»Ja, mei« ist die alpenländische Antwort auf die großen und kleinen Katastrophen der Mitmenschheit. Die zwei Silben können je nach Betonungsverschiebung Träger von Mitleid und Verständnis, aber auch von hilfloser Anteilnahme sein. Dabei – und das ist für Bayerisches ja wirklich eine Besonderheit – schwingt im Kontrast zum hochdeutschen »Tja« nicht nur phonetisch eine zusätzliche Prise empathisches Weichsein mit.
Es geschieht selten, dass ein Festival sich mit entschlossener Radikalität nur zwei Künstler:innen widmet. Beim Festival Ja, Mai der Bayerischen Staatsoper füllt man so in knapp einem Dutzend verschiedener Formate ganze zehn Tage des hochsommerlich auslaufenden Wonnemonats. Georg Friedrich Haas und Händl Klaus stehen als kongeniales Duo von Komponist & Autor nicht nur im Mittelpunkt, sondern genauso im Rahmen- und Randprogramm: Zwei Opern, vier Filme, zwei Konzerte, Lesungen, Vorträge und Gespräche finden munter verteilt auf das Münchener Stadtgebiet statt.
Von 2011 bis 2016 schufen die beiden Österreicher die Operntrilogie Bluthaus, Thomas und Koma, die nun in München zum ersten Mal als Ganzes auf die Bühne gebracht werden sollte. Intendant Serge Dorny bastelte eigens dafür dieses neue Festival, das sich nun jährlich – mit ähnlicher Autor:innenfokussierung – zeitgenössischem Musiktheater widmet. Koma mit musicÆterna und Teodor Currentzis musste angesichts von Russlands Angriffskrieg vor knapp zwei Monaten in die übernächste Spielzeit verschoben werden, aufgrund von Covidfällen im Ensemble musste die Uraufführung von Liebesgesang, der vierten Oper von Haas und Händl, in Bern, ursprünglich geplant für letzte Woche, ebenso in die Zukunft ausweichen. Es bleibt ein Festival, das sich ganz unfrühlingshaft den menschlichen Extremsituationen verpflichtet und Nahtstellen zwischen ältestem und neuestem Musiktheater sucht.
Auftakt des Festivals war das kurze Gesprächskonzert Virus der Humanität im Atrium des BrainLAB, einem Medizinsoftwarekonzern in der abgelegen-großunternehmerischen Messestadt. Mit dem leider immer aktueller werdenden I can’t breathe (2015) eröffnet Johannes Moritz als Ferntrompeter in luftiger Höhe des Atriums die Veranstaltungsreihe. Es ist eine einsame Zwölftonkantilene, die nach und nach in eine Sechzehnteltonskala gestaucht, geradezu erstickt wird. Das Atrium ist geschmückt durch eine auf dieses Stück hin kuratierte Ausstellung mit Werken von Künstler:innen of Color, die sich auf verschiedene Weise mit Rassismus und intersektionaler Diskriminierung auseinandersetzen.
Georg Friedrich Haas geht bekanntlich seit einigen Jahren sehr offen mit seiner Nazivergangenheit und der Indoktrination in seinem eigenen Elternhaus um. Im Gesprächskonzert stößt der Komponist selbst die politische Lesart des Festivals an. Er verbindet seine niederschwellige und pädagogisch beachtlich durchdachte Einführung in seine Mikrotonalität gegenüber dem Publikum ohne große Umschwünge und Metaphern mit seiner demokratischen Selbstverpflichtung: Wie in der schwer zu intonierenden Spektralharmonik die winzigsten mikrotonalen Verschiebungen »vom Falschen zum präzise Richtigen« geworden sind, sei gesellschaftlicher Fortschritt einer ähnlichen Wurzelbehandlung bedürftig. Und auch in den gnadenlos überwältigenden Schicksalen, mit denen er seine Opernprotagonist:innen in diese tonalen und emotionalen Extremsituationen verdammt, verwirkliche sich die Verantwortung: »Wenn Sie den Menschen ihr Ohr und ihr Mitgefühl leihen, ist es mir ein ganz klein wenig gelungen, das Virus der Humanität zu verbreiten.«
So auch in der ersten der beiden Opernpremieren: Bluthaus versetzt die Zuschauer:innen in eine Trümmerwelt nach einem lange im Unklaren verbleibenden Drama häuslicher Gewalt. Nicht als Voyeur-Tourist:innen erlebt man die sich anbahnende Katastrophe, man wird unmittelbar nah an das Innenleben der Protagonistin Nadja versetzt, viel näher als schadensfrei auszuhalten ist. Die Oper wurde 2011 bei den Schwetzinger Festspielen uraufgeführt und 2014 in revidierter Fassung bei den Wiener Festwochen erneut inszeniert. Für die Neuproduktion im herrlichen Rokoko des Cuvilliéstheater der Residenz kommen Schauspieler:innen des Residenztheaters, Solist:innen und Orchester der Staatsoper, drei Sänger des Tölzer Knabenchors und ein Alte Musik Ensemble in einer erfrischenden Inszenierung von Claus Guth zusammen.
»Ich finde ja Werktreue einen hirnrissigen Begriff«, ist eines der ersten Dinge, die mir Händl Klaus am Tag vor der Premiere in der protzig renovierten Rheingold-Bar der Staatsoper zu den neuen Inszenierungen erzählt. »Weil die doch gar nicht zu haben ist. Das Werk ist ja Material – zunächst für ein:e Komponist:in und dann eben auch für das Team, das die Partitur umsetzt. Ich selbst sitze dann wie ein Besucher im Publikumsraum und lass es mit mir geschehen.« Wenn die Arbeit mit dem Material gelinge, dann sehe er es wie ein fremdes Werk, aber: »Lustigerweise fallen mir, wenn sie missglückt, einfach nur meine Schwächen auf. Dann bin immer ich gescheitert.« Guth präsentiert den Stoff zwar über weite Strecken eher naturbelassen, aber transportiert durchaus seine eigene Interpretation des Bühnengeschehens. Die Oper wird musikalisch in den Rahmen zweier Madrigale von Claudio Monteverdi gespannt und damit auch szenisch in eine Handlung. Die Oper beginnt und endet in einem Verhörzimmer, ein Kriminalbeamter konfrontiert die am Rande ihrer Kräfte stehende Nadja mit einem blutigen Messer – einer Tatwaffe.

Die Studentin möchte das Haus ihrer verstorbenen Eltern verkaufen und mit dem Makler empfängt sie nach und nach Bankmitarbeiterinnen, diverse Interessent:innenpaare mit unterschiedlichen Visionen, Hintergründen und skurril überzeichneten Persönlichkeiten und ein böswillig spickendes Nachbarspaar. Durchweg geistern die Stimmen ihrer beiden Eltern in ihrem Kopf (in den grauen Kostümen verschmolzen mit der trostlosen Vorhangskulisse), jede ausgelöste Erinnerung muss sie im Verkaufsgespräch mit überzeugend falsch-gelächelter Werbung überspielen. Das Haus ist frisch renoviert, es riecht nach Farbe und der Keller ist voll mit verarbeiteten Quitten aus dem beschaulichen Garten.
Händl Klaus gestaltet das Libretto über weite Strecken als konsequenten Hoquetus: Die einzelnen Sätze wechseln Wort für Wort über die Figuren und verbinden die Charaktere so von Situation zu Situation in immer neue Einheiten: Gemeinsame Interessen, Ambitionen, Ängste offenbaren sich ohne die Nötigkeit weiterer Erklärungen. Dass das zum Zuhören auf Dauer auch anstrengend sein kann, wissen Regisseur Claus Guth und das bunt kodierte Schauspielerensemble durch Abwechslungsreichtum zu kompensieren: Die schrägen Dialoge werden loriotesk ausgespielt, das Skurrile und Humorvolle entfaltet sich über dem simultanen Kontrast von Haas’ Tonsprache. Sei es das zögerliche Coming-Out zweier »befreundeter« Wiener, eine zu nahe Beziehung von Muttersöhnchen und Söhnchenmutter und – vollkommen zurecht Publikumsliebling – die drei Solisten des Tölzer Knabenchors als irrwitzig verzogen choreographierte Drillingsklone ihres Spießerpapas.
Vielleicht gerade weil es bei der Besichtigung so viel zu lachen gibt, ist die sprachliche Verzahnung in letzter Konsequenz das wahre Grauen im Bluthaus. Die beiden diabolischen Nachbarn sind es, die den begeisterten Interessent:innen offenbaren, was sich in dem Haus zugetragen hat: Vater Werner hat die Tochter jahrelang missbraucht, Mutter Natascha ihn dann eines Tages von hinten erstochen und sich selbst im Anschluss die Kehle durchgeschnitten. Der grammatikalische Bund steht in Reih und Glied der Protagonistin gegenüber, die zum Kollektiv gleichgeschalteten Individuen fallen über sie her – während im Graben eine irritierend banale Lamentomelodie in Dauerschleife über den gesamten Orchesterambitus alles niederwälzend über das Geschehen flutet. Die Retraumatisierung besiegelt Nadjas Ausweglosigkeit aus dem Leben, zu dem sie verdammt ist, im Nachgang entlädt sich das erotische Knistern zwischen ihr und dem charismatisch-schmierigen Makler Axel Freund zur wenig befriedigenden Sexszene. Der Geist des Vaters sitzt tief in ihrem emotionalen Inneren, sie kann ihn auch hier nicht loslassen; schreit sogar – irgendwo zwischen Lust und Panik – nach ihm. »Das ist das Furchtbare, hier singt sie auch: ›Ich habe den Vater natürlich geliebt.‹ Das Liebenkönnen ist zerstört. Der Vater, der Täter, schiebt sich unweigerlich wieder hinein. Es ist dann so wahnsinnig schwer, sich noch auf einen Menschen einzulassen. Das Fühlen ist latent bedroht«, so Händl Klaus.

»Schließen Sie ab« lässt sich Nadja hinter schwerer Tür im Bluthaus zurücklassen und akzeptiert die Unmöglichkeit, nach allem zu fliehen und ein normales Leben führen zu können. Doch während sich in den zahlreichen Episoden der Rückblenden die Mutter ängstlich Rosenkranz betend von dem Missbrauch abwendet, deutet Guth nach der zentralen Vergewaltigung – der Vater singt vom fachmännischen Quittenschälen und -zubereiten – an, wie Nadja selbst zum Dolch greift. Vielleicht tatsächlich weniger als Zeugin und Opfer, sondern als Verdächtige sitzt sie am Ende am Verhörtisch und klagt selbst mit Monteverdis Lamento della ninfa: »Mach, dass meine Liebe zurückkehrt, wie sie einst war, oder töte mich, damit ich mich nicht weiter quäle.«
Bei den ersten Tönen des Lamento mag man kurz etwas enttäuscht sein, wieso denn der Schluss der Haasoper nicht für sich stehen darf. Aber Titus Engel, der ohnehin aus der dichten Partitur über alle brutalen Schwierigkeiten hinweg ausdrucksstark und gestaltungsfreudig die gewaltigen Klangeruptionen und schroffen Texturen formt, musiziert die abrupte Zeitreise mit dem minimalbesetzten Monteverdi so innig und delikat, dass gar nichts anderes übrig bleibt als sich voll und ganz dem Mitgefühl mit der jungen Unglücklichen hinzugeben. Vera-Lotte Boecker als Nadja wird zurecht »das Ohr geschenkt«, sie trägt den Abend fast im Alleingang und fesselt auch in den kniffligsten Mikromelodien und dramatischsten Schreien mit scheinbar aufwandsloser Brillanz und Flexibilität, als würde sie in jedem Moment ihr Ehrlichstes, Innerstes den mitmenschlichen Bestien zum Fraß vorwerfen.

Man munkelt als Koma-Ersatz, aber auf jeden Fall als terminliches Bindeglied der Opern fand am Abend nach der Bluthaus-Premiere im Volkstheater ein Konzert mit George Friedrich Haas‘ abendfüllenden Ensemblestück Solstices statt. Das Londoner Riot Ensemble brachte den 75-Minüter auf die Bühne, ganz ohne Noten im stockfinsteren Raum. »In absoluter Dunkelheit zu spielen« schreibt die Partitur vor, zur Einstimmung gab es vorher noch einen Vortrag von Thomas Macho zur Sinnes- und Musikwahrnehmung von erblindeten Menschen. Leider konnte der Saal aber diese eine Grundanforderung der absoluten Dunkelheit nicht erfüllen, zu viele kleine Lämpchen und Technikschimmer erhellten wie blendende Polarsterne die schwarze Nacht. Dunkelheit erlaubt keine Kompromisse, der nötige Kontrollverlust und Sinnesrausch kann sich erst einstellen, wenn die Rezeptoren der Netzhaut im Reizmangel komplett überfordert verrücktspielen. Musikalisch war die Aufführung dennoch von irrsinnigem Niveau. Man möchte lieber gar nicht nachdenken, was für ein Kraftakt es sein muss, dieses aufwendige Stück zunächst überhaupt – und dann auch mit so einer gestalterischen Souveränität auf die Bühne zu bringen. Leider war nur das Münchener Publikum eine absolute Katastrophe – »klerikale Schöngeister« nannte Händl Klaus sie im VAN-Interview von 2016 mal herrlicherweise – mehrere Saalflüchtige jagten beim Türöffnen das Foyerlicht wie Blendgranaten in den Saal, Telefontaschenlampen, Getuschel, ein unnötig gerufener Zynikerkommentar in die Stille vor dem hochverdienten Schlussapplaus, um das Bullshitbingo zu vervollständigen. Man möchte ja hier auch lieber über die Musik schreiben, aber wenn ein Stück, das ausgerechnet von gegenseitiger Rücksichtnahme beim Auf-Sich-Allein-Gestellt-Sein der Musiker:innen lebt, derart virtuos zerstört wird von der mangelnden Solidarität und dem Unvermögen, sich auch selbst auf die Grenzsituationen einzulassen, denen man die Bühnenfiguren aussetzt, birgt das ein bisschen zu viel Ironie. Ja, mei.
Händl Klaus verspürt in seinem Librettoschaffen nicht nur einen Reiz an solchen Extremstoffen, sie sind für ihn essenziell für die Gattung: »Bluthaus und Thomas handeln beide in einem Grenzbereich, in die ich mich mit Georg Friedrich Haas getraut habe. Ich habe ja gezielt ihm die Stoffe vorgeschlagen, sie sind für seine Musik entstanden. Das ist jetzt eine Binse, aber: Die Oper ist deshalb eine für uns bis zu unserem letzten Atemzug relevante Kunst, weil sie im Todesbereich angesiedelt ist. Sie geht dort hin, wo nichts anderes mehr sprechen kann. Alle Opernstoffe sind im Grund Todesstoffe. Ich habe keine einzige Oper gemacht, wo das nicht wesentlich wäre. Es bedingt einander. Der Todesstoff braucht die Musik, und die Musik braucht den Todesstoff.«

Trotzdem ist Thomas ein vollkommen anderer Nachfolger der düsteren Tragödie. Es ist ein Stück über das Loslassen, über das Verbleiben nach dem Tod anderer, aber in allererster Linie vor allem ein Liebesstück. Die Entstehung der so unterschiedlichen zweiten Oper geht dabei zurück auf ein ganz unverkopftes Erlebnis, wie Händl Klaus erzählt: »Nach der Premiere von Bluthaus in Schwetzingen standen wir im Foyer, und Georg fragte: ›Und wie machen wir jetzt weiter?‹ – ›Ich habe einen Stoff, Thomas – da stirbt Matthias, der Freund von Thomas.‹ Und dann ging plötzlich das Licht aus. Jemand hatte eine Tür zugeschlagen und dabei das dicke schwarze Generalkabel gekappt. Und das war dann ein Zeichen, es ward finster – und wir machen den Thomas.« Wo die Uraufführung von Thomas vor neun Jahren bei den Schwetzinger Festspielen die Handlung auf eine nüchtern-sterile Intensivstation verlegte, verwandelt sich der schlauchige Bau der ehemaligen Reithalle, die heute Utopia heißt, in eine Beinahe-Rundum-Kulisse. Leider recht geräuschintensive Projektionen erschaffen einen abstrakten Raum, in der Mitte ein haushohes Ovalgebilde, das mal schlagendes Herz, mal Felsbrocken, mal Orchester-Ufo sein darf.
Wenn das Publikum den Saal betritt, erlebt es die rasselnden letzten Atemzüge von Matthias. Als wäre er immer schon da gewesen und nur das Ende seiner Existenz nun Teil eines Bühnenstücks. Mit am Totenbett: Thomas und der Hospizpfleger Michael. Erst mit den immer größer werdenden Pausen zwischen den Atemzügen und dem unausweislichen Stillstand setzt mit mikrotonalen Harfenglissandi so etwas wie eine richtige Begleitung für die Oper ein. Haas baut hier allerdings auf ein wirklich eigensinniges Instrumentarium aus Zupfinstrumenten (Gitarre, Harfen, Cembalo, Zither), Akkordeon und Schlagwerk und schraubt so eine mechanisch-spröde Klangwelt, die sich jeder Assoziation entzieht. Dabei ist jeder Ton in seinem schnellen Verklingen ein kleiner Tod, ein akustisches Auffangnetz wird den Sänger:innen wie dem Publikum verweigert.
Das Team um Regisseurin Anna-Sophie Mahler versetzt die Anwesenden in der Reithalle ganz in das Innenleben des Titelhelden. Im Schockzustand entfaltet sich seine langsame und zuweilen surreal verzerrte Wahrnehmung der Hospizroutinen, von dem anfänglichen Tod in ruhig erklärender Anwesenheit Michaels, über ärztlich-bürokratische Todesfeststellung und die Waschung durch die Schwestern zeigt sich Thomas‘ Unvermögen mit dem Tod seines Geliebten zurechtzukommen. Als das pochende Herz in der Mitte des Saals zum Stillstand kam, blieb stattdessen nur sein zum freischwebenden Meteorit versteinertes.

Gedanken (und Bilder) von Verwesung begleiten seine ablehnende Haltung gegenüber den Hospizhandlungen, andererseits will und kann er den Raum nicht verlassen. Thomas (den Abend im Alleingang tragend gesungen von Empathiemagnet und Ausdauerwunder Holger Falk) ist als moderner, stilvoller Karrieremann auch Stellvertreter für eine Welt, die bei aller Säkularisierung gemeinsam mit dem Glauben auch jede Akzeptanz des unausweichlichen Todes über Bord geworfen hat: Übrig bleiben – das haben wir in den letzten Jahren nochmal in unnötiger Offensichtlichkeit dargelegt bekommen – abstrakte Zahlen und Statistiken und das kollektiv-individuelle Unvermögen zu trauern. Ja, mei.
Die Schwestern (im glitzernden Lichterkettenkostüm) waschen Matthias gemeinsam und huldigen mit dabei in ihrem Gesang Zentimeter um Zentimeter seines Körpers: »Mit ihrer Totenwäsche lassen die Schwestern den ganzen Menschen in jedem Körperteil nochmal aufleben, würdigen ihn – Glied für Glied.«, so Händl Klaus. Und fährt singend fort:»›Wirbel für Wirbel für Wirbel für Wirbel.‹ Und das ist eine so betörend schöne Musik, mit die schönste im Ganzen. Ein echter, seelenvoller Liebesakt.« Die mikrotonalen Melodiebögen der Oper muten ohnehin öfter wie ein aufs dichteste heruntergekochtes Konzentrat hochromantischer Arien an, in diesem Duett kommt das zum Höhepunkt, hier schreibt Haas in der engen Parallelführung über entrückende Obertonharmonien seinen ganz eigenen Puccini.
Ist Thomas alleine bei sich, hallt das Gesprochene der Mitarbeitenden in seinem Kopf nach. Die Partitur schreibt vor, die Solist:innen sollen in den Orchestergraben, sie sind Teil seines musikalischen Inneren. Er beklagt Banalitäten – eine nie gemachte Krakaureise, ein verschwiegenes Apfelmuserlebnis – aber auch, dass er seinen Geliebten im Wissen um den baldigen Tod schon zu früh als Toten gesehen hat. Die grottesk gezeichnete Sterbebegleiterin Frau Fink wird in ihrer Zuneigung und versuchten Zärtlichkeit körperlich übergriffig gegenüber Thomas und wird von ihm vehement verscheucht —sie “liebt ihren Beruf innig”, aber versteht die Menschen darin nicht. In der Ungläubigkeit seines biblischen Namensvetters braucht Thomas dann eine Weile, ehe er begreift, dass Matthias mit ihm spricht. Er, der bisher nicht im Bühnengeschehen vertreten war, erhebt sich plötzlich aus dem Publikum. Sie besingen in fesselnder Seeligkeit die Speisen, die sie gerne essen würden; Michael – nun mit Erzengelflügeln (in der christlichen Tradition auch himmlischer Pfleger der Kranken) – bringt Minestrone für zwei und die Oper spiegelt den sterbenden Atem des Anfangs mit einem genüsslichem Schlürfduett zum Abschied.
Auch hier noch ein Monteverdi-Anhang als neuen Schluss: Im Lamento d’Arianna lernt Thomas loszulassen und weiterzuleben. Im Gegensatz zum Bluthaus singt diesmal allerdings nicht der Protagonist selbst, doch die Zeilen »Aber bei klarer Luft fährst du hinaus, und ich weine hier. Athen bereitet sich auf dich vor mit frohen, großartigen Festen, und ich bleibe allein, wilden Tieren zum Fraße in einsamer Gegend. Deine beiden Eltern werden dich umarmen« bohren sich wie ein tiefer Schmerz in den letzten Eindruck des Stücks.

In der ersten Ausgabe von Ja, Mai stellt die Bayerische Staatsoper ein überzeugend schlüssiges Gesamtprogramm aus verschiedensten Elementen – Konzerte und Opern werden flankiert von der Vorführung der Filme März, Kater und The Artist & The Pervert – auf die Beine, die Einbindung des Theaterkinos erweist sich als wegweisendes Framingwerkzeug der großen musikdramatischen Wälzer. Gerade das bei der Berlinale 2016 ausgezeichnete Liebesdrama Kater weist in vielen Details eine enge Verwandtsvhaft mit Bluthaus auf. Die Zuschauer:innen und die Nachtkritiken im Feuilleton umjubelten die beiden Opernpremieren zurecht als bisherigen Saisonhöhepunkt, »gut möglich, dass die Spielzeiten der Staatsoper künftig nicht in der Kulinarik der Sommerfestspiele gipfeln, sondern in einem leisen, sinnlichen, berührenden Frühlingsfestival« schreibt der Kollege vom Münchner Merkur. Die Terminverteilung über so viele Tage hinweg erschwert es allerdings den Nicht-Münchner:innen, diese Vielfalt als solche überhaupt wahrzunehmen, wo sich doch gerade in der schlüssigen Kombination das besondere Potenzial einer solchen Künstler:innenfokussierung entfaltet. Diese kommt natürlich auch mit dem Wermutstropfen, dass bei all der proklamierten Demokratie und Emanzipation jede tatsächlich vertretene Diversität ausbleibt. Es wird dann eben auch zum Festival mit einer denkbar schlechten Quote mit keinem Werk nichtweißer, nichtmännlicher Autor:innen.
Georg Friedrich Haas räumte bei der Eröffnung selbst einen Fehler ein: In Bluthaus tritt nach der verheerenden Zerstörung durch die Nachbarn das persische Ehepaar Rahmani auf, die nach ihrer eigenen Fluchterfahrung Nadja mit großem Mitgefühl entgegentreten und den Eurozentrismus des scheinbar unvergleichlichen Schicksals brechen: »Wir kennen ihren Schmerz.« Der Komponist besteht bei Aufführungen darauf, hier ausschließlich Darsteller:innen mit eigenen Fluchterfahrungen sprechen zu lassen, um eine oberflächliche Nachahmung und Aneignung des realen Schicksals zu unterbinden, das habe er im Vorfeld der Münchner Inszenierung vergessen. Um »den Menschen Ohr und Mitgefühl zu leihen« wäre es am besten, sie in Ergänzung zum – wirklich einfühlsamen Text – dann auch selbst zu Wort kommen zu lassen. ¶