superexakt gehört, aber wenn ich das jetzt jeden Tag mache, fühlt es sich sehr natürlich an. 

Ein Aspekt, der mir an deiner Musik besonders gefällt, ist die Mischung aus Tönen und geräuschhaften Klängen. Sowas lernt man nicht aus irgendwelchen Instrumentations-Standardwerken … 

In meiner Musik gibt es eigentlich gar nicht so viele Geräusche. Es ist eher so, dass ich mit spektralen Akkorden arbeite und die am Ende dann geräuschhaft klingen. Um diese Akkorde zu schaffen, suche ich auf Youtube Aufnahmen von Amateurchören, also welchen, die nicht perfekt sind. Ich suche nach der besonderen Klangfarbe, Fehlern im Akkord. Dann mach ich von diesen Akkorden eine spektrale Analyse und bekomme so die Spektogramme, in denen ich dann sehen kann, welche Töne am lautesten sind. Die mache ich in meinen Werken dann noch lauter. Ich ziehe das heraus, was ich am interessantesten finde.

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Gibt es bei dir einen philosophischen Überbau für die Arbeit mit falschen Tönen oder Material von Amateur:innen? Oder magst du einfach den Klang, der dabei entsteht? 

Ich glaube, das ist ein generelles Interesse an der Schönheit des Unperfekten – Dinge geschehen lassen, die nicht perfekt sind, und sie dann noch verstärken in ihrer Schönheit. Das tonale System interessiert mich sehr, aber es funktioniert nicht mehr, denke ich. Zumindest nicht mehr für mich – wenn ich neue Musik höre, die tonal ist, möchte ich am liebsten im Erdboden versinken. Irgendwie schäme ich mich dann. Aber die Akkorde liebe ich trotzdem. Darum muss ich sie neu komponieren, um ihre Schönheit in einem anderen Licht zu zeigen.

Warum, denkst du, schämst du dich für diese Akkorde? Es gibt ja viele, die sie heute noch nutzen, ohne sie neu zu komponieren.

Ich weiß nicht. Ich höre einfach nur Vergangenheit. Besonders in Schweden gibt es viele Komponist:innen, die romantische Musik schreiben, und das fühlt sich einfach unpassend an: ›Hast du nicht studiert? So haben Leute um 1900 komponiert.‹ Man muss dem eine neue Perspektive hinzufügen, das ist zumindest mein Gefühl. Wenn ein neues romantisches Stück gut gemacht ist, kann es trotzdem interessant sein, aber es dringt nicht wirklich zu mir durch. 

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In einem Interview hast du mal gesagt, dass du erst ganz am Ende des Kompositionsprozesses den Stücken ihre finale Form gibst. Wie funktioniert das?

Weil ich mich nicht so für Transformation oder Evolution interessiere, ist das für mich keine große Sache. Stattdessen interessieren mich die Kontraste. Ich sammle mehr oder weniger ganz viele, die nicht zusammenpassen, und wenn ich sie alle gesammelt habe, dann kenne ich sie auch gut. Und dann versuche ich, die größten Kontraste zu finden und sie ineinander knallen zu lassen. Oder ich packe sogar mehrere von ihnen übereinander und schaue, was passiert. Das ist immer ein Experiment: Wie wird dieser Kontrast funktionieren? Was kommt dabei heraus, wenn ich drei Lagen Kontraste übereinander baue? Sind es dann immer noch drei Kontraste oder wird es etwas Neues? In gewisser Weise versuche ich nicht, das perfekte Stück zu schreiben. Ich bin nur sehr gespannt, Sachen zusammen zu hören, die mir so noch nicht über den Weg gelaufen sind. 

Also komponierst du verschiedene Texturen oder Blöcke und dann änderst du immer wieder ihre Reihenfolge? 

Ja. Aber es kann schon sein – beziehungsweise ist es schon so –, dass sie sich auch ein bisschen verändern. Um mal ein ganz konkretes Beispiel zu machen: Sagen wir, du hast einen süßen Walzer. Der kann sich ja auch entwickeln von etwas ganz Fragilem, fast Unhörbarem, zu etwas Greifbarem. Aber es entwickelt sich nicht alles auf einmal. Vielleicht hörst du den Walzer am Anfang in einer Form und am Ende in einer anderen. Das hängt auch mit der Erinnerung zusammen. Manchmal erinnert man sich an Dinge, die so gar nicht passiert sind. Man hat sie viel schöner oder schlimmer im Gedächtnis, als sie eigentlich waren. 

Wenn du so arbeitest, wie weißt du dann, wann ein Stück fertig oder dass eine bestimmte Form die richtige ist? 

Das ist nur so ein Gefühl. Ich weiß es genau, wenn ein Stück fertig ist. Solange das nicht passiert, baue ich es wieder und wieder um und ändere die Reihenfolge. 

Und was fühlst du außerdem, wenn ein Stück fertig ist? Bist du dann traurig? Oder zufrieden? 

Ich bin immer sehr glücklich, wenn ein Stück fertig wird. Ich hab dann eigentlich schon immer die Nase voll davon [lacht]. 

In einem Interview meintest du, dass du gar nicht wusstest, dass es Komponistinnen gibt, bevor du zum Studium nach Berlin kamst. Hattest du davor schon angefangen zu komponieren? 

Als ich jung war, habe ich Klaviermusik geliebt. Ich hab den ganzen Tag Klavier gespielt. Und sehr viele CDs gehört. Aber die Musik war immer von Männern komponiert. Manchmal gab es Interpretinnen, deswegen lag es für mich nahe, dass ich erstmal professionelle Pianistin werden muss. Und danach, dachte ich, könnte ich dann komponieren. Das war meine Vorstellung, deswegen habe ich in erster Linie geübt. Ich habe ein bisschen komponiert, aber ich dachte, das sei eigentlich Zeitverschwendung. Als ich dann nach Berlin gekommen bin und Musik von Komponistinnen gehört habe, hat mich das echt umgehauen. Ich dachte: Warum bin ich nie darauf gekommen, dass das auch möglich ist? 

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In deinen Stücken kommen oft selbstgebaute elektrische Geräte in Kombination mit Standardinstrumenten zum Einsatz. Wann und warum hast du angefangen, mit diesen Erweiterungen zu experimentieren? 

Angefangen habe ich damit 2010 oder 2011. Und das wiederum hatte zu tun mit dem Stravinsky-Brunnen von Jean Tinguely in Paris. Eines morgens hatte es plötzlich gefroren. Eigentlich wird der im Winter abgestellt, aber da war das noch nicht passiert. Die Maschinen haben also gearbeitet und gesungen. Ich war ganz alleine da am Brunnen. Es war ganz einfach, aber so wunderschön. Irgendwie universell, der Klang wirkte, als ob er allen gehört. Und ich möchte Musik machen, die für alle zugänglich ist. 

Außerdem denken viele, Maschinen seien brutal und abstoßend und mir gefällt dieses Spiel mit Erwartungen. Deine Erwartungen werden nicht erfüllt und du bist verwirrt oder überrascht. Vielleicht sind Menschen viel brutaler als Maschinen. Ein Perspektivwechsel.  

Kannst du ein Beispiel geben für eine bestimmte Stelle in einem deiner Stücke, die du extra so gestaltet hast, um das Werk zugänglicher zu machen? 

Ich hab schon ziemlich früh gelernt, dass das Publikum in Schweden ein anderes ist als in Deutschland und das wiederum ist anders als in Frankreich. Das schwedische Publikum hat eine bestimmte Bildung genossen, und ich habe ein Gefühl dafür, was sie kennen und wozu sie eine Verbindung aufbauen können und wie weit ich darüber hinausgehen kann. Es geht nicht darum, ihnen zu gefallen, sondern einfach darum, mit ihnen zu kommunizieren und in diesem Kontext meine Ideen zu vermitteln.

Was zum Beispiel würdest du in einem Stück für ein schwedisches Publikum machen, was in Deutschland nicht funktionieren würde? 

In Schweden bin ich viel rebellischer, weil mich die Gesellschaft hier so aufregt. Ich gehe eigentlich fast immer stärker in Richtung Avantgarde, nur um sie ein bisschen zu nerven [lacht]. In Deutschland ist es andersrum, da versuche ich, zu nerven, indem ich Dinge zu hübsch mache.

Du kennst also die verschiedenen Erwartungen, aber anstatt ihnen zu entsprechen, wendest du dich gegen sie.

Ja, aber ich hoffe auf eine sensible Art. Ich will nicht, dass es brutal wirkt, dass ich mein Publikum 15 Minuten lang terrorisiere. 

Hast du im Laufe deiner Karriere auch Erfahrungen mit Seximus gemacht? Komponistinnen wie Olga Neuwirth zum Beispiel berichten ja davon.

Ich muss sagen: Ich habe ziemlich Glück gehabt. Es gab natürlich unschöne Situationen und als ich jünger war, wusste ich nicht, ob das jetzt daran liegt, dass ich jung bin, oder daran, dass ich eine Frau bin. Aber ich habe nie was Schreckliches erlebt. 

Aber letztens zum Beispiel war ich beim 250. Geburtstag der Königlichen Schwedischen Musikakademie. Sie haben neue Mitglieder aufgenommen – alles weiße Männer 60 plus. Das war so dreist. Das ist typisch schwedische Ignoranz, nur noch mehr weiße Männer aufzunehmen, die noch dazu überhaupt nichts geleistet haben. Wenn sie irgendwas Wichtiges erreicht hätten, dann natürlich. Aber so – warum? Es gibt doch großartige Frauen in Schweden. Und dann weiß ich natürlich, dass wir noch nicht soweit sind.

Wann haben Musiker:innen angefangen, wirklich Energie in deine Werke zu stecken? 

Ich habe das Gefühl, dass die Musiker:innen schon immer sehr ernsthaft bei der Sache waren. Natürlich denken Leute, dass du wichtiger bist, wenn du einen Preis gewinnst oder sowas. Aber das ist so dumm!

Ich weiß nicht wirklich, wo ich die Grenze ziehen soll. Aber ich habe immer noch das Gefühl, Orchester erstmal überzeugen zu müssen. Es ist nicht so, dass ich auftauche und alle sagen: ›Wir machen, was du willst.‹ Ich muss immer noch alles geben, 100 Prozent, um sie zu überzeugen. Das ist psychologisch gesehen eine schöne Herausforderung. Manchmal kriege ich sie, manchmal nicht. 

Hast du bestimmte Techniken, um die Musiker:innen zu ›kriegen‹? Viele sagen ja gerne Sachen wie: ›Du spielst hier aber einen Viertelton zu hoch‹ oder so. 

[Lacht.] Nein, solche Tricks habe ich nicht. Ich versuche einfach, Musik zu machen und so präsent wie möglich zu sein, um den Musiker:innen zu helfen. Ich versuche, viel mit Blickkontakt zu arbeiten, auch mit einzelnen Musiker:innen im Orchester. Um Zeit zu sparen, gebe ich manchmal Signale. Dabei ist es gut, positiv zu bleiben, weil es für Orchestermusiker:innen das Schlimmste ist, mit dem Finger auf eine Person zu zeigen und zu sagen: ›Hey, du spielst einen Viertelton zu tief.‹ Das kannst du nicht machen. 

Gibt es ein Stück – oder mehrere – bei denen du sagen würdest, dass du in ihnen zum ersten Mal wirklich deine Stimme gefunden hast? 

Segel war sehr wichtig für mich. Das war das erste Mal, dass ich erfolgreich mit den spektralen Akkorden gearbeitet habe. Das war für meine Musik wirklich ein Durchbruch und ich entwickle diese Technik und die Arbeit mit ihr immer noch weiter. Ich finde, das lohnt sich wirklich. Segel hat diese Akkorde, aber auch choreographisches Dirigieren – damit habe ich in letzter Zeit nicht so viel gearbeitet. Ich würde das gerne wieder machen, aber dafür muss man eigentlich irgendwo composer in residence sein, um damit wirklich experimentieren zu können. Das kriegt man nicht hin, wenn man mit einem Orchester nur sechs Stunden Probenzeit hat. 

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Du warst ja schon oft composer in residence an vielen verschiedenen Orten in Europa. Ist es nicht auch manchmal anstrengend, in so kurzer Zeit so oft den Ort zu wechseln, weil man dann kein richtiges Zuhause hat? 

Ja. Es gab Zeiten, da hatte ich echt genug. Vor allem, weil es körperlich sehr anstrengend war, so viel zu reisen und alles immer organisieren zu müssen. Andererseits war es auch sehr produktiv. Ich habe das Gefühl, dass ich viele Zuhauses habe. Ich muss immer wieder zurück nach Paris oder Rom. Rom ist mein fünftes Zuhause, oder so [lacht]. 

Ein Porträt über dich weist auf die biblischen Bezüge in manchen deiner Stücktital hin. Bist du religiös? 

Ich bin religiös und in einem bestimmten Lebensabschnitt war das sehr wichtig für mich. Jetzt ist es so, als ob Musik meine Religion wäre. Es ist wichtig, im Leben etwas zu haben, das nicht gegenständlich ist – und so ist Musik nun mal. Ich habe das Gefühl, bei Musik geht es immer um Leben. Was bedeutet Leben? Wie kann ich dieses merkwürdige Ding besser kennenlernen? Religion spielt dabei auch eine große Rolle. Sie umspannt all die Möglichkeiten, die wir nicht sehen, obwohl sie da sind. 

Als ich deine Musik gehört habe, ist mir aufgefallen, dass viele deiner Stücke Passagen mit sehr regelmäßigen, fast mechanischen Rhythmen haben. Gibt es einen Grund, warum Dich diese Art von Effekt fasziniert? 

Ja. Ich interessiere mich sehr für den körperlichen Aspekt der Musik, wie auf Technopartys, wenn du die Musik im Körper spürst. Ich würde diese Erfahrung gerne mit dem Klassikpublikum teilen. Den Sound aufdrehen, tanzen, körperlich spüren – das ist so interessant.  

Es gibt in Augenlider einen Part, der wirklich laut und hoch ist. Es ist, als ob sich alles um dich rum dreht. Für mich ist das die pure Entspannung – ein Raum, der von der Musik geschaffen wird und in dem du die anderen Leute um dich rum irgendwie nicht mehr wahrnimmst. Wenn du im klassischen Konzert sitzt, hast du immer diese Leute um die herum, du weißt immer, dass sie da sind. Wenn die Musik so laut wird, ist es plötzlich, als wären sie alle weg. Als wärst du allein mit der Musik, obwohl die Leute natürlich eigentlich noch da sind. Das will ich mit meinen Stücken erzeugen. 

Ich glaube, ich habe noch nie ein schnelles Stück von Dir gehört. 

Ich habe auch nur eins geschrieben. Es heißt Jubilhemd und hat viele schnelle Tempi. Aber so ganz stimmt das auch nicht. Ich habe immer schnelle Passagen in meinen Stücken. Die Leute haben immer im Kopf, dass ich die leise Komponistin bin [lacht]. Aber das stimmt nicht. Es gibt auch immer laute Abschnitte. Aber irgendwie bleiben immer die Wörter leise und langsam hängen. 

Ich verstehe schon, warum Leute deine Musik als leise und langsam wahrnehmen – vielleicht gibt es mehr solcher Passagen als die lauten und schnellen? 

Aber die lauten und schnellen sind so extrem. Einmal habe ich eine Hassmail von irgendwem bekommen, weil ein Stück so laut war. Er hat sich beschwert, dass es schrecklich gewesen sei und wie sehr seine Ohren wehgetan hätten und dass er nie wieder zu einem Konzert gehen würde, bei dem mein Name auf dem Programm steht. Die Mail war sehr lang und sehr wenig nett [lacht].Jubilhemd wurde von vier schwedischen Orchestern in Auftrag gegeben. Einer der Dirigenten hat mich gefragt: ›Können Sie nicht mal was Leichtes schreiben?‹ Das konnte ich natürlich nicht so stehenlassen. ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.