Gelegenheiten, die Werke von Agnes Tyrrell live zu hören, gibt es noch viel zu wenige. Am 12. März 2023 spielt die Pianistin Kyra Steckeweh – deren Film über die hier bereits porträtierte Dora Pejačević ab dem 15. November 2022 im Kino zu sehen ist – Stücke von Agnes Tyrrell in Esslingen. Bis dahin fließt noch viel Wasser den Neckar hinunter. Trotzdem ist es bereits Zeit, an Tyrell zu erinnern.

Tyrell wurde am 20. September 1846 im damals zum Kaisertum Österreich gehörigen Brünn in eine bildungsbürgerliche, kulturell hochambitionierte Familie hinein geboren. Ihre Mutter Josefina Kotulánová kam aus Tschechien, ihr englischstämmiger Vater – Henry Foster Tyrrell – arbeitete als Englischlehrer. Tyrrell wuchs dreisprachig auf: Sie erlernte die tschechische, die deutsche und die englische Sprache. Wie Steckeweh auf ihrer Webseite über die Edition von Klavierwerken Tyrrells schreibt, konnte die junge Künstlerin Tyrrell bereits ab dem Alter von 16 Jahren am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien studieren. Doch wie so viele junge Künstlerinnen ihrer Zeit wurde sie als »Wunderkind« geradezu verheizt, wie es scheint. Einer ihrer Lehrer war Otto Kitzler (1834–1915), den Anton Bruckner 1861 und 1863 aufgrund intensiver Studien immer wieder aufgesucht hatte.

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Allein Tyrrells Fähigkeiten in Sachen Klavierspiel müssen erstaunlich gewesen sein. Aber leider zeigten sich früh gesundheitliche Probleme bei der jungen Künstlerin. Gewissermaßen ebenso früh war ihr und ihrem Umfeld klar, dass die Strapazen einer vielreisenden Virtuosin nicht mit dieser Art von fragiler Konstitution vereinbar sein würden. Auch aufgrund dieses Umstandes konzentrierte sich Tyrrell offenbar aufs Komponieren. Doch viele Werke von Tyrrell sind (oder waren) noch nicht verlegt. (Auch hier ist Kyra Steckeweh federführend.)

Agnes Tyrrell starb am 18. April 1883 in Brünn (wo sie ihr gesamtes Leben verbracht hatte) an den Folgen einer Herzerkrankung. Sie wurde nur 36 Jahre alt.


Agnes Tyrrell (1846–1883)
Die Könige in Israel. Ouvertüre c-Moll für Orchester (ca. 1880)

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In der kurzen Zeit ihres Lebens komponierte Tyrrell eine Symphonie, zwei Ouvertüren, eine Oper, Chor- und Kammermusikwerke, Lieder sowie Stücke für Klavier. Um das Jahr 1880 herum entstand eine der besagten zwei Orchesterouvertüren: Die Könige in Israel. Tyrrells letztes vollendete Werk. Eigentlich sollte Die Könige in Israel ein abendfüllendes Oratorium werden. Doch Tyrrells Tod kam dazwischen. Nur die Ouvertüre überlebte.

Sanft klagend beginnt das Orchester. Eine Oboe schält sich kurz heraus. Das Ganze atmet fast noch die Zurückhaltung eines geistlichen Werkes von Felix Mendelssohn. Auch schwingen gewisse barocke Anmutungen mit. Ein Schreiten, aber ohne Schwere. Ein Trauern, aber ohne Weinen. Harmonisch: keine experimentellen Spielchen.

Nach gut einer Minute kommt es zum ersten dynamischen Höhepunkt. Anschließend bricht es verschiedentlich hervor. Mit der Zurückhaltung ist es auch immer mal wieder vorbei. Nach ein paar weiteren – spannungsvollen! – Momenten hören wir ein Zittern der Geigen als Überleitungsmotiv zu neuen Erzählaspekten dieses Werkes, das man unbedingt einmal live im Konzertsaal geben sollte. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.