Keren Kagarlitsky, geboren 1991 in Israel, studierte Komposition an der Jerusalem Academy of Music and Dance sowie Dirigieren an der Universität der Künste Berlin. Als Dirigentin und Assistentin ihres langjährigen Mentors Omer Meir Wellber stand sie schon am Pult von Orchestern wie dem BBC Philharmonic, der Raanana Symphonette und den Orchestern der Opernhäuser von Palermo und Catania. In der Saison 2022/23 kam sie mit Musikdirektor Wellber an die Volksoper Wien, wo sie seither Hausdirigentin ist. Dort hat am 14. Dezember 2023 das Stück Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938 Premiere. Die Szenerie: Man probt 1938 die Operette Gruß und Kuss aus der Wachau von Jara Beneš, die Kagarlitsky aus einem überlieferten Klavierauszug rekonstruiert hat. Jüdische Künstlerinnen und Künstler geraten unter Beschuss durch die Nationalsozialisten. Die Proben werden zur Farce.

Für das Stück, mit dem sich die Volksoper Wien ihrer eigenen Vergangenheit stellt, hat Kagarlitsky auch selbst Musik komponiert. Ich treffe sie in dem wuseligen Café Weimar, nahe der Volksoper im 9. Wiener Bezirk. Wir müssen fünf Minuten auf einen Platz warten. Keren Kagarlitsky wirkt etwas mitgenommen von den Proben, ist aber gleichzeitig zugewandt, sehr freundlich und warmherzig.

VAN: Ich habe nicht herausgefunden, bei wem du in Jerusalem Komposition studiert hast …

Keren Kagarlitsky: Bei Menachem Wiesenberg!

Kommt Wiesenberg aus der neuen jüdischen Kompositionsschule eines Paul Ben-Haim?

Ja, genau.

Siehst du selbst Ben-Haim auch als eine Art ›Gründervater‹ an?

In Israel? Ja, er war der Pionier. Natürlich ist er auch jetzt noch relevant und wichtig. Die neue israelische Musiksprache hat sich durch ihn geändert, ist moderner, avantgardistischer geworden.

Spielte ›die neue israelische Musiksprache‹ in deinem Studium eine Rolle? 

Ja, klar. Aber wir versuchen in Israel, nicht in unserer kleinen Box zu bleiben. Das geht so nicht. Wir sprechen über die ›Eastern Mediterranean Language‹. Natürlich beeinflusst viele Leute in der Musikwelt Israels die ›jüdische Essenz‹ in der Musik – und wenn man, wie wir, praktisch aus der Wüste kommt, dann hat man andere Melodien und Harmonien im Kopf. Es gibt nicht nur die mitteleuropäisch orientierte E-Musik aus Israel, es gibt auch die vielen Lieder, die hebräischen Songs. Das ist ein wichtiger Teil unserer Kultur, ein wichtiger Teil unseres Lebens.

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Irritiert es dich, dass deinem Jüdisch-Sein nach den Terrorangriffen vom 7. Oktober 2023 öffentlichkeitsseitig nun plötzlich ungleich mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird? Auch im Hinblick auf das 1938er-Stück?

Immer, wenn mich Menschen nach meiner jüdischen Identität fragen, sage ich: ›I am Jewish!‹ Ich komme aus einer jüdischen Familie, absolut. Aber ich gehe nicht durch die Welt und rufe: ›I am Jewish!‹ Das ist nicht das Erste, was ich persönlich über mich ansprechen würde. Ich bin jüdisch, ja. Aber ich fühle gleichzeitig so viele andere Dinge in mir. Trotzdem feiere ich jüdische Feiertage und so weiter. Aber ich würde nie auf diese Weise eine Konversation beginnen.

In einer idealen Welt würde ich gerne rein über das Stück sprechen, ohne meine Herkunft zu erwähnen. Ich glaube vollen Herzens daran, dass diese Produktion wichtig und relevant ist, völlig unabhängig davon, dass ich Israelin bin. Aber die Welt hatte andere Pläne. Und die Zeit ist so, wie sie ist. Dadurch ist das Thema der Operette plötzlich relevanter. Hätte mich jemand vor dem 7. Oktober nach meiner Herkunft in Bezug auf das Stück gefragt: Ich hätte das als unnatürlich empfunden. ›Eine jüdische Dirigentin!‹ Nein, so läuft das nicht. Die Welt funktioniert mit diesen Schubladen nicht. Wir haben darüber hinaus viel zu sagen.

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Was sagt das Stück Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938?

Dieses Stück beginnt mit einer Situation der Medien, der Propaganda, die zu dieser Zeit damals schon ›gegriffen‹ hatte. Für mindestens fünf Jahre jedenfalls. Fünf Jahre voller ignoranter Propaganda, deren Wirkungsmacht 1938 geradezu explodierte. Manchmal denke ich tatsächlich, dass es Parallelen zu unserer Zeit gibt. Es gibt auch heute so viel Lügenpropaganda in unserer Welt. Und so vielen blinden Hass und Ignoranz. Auf allen Seiten. Man konstruiert Schubladen voller Hass und Rassismus. Das ist gefährlich. Es geht nicht allein um Antisemitismus. Der Hass betrifft alle Seiten. Das fühlt sich explosiv an …

Menschen sind eher bereit, sich gegenseitig zu schaden. Mit einem ganz merkwürdigen Gefühl, dass ihnen das ›erlaubt‹ ist. Und ja, ich sehe die Verbindungen zu Lass uns die Welt vergessen … Deshalb bin ich auch besonders stolz, an dieser Produktion beteiligt zu sein. Und es ist wichtig. Und ich hoffe, dass die Leute diese Ähnlichkeiten auch bemerken werden. Das ist meine Agenda. Vor dem 7. Oktober hoffte ich einfach nur, dass dieses Projekt eine Art Gedenkstein sein könnte, der für sich steht. Im Sinne von: ›Lasst uns nicht vergessen, was war und was sein könnte.‹ Aber jetzt hoffe ich, dass die Leute aus dem Abend gehen und denken: ›Oh, mein Gott, wir müssen achtsam sein! Es könnte jederzeit wieder passieren!‹

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Wie ist die Musik in Lass uns die Welt vergessen eingebunden? In dem Sinne, dass jedes Stück eine eigene Bedeutung hat?

Richtig. Hinter jedem Stück, das ich ausgesucht habe, steht dramaturgisch ein bestimmter Gedanke.

In einem abstrakten oder einem ganz konkreten Sinne?

Ganz konkret. Wir beginnen mit Schönbergs Streichsextett Verklärte Nacht. Wir haben das Stück ausgewählt, weil es 1899 komponiert wurde. Dann hat Schönberg das Sextett 1917 für Streichorchester bearbeitet. Und dann noch einmal 1943

1899 haben wir als Ausgangspunkt genommen, weil Schönberg mit Verklärte Nacht vor allem erst einmal einen Blick zurück auf das gesamte vergangene Musikjahrhundert wirft. Komplette Romantik. Wunderschönes, romantisches, goldenes Wien. Aber in dieser Musik blickt Schönberg bereits voraus – auf das, was kommen könnte. Und das kannst du in dieser Musik spüren, du kannst die Dekonstruktion des romantischen Wiens hören.

Diese Doppelbedeutung Wiens in Form von Musik: Das musste ich unbedingt dabeihaben! Denn: Wir sind in Wien, wir sind im Theater! Und: Was geht da ab? Dann kommt ein kleines Intermezzo aus Viktor Ullmanns Kaiser von Atlantis: Totentanz. Das sagt eigentlich alles. Es erklingt in genau dem perfekten Moment. Später gibt es auch einen kleinen Ausschnitt aus dem dritten Satz von Mahlers erster Symphonie, der Moment dieses böhmischen Zugmarsches

… mit seinen wunderschönen jüdischen Melismen …

Ein bisschen wie in einer Klezmer-Band. Und das Ganze kommt in dem Stück dann, als es gerade einen Moment der Hoffnung gibt.

Wie ist es mit den Teilen, die du selber komponiert hast?

Immer, bevor ich etwas komponiere, mache ich einen Plan. Wenn ich beginne, dann weiß ich schon, wie es enden wird. Hier aber habe ich erst komponiert, als ich wusste, was szenisch passieren wird. Das war lustig, weil ich normalerweise immer mit einer eigenen Struktur anfange.

Und hast du dich stilistisch den jeweiligen Stücken davor und danach angepasst?

In den Teilen, die von mir stammen, nehme ich zum Beispiel die Harmonien der umgebenden Stücke auf und versetze sie sozusagen in die ›reale Welt‹. Ich habe drei wichtige Übergänge komponiert. In dem ersten hört man die Vertonung eines jüdischen Gebets. Nach diesem großen Übergang gibt es Musik zu einer neuen Szene, die operettenhaft funktioniert, weil danach eine Original-Operettennummer aus Gruß und Kuss aus der Wachau von Jara Beneš kommt.

Gleichzeitig dirigierst du diese Produktion auch …

Ja. Damit zeige ich alles, was ich liebe: Musik selber aufschreiben, Musik aussuchen – und dirigieren. Den Sound kann ich also auch noch formen. Ich bin total glücklich, das an der Volksoper machen zu dürfen. Ich bin hier an dem richtigen Haus. ¶


... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.