Daniel Grossmann, Dirigent und Künstlerischer Leiter des Orchester Jakobsplatz München, bat im Frühling 2015 den Berliner Komponisten Moritz Gagern um ein Stück. Gagern sollte den historischen als Ausgangsmaterial für einen zeitgenössischen Klezmer benutzen. Das Stück ist fertig – in Kürze beginnen die Proben zu Nigunim für Orchester.
Ich hasse Klezmer! Wirklich?
Deutschland scheint mir besessen von Klezmer-Musik zu sein. In wohl keinem anderen Land der Erde gibt es so viele Festivals, Musiker*innen, Bands, die dieser Musikrichtung, der scheinbaren Mutter der jüdischen Volksmusik, gewidmet sind. Ich liebe Deutschland, doch ich hasse Klezmer!
Für einen Dirigenten und künstlerischen Leiter eines jüdischen Orchesters ist das kein ganz unproblematischer Satz. Doch hasse ich Klezmer wirklich? Und ist der gemeinhin bekannte Klezmer-Stil auch wirklich Klezmer? Stimmt beides nicht ganz – und ich muss mich revidieren: Nicht immer liebe ich Deutschland und vor vielen Jahren entdeckte ich durch einen Zufall, dass ich Klezmer nicht hasse. Vielmehr musste ich feststellen, ich kannte Klezmer überhaupt nicht!
Das, was man heute als Klezmer-Musik kennt, ist vor allem geprägt von dem wunderbaren Klarinettisten Giora Feidman. Hier ein typisches Stück, ein »Freilach«, jiddisch für fröhlich.
Nur mit Vorsicht wage ich zu schreiben, dass ich die Liebe zu dieser Musik nicht ganz verstehen kann. Und damit meine ich nicht das virtuose Spiel von Giora Feidman, das mich durchaus fasziniert. Aber mir fehlt die Variabilität in der Musik, es klingt alles immer irgendwie ähnlich. Mit der Zeit stumpfe ich ab und höre nicht mehr richtig zu.
Auf einem privaten Fest zeigte mir ein Freund türkischer Abstammung und muslimischen Glaubens eine Klezmer-Aufnahme. Ich konnte es kaum glauben: Das soll Klezmer sein?
Ja, das war Klezmer! Und plötzlich verstand ich, was mein bisheriges Problem mit dieser Musik war. Ursprünglich entstammt Klezmer dem osteuropäischen Schtetl, war hauptsächlich festliche Begleitung von Hochzeiten, aber auch von anderen fröhlichen Feierlichkeiten. Die Musik wurde auch nicht Klezmer genannt, sondern es waren Klezmorim (Musikanten), die diese jiddische, eben vorwiegend instrumentale Musik spielten.
In zahlreichen Pogromen wurden die Juden aus den Schtetln vertrieben, die meisten von ihnen wanderten in die USA aus – was eigentlich auch das Ende der ursprünglichen Tradition der Klezmorim und ihrer Musik bedeutete. In ihrer neuen Heimat schlugen sie sich als Musiker durch, wurden natürlich von der Kultur ihrer neuen Umgebung beeinflusst und so war auch die Musik, die sie nun Klezmer nannten, eine andere als die, die sie im Schtetl gespielt hatten.
Anhand des legendären Klarinettisten Naftule Brandwein lässt sich diese Entwicklung sehr gut nachvollziehen. 1889 als eines von 13 Kindern im galizischen Schtetl geboren, emigrierte er 1908 im Alter von 19 Jahren in die USA, wo er mit dem Spitznamen »Nifty« zum »King of Jewish Music« avancierte. Der Legende nach soll er seinem Publikum den Rücken zugekehrt haben, um beim Spiel nicht die Feinheiten seiner Technik Preis zu geben. Auf folgender Aufnahme ist der Einfluss der amerikanischen Musik schon deutlich hören:
Was mir allerdings besagter Freund bei dem Fest vorspielte, waren seltene Aufnahmen vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Hier konnte man die Kunst von Musikern hören, die tatsächlich noch im Shtetl gespielt hatten. Mit dem, was man heute unter Klezmer versteht, hatte diese Musik nur bedingt etwas zu tun. Eine viel rauere, vielfältigere Klangwelt eröffnete sich hinter dem Rauschen und Krächzen der schlechten Klangqualität. Kein Klarinetten-krekhts (Schluchzen) begleitet von Gitarre und Kontrabass, sondern ganze Orchester spielten hier auf erstaunlich hohem technischen Niveau.
Als ich mich nun mit den Ursprüngen dieser Musik auseinandersetze, fand ich schnell heraus, dass im Schtetl, je nach finanziellen Möglichkeiten der Brauteltern, Ensembles von zehn bis vierzig Musikern zu den Hochzeiten spielten. Dass es nicht nur Klarinetten waren, die als Soloinstrument eingesetzt wurden, sondern Geige, Hackbrett (Zimbl), Posaune, Trompete und viele mehr. Nach heutiger Definition, die sich vor allem auf die Klezmer-Renaissance in den USA der 1970er Jahre gründet, würde man diese Aufnahme wohl kaum als Klezmer bezeichnen:
In der folgenden Aufnahme des Belf’s Romanian Orchestra mit dem Titel Amerikenskaya ist die oben beschriebene historische Entwicklung umgekehrt in Musik gefasst: Nicht die amerikanischen Musiker stellen sich das Schtetl vor, sondern das Schtetl- Orchester sich Amerika.
Und plötzlich war ich angefixt von Klezmer. ¶