»Das ist das erste Mal seit Kriegsbeginn, dass ich über meine Erfahrungen und Gefühle spreche«, sagt Lia Perlov, Solocellistin des Israel Philharmonic Orchestra (IPO), zu Beginn unseres Zoom-Calls. »Ich rede darüber nicht einmal mit meinem Partner oder meinen Eltern. Weil alles zu schwer zu verarbeiten ist. Es ist sehr schwierig, das in sinnvolle Sätze zu fassen, weil der Schock so groß ist.« Eigentlich war das Gespräch mit Lia und dem IPO-Flötisten Boaz Meirovitch, der auch im Orchestermanagement arbeitet, für den Vorabend geplant. Ab dem späten Nachmittag machte jedoch wiederholter Luftalarm in Tel Aviv ein Interview mit den beiden unmöglich. Lia und Boaz mussten Schutz suchen – so gut es geht. »Ich wohne im sechsten Stock«, erzählt Boaz. »In den Schutzraum zu laufen, dauert viel zu lange. Wenn man die Sirene hört, hat man nur etwa anderthalb Minuten, bis die Raketen kommen. Deswegen können mein Partner und ich nur ins Treppenhaus gehen und hoffen, dass unser Haus nicht getroffen wird.« 

VAN: Könnt ihr die aktuelle Stimmung in Tel Aviv beschreiben?

Lia: Normalerweise ist die Stadt voller Menschen, fröhlich und laut. Jetzt ist es ziemlich still. Das hängt auch von der Lage unten im Süden [Israels] und vom Luftalarm ab. Immer wenn es neue Nachrichten gibt oder einen Luftalarm, sind die nächsten ein bis zwei Stunden ziemlich still. Die Leute bleiben zu Hause. Morgens ist es besser. Die Leute gehen nach draußen, sie versuchen, in diesem Wahnsinn eine Art Routine zu haben. Nachts ist es ziemlich unheimlich. Abends, schon um 19 Uhr, ist die Stadt wirklich leer. 

Boaz: Eigentlich ist der Slogan von Tel Aviv, glaube ich, so etwas wie ›Nonstop City‹. Aber jetzt ist es extrem still. Bis auf die Supermärkte sind alle Geschäfte geschlossen. Man sieht kaum Menschen, die Atmosphäre ist sehr düster. Normalerweise hört man hier Musik aus Cafés oder Restaurants,  die ist verstummt. Die Stadt steht völlig unter Schock.

Wie habt ihr die letzten Tage seit dem Terror-Akt der Hamas erlebt?

Lia: Ich habe kein unmittelbares Trauma, aber ein sekundäres, würde ich sagen, wie die meisten israelischen Zivilist:innen.

Ich war vor dem Angriff zwei Monate lang nicht in Israel, wir waren mit dem IPO auf einer wunderbaren Europa-Tournee und ich hatte noch einen Haufen anderer Projekte. Freitagabend bin ich zurückgekommen, Samstagmorgen um 6 habe ich dann etwas gehört, das für mich wie Iron Dome geklungen hat. Ich bin aufgewacht und habe zu meinem Partner gesagt: ›Da ist irgendwas im Gange.‹ Ich bin dann wieder eingeschlafen und eine Stunde später ging der Luftalarm los. Du stehst auf, genau wie alle Nachbarinnen und Nachbarn, alle sind verwirrt. Dann guckst du in die Nachrichten, um zu wissen, was passiert ist.

Was man von diesem Punkt an sah, war wirklich schwer zu verarbeiten. Es gab zwei Realitäten: Die Realität der Nachrichten, die man im Fernsehen sieht, und die Realität von Telegram und Social Media. Man sah Dinge, die man nicht hätte sehen sollen, und machte sich Sorgen um Menschen, die vielleicht dort waren, oder Menschen, die Menschen kennen, die dort waren – der beste Freund deiner Cousine oder der Kollege deines Onkels … Fast alle kennen jemanden, die oder der in diesem Moment dort war.

Ab diesem Zeitpunkt steht man nur noch unter Schock. Man hat Angst, man geht nicht raus, weil man nicht weiß, wie viele Terroristen ins Land gekommen sind oder wo sie sind. Man wartet auf irgendeine gute Nachricht, aber es wird nur schlimmer und schlimmer. Das kann man mit Worten nicht beschreiben. Ich habe dann mit vielen verschiedenen Leuten telefoniert und immer wieder hieß es: ›Ich kenne den und den und er ist verschwunden‹, ›Ich kenne die und die und sie ist tot‹. Dieses Land ist wirklich klein. Jeder kennt jeden irgendwie. Es ist ein Trauma für alle.

Boaz: Ich erinnere mich daran auch noch so genau! Ich bin um 6:30 Uhr aufgewacht, nicht von den Sirenen, sondern von Explosionen, die ich von weitem gehört habe. Ich habe nicht verstanden: Warum gibt es Explosionen? Ich hab geguckt, ob es dazu was in den Nachrichten gibt, und am Anfang wusste niemand, was los war, es kamen überhaupt gar keine Nachrichten, nur das übliche Samstagmorgen-Fernsehprogramm, Kindersendungen. Und dann ging die Sirene los.

Es war genau wie Lia gesagt hat: Es ist schrecklich, man weiß nicht, was vor sich geht, und dann sieht man diese Videos in den Sozialen Medien. Es ist unglaublich, dass diese Terroristen all diese Videos ins Internet gestellt haben. Man sieht, wie sie Menschen, die eine Autostunde von deinem Haus entfernt gelebt haben, exekutieren, wie sie Männer, Frauen und Kinder töten. Es gibt nichts auf der Welt, was dich auf sowas vorbereiten könnte.

Mein Partner und ich, wir waren im Schock. Ich glaube, ich habe stundenlang geweint. Dann habe ich aufgehört, mir das anzugucken.

Lia: Es war wahrscheinlich so um 9 oder 10 Uhr morgens, da wusste ich, dass mindestens 400 oder 500 Menschen getötet worden sein mussten – allein basierend auf den Videos, die im Internet zu sehen waren. Aber in den Nachrichten hieß es: ›vielleicht 10 oder 20‹.

Boaz: All diese Morde und Entführungen sind innerhalb von zwei oder drei Stunden passiert. Wie können Menschen so etwas tun? Wie kann es für dieses Land weitergehen, nach so etwas?

Aber ich muss in der Hinsicht ein bisschen optimistisch sein, denn was man auch sieht nach diesem Terroranschlag: Tausende Menschen helfen, beherbergen Leute. Airbnb-Wohnungen werden kostenlos vergeben an Menschen, die vor diesem Horror geflohen sind. Fast alle Hostels und Hotels in Israel stellen kostenlos Zimmer zur Verfügung.

Lia: Schon ab dem zweiten Tag dieses Krieges war die Solidarität, die die Menschen im ganzen Land gezeigt haben, sehr bewegend. Diese Solidarität ist sehr produktiv: ›Lasst uns zusammenkommen, lasst uns Menschen, die Essen brauchen, etwas zu Essen organisieren, lasst uns dafür sorgen, dass sie Kleidung haben, dass Menschen, die Kinder haben, einen Babysitter bekommen, dass die Väter und Mütter abends auch mal eine Runde spazieren gehen können …‹ So schlimm Telegram und die Sozialen Medien auch sein können, weil sie uns Sachen gezeigt haben, die wir als Menschen nicht verarbeiten können, so beeindruckend ist es auch, wie wir sie nutzen können, um Gutes zu tun.

Foto © Tully Chen

Ihr habt einen Weg gefunden, auch durch Musik zu helfen. Wie hat sich das entwickelt?

Lia: Es begann wie gesagt damit, dass Leute das Nötigste für andere gesammelt haben: Essen, Seife … Langsam kamen dann auch mehr und mehr Aufrufe, in denen es zum Beispiel um kulturelle Angebote für die Kinder ging, damit sie ein bisschen Ablenkung bekommen. 

Am Mittwoch nach dem Terrorangriff war ich zu Hause und dachte: Ich kann nicht nur hier sitzen, kaum was tun, mehr Angst haben, als ich es mir je hätte vorstellen können, und auf das Beste hoffen. Ich musste was tun. Also habe ich zwei Freund:innen gefragt, ob sie mit mir für Kinder spielen wollen, die in Tel Aviv in Hostels untergekommen sind. Wir haben angefangen, passende Arrangements zu suchen. Klassische Musik ist, glaube ich, aktuell nicht so leicht zu hören. Das haben wir schnell gemerkt: Zumindest in den ersten Momenten nach dem großen Trauma kann zum Beispiel ein zweiter Satz eines Beethoven-Quartetts zu schwer sein. Diese Menschen brauchen Zeit, um zu verstehen, was sie durchgemacht haben. Das Einzige, was wir im Moment spielen können, sind Arrangements von fröhlichen israelischen Liedern. Also habe ich nach neuen Arrangements solcher Lieder gesucht, einen Facebook-Post geschrieben und Leute gebeten, Arrangements zu spenden. Und innerhalb von zwei Stunden hatte ich über 50 Arrangements, die speziell extra für uns neu geschrieben worden sind. Wir haben sie in einigen Hostels und in einem Krankenhaus gespielt.

Boaz: Letzten Freitag bin ich in einem High-Tech-Unternehmen aufgetreten. Sie haben ihr riesiges Bürogebäude evakuiert, etwa vier Stockwerke, und Hunderte von Matratzen organisiert, und jetzt sind dort Hunderte von Familien untergebracht. Natürlich kamen nicht alle zum Konzert, denn dort sind auch Menschen, mit denen man nicht reden kann, die gar nicht sprechen, wegen dem, was sie durchgemacht haben …

Aber man sieht, wie viele Menschen wirklich helfen wollen, wie unser Orchester helfen will. Wir versuchen wirklich, das Beste zu tun, was wir in dieser schrecklichen Situation tun können.

Bekommt ihr Feedback von den geflüchteten Kindern oder ihren Familien zu dieser Art von Konzerten?

Lia: Die Reaktionen sind unterschiedlich. Gestern hat eine Frau, die am Rand stand, direkt geweint, als wir angefangen haben zu spielen, es war sehr schwer für sie. Eine andere Frau hat das ganze Konzert hindurch mitgesungen, zusammen mit ihren Kindern. Ein Mann ist nach dem Konzert zu mir gekommen und hat gesagt, dass er seit dem Terrorangriff keine Musik mehr hören konnte, dass er nicht in der Lage war, mit all diesen Gefühlen umzugehen. Und seit wir gespielt haben, will er wieder Musik hören.

Ich glaube, was wir tun, ist das Beste, was wir tun können. Im Moment geht es darum, den Menschen Trost zu spenden und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein sind, und ihnen zu helfen, mit einem großen Trauma fertig zu werden, das für immer in ihren Herzen bleiben wird. Es geht darum, das ein winziges, winziges bisschen leichter zu machen. Das ist das einzige, was wir im Moment machen können.

In meinem Facebook-Post habe ich auch alle befreundeten Musiker:innen gebeten, sich bei mir zu melden, wenn sie ehrenamtlich Musik machen wollen für Menschen aus dem Süden, die dem Terror entkommen sind. Am Anfang waren wir zu dritt, drei Musiker:innen aus dem IPO. Jetzt sind wir 40, die meisten aus dem IPO. Es ist wunderbar: Menschen wollen helfen, Trost spenden, sich selbst trösten, indem sie etwas tun in diesem Krieg.

Wie versteht ihr eure Rollen als Musikerin oder Musiker in solchen Kriegszeiten?

Lia: Ich würde sagen, ein großer Teil besteht in Zeiten wie diesen darin, Trost zu spenden, denn der wird wirklich gebraucht. Ich denke, im Allgemeinen besteht unsere Rolle als Musikerinnen und Musiker auch darin, den Anstoß zu geben, Sachen zu hinterfragen. Aber ich würde nicht sagen, dass jetzt die Zeit ist, um mit Musik Fragen zu stellen. Jetzt ist die Zeit, Menschen ein Gefühl von Sicherheit zu geben.

Wie kann man durch Musik Fragen anstoßen?

Lia: Ich denke, dass man durch Musik auf ausgezeichnete und schöne Weise Fragen stellen kann, sogar politische Fragen. Aber es gibt Zeiten, in denen es nicht um Fragen oder Diskussionen gehen sollte, sondern nur um Trost und Wärme und das Gefühl der Zusammengehörigkeit: dass wir gemeinsam hier sind, egal woher wir kommen, egal welchen Hintergrund wir haben, ob jüdisch oder muslimisch oder atheistisch … Das spielt keine Rolle. Gerade jetzt ist es an der Zeit, an die jeweils anderen zu denken und beisammen zu sein. Und ich glaube, dass die Musik uns dabei hilft, so zu fühlen.

Lia, du hast in Lübeck studiert. Verfolgst du auch die deutschen Diskussionen zum Hamas-Terror und zum Krieg?

Lia: Ja. Meine Schwester wohnt in Deutschland. Ich habe neuneinhalb Jahre in Deutschland gelebt. Ich würde sagen, es ist meine zweite Heimat. Ich habe viele deutsche Freund:innen … Ich verfolge das alles.

Es war wirklich schwierig, allein auf die Nachrichten von meinen Freund:innen zu antworten. Ich war so berührt, wie viele Menschen mir geschrieben haben, um zu fragen, wie es mir geht. Also habe ich kurz geantwortet: ›Ich bin in Sicherheit. Vielen Dank.‹ Ich konnte ihnen nicht erklären, was wirklich los ist. Es haben sich so viele kleine Dinge verändert, dass ich das gar nicht beschreiben kann. Die Geräusche sind jetzt so … Ein Motorrad macht ›wrrrrrrrm‹ und man denkt, es sei eine Sirene, oder du hörst etwas wie [stellt ein Glas auf den Tisch] und glaubst, es ist eine Bombe über deinem Kopf. Es ist schwer, meinen deutschen Freund:innen solche Sachen zu erklären.

Die Diskussionen, die meine deutschen Freund:innen über den palästinensisch-israelischen Konflikt führen … Damit kann ich im Moment einfach nicht umgehen. Manchmal wünschte ich, dass die Leute weniger erbittert diskutieren und einfach mehr für die Menschen da sind, die das gerade erleben.

Boaz: Es ist interessant: Ich habe in den USA studiert und gelebt und die Reaktion da ist ganz anders. Meine amerikanischen Freund:innnen wollten natürlich auch wissen, ob es mir und meiner Familie gut geht, aber es gab keine Diskussionen. Sie unterstützen Israel zu einhundert Prozent. 

Lia: Ich möchte kurz klarstellen: Keiner meiner Freund:innen unterstützt das, was passiert ist. Es ist nur so, dass die politische Diskussion über den israelisch-palästinensischen Konflikt sehr aktiv ist. Ich habe das Gefühl, dass es mehr politische Diskussionen gibt als Zeichen des Füreinander-Da-Seins. Was auch sehr verständlich ist. Aber es ist einfach hart.

Boaz: Jetzt ist nicht die richtige Zeit für politische Diskussionen. 

Foto © Tully Chen

Wie geht es jetzt für das IPO weiter?

Boaz: Für uns stand eigentlich gerade der Start unserer 87. Saison an, mit unserem Chefdirigenten Lahav Shani – der in Deutschland festsitzt, weil alle Flüge gestrichen wurden. Ich denke aber schon, dass er bald kommen wird und wir dann zusammen Projekte machen können. Natürlich halten wir uns an die geltenden Gesetze. Im Moment ist es nicht erlaubt, mit mehr als 50 Personen in einem Raum zu sein. Außerdem muss dieser vor Raketeneinschlag geschützt sein, und das ist unser Saal nicht. Also haben wir erstmal alles verschoben, bis November. Jeden Tag bin ich stundenlang in Sitzungen, weil die Situation jeden Tag anders ist.

ANZEIGE

Gibt es unter den Musiker:innen des IPO auch welche, die jetzt in die Armee eingezogen wurden?

Boaz: Die meisten von uns waren in einem Exzellenz-Programm für Musiker:innen: In der Armee spielt man dann in einem Orchester. Ich war in der Militärkapelle. Ich glaube nicht, dass bei uns im Orchester jemand wirklich zum Kämpfen ausgebildet ist. 

Lia: Aber es gibt viele Musiker:innen, die einen Bruder haben, der eingezogen wurde, oder einen Sohn …

Boaz: Unser Notenwart lebte in einem Kibbuz in der Nähe des Gazastreifens und ist nur durch pures Glück entkommen. Die beiden Söhne unserer Harfenistin, der Sohn unseres Trompeters … Sie sind alle unten im Süden. Hoffen wir, dass sie nicht kämpfen müssen!

Lia: Wir hoffen jeden Tag, dass sie nicht einmarschieren, aber die Angst ist da. Jede und jeder Einzelne im Bekanntenkreis hat ein Familienmitglied, das entweder entführt, ermordet oder verletzt ist oder eingezogen wurde. Es gibt nur entweder oder.

Könnt ihr aktuell Musik hören?

Lia: Ich konnte gar keine Musik hören, bis vor zwei Tagen. Da habe ich ein Youtube-Video gefunden von Celibidache mit der vierten Sinfonie von Bruckner, die letzten sechs Minuten. Und auf einmal war ich sehr berührt und habe danach zu einem Freund gesagt, dass ich glaube, dass diese Musik für mich nie wieder dieselbe sein wird. Und wie gesagt: Ich spreche als eine Person, die ein sekundäres Trauma hat. Aber allein das überwältigende Gefühl, das einem die Musik gibt, nachdem man einen solchen Schmerz gefühlt hat … Es hat mich mit Sicherheit verändert. Ich werde jetzt viel mehr Musik hören, aber anders.

Boaz: Am Anfang fiel es mir schwer, Musik zu hören oder zu spielen. Ich konnte die Flöte nicht mal anfassen. Das erste Mal, dass ich sie wieder in die Hand genommen habe, war, als ich für die Leute in diesem Hightech-Unternehmen gespielt habe.

Heute finde ich Trost vor allem im Laufen. Ich gehe fast jeden Tag laufen. Normalerweise höre ich dabei Dance Music, was von ESC oder so. Jetzt höre ich beim Laufen vor allem Bach, christliche Kirchenmusik, etwas, das in Verbindung steht zu dem Kummer, den ich in mir trage.

Lia: Am meisten Trost ziehe ich im Moment daraus, die Leute aus meinem Orchester zu sehen. Zu sehen, dass das Leben weitergeht, dass wir weitermachen, dass wir weiter spielen, dass wir geben, was wir können … Wir existieren. Wir gehen nicht.

Lia Perlov (links), Boaz Meirovitch (rechts) • Fotos © Miri Davidovitz

Habt ihr als IPO eine besondere Rolle für die israelische Gesellschaft? 

Lia: Ich werde niemals vergessen, dass dieses Orchester von Geflüchteten gegründet wurde … 

Boaz: … von Holocaust-Überlebenden … 

Lia: … wie meine Großmutter, die aus Polen hierher kam. Heute hat es eine große symbolische Kraft, Teil dieses Orchesters zu sein. Nach dem Angriff der Hamas habe ich zwei Tage lang darüber nachgedacht, was ich tun sollte: Sollte ich fliehen? Ich habe ziemlich schnell entschieden, dass ich das nicht machen kann, weil ich Teil dieses Orchesters bin, auch in einer führenden Position. In diesem Krieg habe ich gelernt, dass wir, die wir hier in der Mitte des Landes leben, eine große Verantwortung tragen, indem wir den Menschen das Gefühl geben, dass wir als Gemeinschaft weiter existieren und dass das Leben weitergeht. Wir als IPO sind eine der großen Organisationen, die das können. Und genau das werden wir machen. Jeden Tag, nicht nur im Krieg. Aber besonders im Krieg.

Boaz: Lia und ich, wir befinden uns in einer ähnlichen Situation. Wir haben keine Kinder. Wir könnten einfach unsere Koffer packen und in die USA oder nach Deutschland gehen …

Lia: Meine Mutter hat mir ohne mein Wissen ein Flugticket gekauft. Sie macht sich große Sorgen. Der Flug ging vor zwei Tagen. Ich bin nicht mitgeflogen.

Boaz: Ich habe auch beschlossen, nicht zu gehen, und zwar nur wegen des IPO. Wir kämpfen in diesem Krieg auf unsere Weise: Wir spielen für Menschen, die geflohen sind, und helfen ihnen, sich besser zu fühlen. Ich habe das Gefühl, dass ich das Land nicht verlassen kann. Nicht, weil ich keine Angst hätte, ich habe wirklich Angst. Sondern weil ich für mein Orchester kämpfe und so gut ich kann den Menschen helfe, die gelitten haben.

Lia: Ich fühle das genauso. Und dabei geht es wirklich nicht um Patriotismus oder etwas in der Art. Es geht um die Musiker:innen, um meine Cellogruppe, die mir wirklich am Herzen liegt. Ich weiß, dass es ihnen besser geht, wenn sie Arbeit haben, wenn sie Musik machen können. Menschen brauchen etwas, an dem sie festhalten können, und eine Arbeit wie in diesem Orchester, das wie eine Familie ist – wenn das weitergeht, ist  das Beste, was wir tun können. Alles, was stark bleiben und weiter gedeihen kann, sollte bleiben. ¶


... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com