Die ganze Geschichte von Gewandhaus und Gewandhausorchester in 40 Jahren DDR passt bei weitem nicht in einen Artikel. Dieser Text konzentriert sich darauf, den Einfluss der alleinherrschenden Partei SED auf die Institution und das Orchester streiflichtartig aufzuzeigen. Nicht näher betrachtet werden:                

1. das Thema Staatssicherheit. Es war seit dem Ende der DDR oft zu erleben, dass die Auseinandersetzung mit dem Unrechtsstaat einzig auf das Thema Stasi reduziert wurde. Dabei gehörte der Geheimdienst mit zum Machtapparat des Ein-Parteien-Regimes und bildet nur einen Aspekt, wenn man die Machtmechanismen der SED-Diktatur ergründen will. Um die Staatssicherheit geht es hier nur am Rande im Zusammenhang mit Kurt Masur. Darüber hinaus nur so viel: Die Zahl sogenannter Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit war in Gewandhaus und Gewandhausorchester sehr gering. Nach den bisherigen Erkenntnissen ist von einem Anteil von etwa zwei Prozent auszugehen.         

2. das Thema Konzertreisen. Natürlich trat das Gewandhausorchester im Ausland als Repräsentant der DDR auf. Und vom Staat wurde es zeitweise als das führende Tourneeorchester angesehen, noch vor den Staatskapellen in Berlin und Dresden. Dass die SED ein besonderes Augenmerk auf die Auslandsaktivitäten legte, liegt auf der Hand.                                              

3. das Thema Staatliche Auszeichnungen (welche bereits im Frühjahr 2017 ausführlich im Gewandhaus-Magazin dargestellt wurden).                      

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist dem Gewandhausorchester kaum etwas geblieben aus vergangenen Zeiten: Seine beiden Hauptspielstätten, das Neue Theater und das Gewandhaus, stehen bloß noch als Ruinen. Die Veranstalterin der Gewandhauskonzerte, die Konzertdirektion, existiert nur noch rudimentär. Der Gewandhauskapellmeister Hermann Abendroth wird aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft entlassen. Von den vielen Orchestermitgliedern, die ebenfalls Parteigenossen waren, erhalten im Zuge der Entnazifizierungsverfahren acht die Kündigung. Aus der Kriegsgefangenschaft kehren zu gleicher Zeit 13 Kollegen zurück ins Orchester. Sieben weitere, die ebenfalls zum Kriegsdienst eingezogen waren, sind gefallen.                               

Erst in jüngerer Zeit hat sich die Psychologie in Deutschland einem lange tabuisierten Feld zugewandt: der Erforschung von individuellen wie auch kollektiven Kriegstraumata. Doch allein schon das, was bisher an Forschungsergebnissen vorliegt, stützt sehr die Vermutung, dass es sich beim Gewandhausorchester nach 1945 um ein traumatisiertes Orchester handelt, in dem sich noch dazu die individuellen Traumata insbesondere der Kriegsheimkehrer mit dem kollektiven Trauma der Daheimgebliebenen mischen.  

Intakt ist das Gefüge der Kirchenmusik, wobei das Orchester auch hier sowohl einen Verlust als auch eine markante Veränderung zu verzeichnen hat: Schon während des NS-Regimes ist die städtische Kirchenmusik in der Nikolaikirche eingestellt worden. Das gemeinsame Musizieren mit dem Thomanerchor unter Leitung des Thomaskantors findet seitdem nicht mehr abwechselnd in den zwei städtischen Hauptkirchen statt, sondern nur noch in St. Thomas. Dort wird erst kriegsbedingt, dann wohl aus ideologischen Gründen der Aufführungsmodus verändert: Thomanerchor und Gewandhausorchester gestalten nicht mehr die Gottesdienste am Sonntagvormittag musikalisch aus, sondern an die Motette samstagnachmittags wird die Aufführung der Kantate angehängt, die bislang im Sonntagsgottesdienst erklang.

Intakt ist auch die Verwaltung des Orchesters. Um die Orchestermitglieder als Angestellte der Stadt kümmert sich das Kulturamt und um die künstlerischen Angelegenheiten insbesondere der Gewandhauskonzerte der neue Oberbürgermeister Erich Zeigner höchstpersönlich. Erstaunlicherweise hat er kein Problem damit, dass die Stiftung »Gewandhaus in Leipzig« ein herrschaftspolitisch motiviertes Konstrukt aus NS-Zeiten ist. Die dem Oberbürgermeister zugedachte Funktion als Kurator, gleichbedeutend mit Aufsichtsratsvorsitzender, übernimmt der kulturaffine Zeigner gern. Und ebenso gern treibt er bald die Auflösung der Gewandhausstiftung voran. Obwohl diese 1947 inkorrekt und satzungswidrig erfolgt, wird die Stadt Rechtsnachfolgerin der Stiftung »Gewandhaus in Leipzig«. Fortan fungiert die Stadt als Veranstalterin der Gewandhauskonzerte, die seit 1947 in der Kongresshalle am Zoo stattfinden.

1952 entsteht die Institution »Gewandhaus zu Leipzig« als Eigenbetrieb der Stadt. Die Gründung verdankt sich den Nebelkerzen, die die herrschende SED in dieser Zeit wirft: Sie bereitet eine großangelegte Verwaltungsreform vor, die zur Zentralisierung der staatlichen Macht, sprich zur Auflösung der fünf Länder führen soll. Propagiert wird jedoch das Gegenteil: Die Reform diene der Dezentralisierung, wird verlautbart. Im Zuge der Maßnahmen, die sich daraus ableiten, erklärt die Stadt Leipzig das Gewandhaus zum städtischen Eigenbetrieb. Als dessen Betriebsleiter fungiert der Gewandhauskapellmeister.

Es ist noch nicht erforscht, ob die »Grundorganisation der SED des Gewandhauses zu Leipzig« zur gleichen Zeit etabliert wird. Bekannt sind lediglich einige Zahlen zur SED-Mitgliedschaft in Verwaltung und Orchester: 1951, ein Jahr vor Gründung des Gewandhauses, sind sechs Gewandhausmusiker SED-Genossen. Zehn Jahre später, 1961, werden sieben SED-Mitglieder in der Institution Gewandhaus genannt, davon gehört nur eines dem Orchester an. 1973 sind es neun Genossen, zwei Jahre darauf zwölf, davon fünf aus dem Orchester. In einem Stasi-Dokument aus dem Jahr 1984 heißt es, dass von 200 Orchestermitgliedern lediglich sieben SED angehören. Wenn man bedenkt, dass etwa 20 Prozent der DDR-Bevölkerung der SED angehören, könnten die genannten Zahlen den Anschein erwecken, dass die SED in Gewandhaus und Gewandhausorchester weit unterdurchschnittlich vertreten ist. Allerdings ist der alleinherrschenden Partei, die sich selbst als »führende Kraft« der Arbeiterklasse deklariert, in den Anfangsjahren gar nicht so sehr daran gelegen, viele Mitglieder aus anderen Schichten als der Arbeiterschaft zu akquirieren. Wichtiger ist es ihr, in wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen die Leitungsebenen mit Genossen zu besetzen. Im Gewandhaus geschieht das 1958 mit der Verpflichtung des SED-Genossen Karl Zumpe zum Direktor der Gewandhauskanzlei beziehungsweise, wie es bald heißt, zum Gewandhausdirektor. Doch Zumpe wird den Erwartungen, die die SED in ihn setzt, nicht vollauf gerecht. Das Machtvakuum, das 1968 mit dem Weggang des Gewandhauskapellmeisters Václav Neumann entsteht, nutzt der SED-Staat, um im Gewandhaus einen linientreuen Genossen als Intendanten zu installieren: Werner Felix. Da sich Felix jedoch in fachlichen Dingen als inkompetent erweist, gelingt es dem 1970 berufenen neuen Gewandhauskapellmeister Kurt Masur ohne größere Schwierigkeiten, ihn ein Jahr später abzusetzen und Karl Zumpe wieder in seine alte Position einsetzen zu lassen.

Václav Neumann dirigiert das Gewandhausorchester in der Kongresshalle Leipzig, 1967

In Vorbereitung auf die Eröffnung und Inbetriebnahme des Neuen Gewandhauses, dessen Bau in wesentlicher Weise von Masur vorangetrieben wird, kommt es Mitte der 1970er Jahre zu einer Vergrößerung der Verwaltung. Spätestens 1977 gibt es drei Direktionsbereiche: die Gewandhausdirektion, die Ökonomie und die Technik. Alle drei Direktoren sind SED-Genossen. Sie sind Masur, dem Staatlichen Leiter des Hauses, nicht aufgezwungen worden. Er hat sie persönlich eingestellt.

Das neue Konzerthaus, das 1981 am Karl-Marx-Platz eingeweiht wird, ist kein Gebäude der Stadt Leipzig. Formal ist der Bezirk Leipzig Auftraggeber des neuen Hauses. Da er aber wie alle DDR-Bezirke keine Autonomie besitzt, sondern nur eine zwischengeschaltete Verwaltungseinheit darstellt, ist in Wahrheit der Staat der Bauherr. Das unterscheidet das neue Haus markant von seinen Vorgängerbauten, dessen ersten die Stadt und dessen zweiten eine bürgerliche Privatgenossenschaft bauen lassen hat. Das Gewandhausorchester hat seinen Sitz heute also in einem Haus, das von SED Gnaden errichtet worden ist.

1995 schreibt der damalige Marketingchef Christian Ehlers in einem Beitrag für das Gewandhaus-Magazin, der dem 25-Jahr-Dienstjubiläum Kurt Masurs gilt: Der Gewandhauskapellmeister sei ein Garant dafür gewesen, dass »das Neue Gewandhaus dem mitunter heftigen Drängen von Staat und Partei standhielt: Sie fanden in den Sälen des Gewandhauses kein Podium für sich.« Was regelrechte Parteiversammlungen, sogenannte Agit-Prop-Veranstaltungen und dergleichen mehr betrifft, hat Ehlers Recht. Jedoch mindestens zweimal pro Jahr findet die SED dennoch ein Podium für sich im Neuen Gewandhaus, und zwar im Rahmen der »Festlichen Konzerte« zu Beginn der Leipziger Frühjahrs- und Herbstmessen. Zu den Gästen der geschlossenen Veranstaltungen, die mit der DDR-Nationalhymne eröffnet werden, zählt die gesamte Staats- und SED-Führung. Und es zählen Diplomaten, Aussteller, Wirtschafts- und sonstige Repräsentanten aus aller Welt dazu. Für die spezielle Gästeschar hat es ehedem am Messevorabend ein Estradenprogramm im Leipziger Opernhaus gegeben. Doch von der Frühjahrsmesse 1982 an gibt es die »Festlichen Konzerte« am Vorabend der Messeeröffnung im Gewandhaus. Auf ausdrücklichen Wunsch der SED-Spitze sind der Gewandhauskapellmeister und das Gewandhausorchester die Künstler dieser Abende. Und sie demonstrieren vor den Augen aller Welt ihre wenn nicht Verbundenheit, so doch Zugehörigkeit zum SED-Staat.

Franz Konwitschny dirigiert das Gewandhausorchester in der Kongresshalle Leipzig, 1951

Gewandhauskapellmeister ist zur fraglichen Zeit Kurt Masur. Die Zugehörigkeit zum SED-Staat bekundet schon dessen Vorvorgänger Franz Konwitschny, der im Jahr der DDR-Gründung 1949 das prestigeträchtige Amt übernimmt. Seit 1937 Parteigenosse der NSDAP und seit 1938 Musikdirektor der Stadt Frankfurt, hatte er 1945 erst in der amerikanischen, dann auch in der britischen Besatzungszone, wohin er gleichsam geflüchtet war, Dirigierverbot erhalten. 1948 wird ihm in Hannover gekündigt; etwa zeitgleich erfährt er, dass der Posten des Gewandhauskapellmeisters in Leipzig vakant ist. Gegen den Willen des Orchesters wird er in das Amt berufen – es heißt, der SED-Vorsitzende und spätere DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl habe sich in besonderer Weise für seine Berufung eingesetzt. Wie dem auch sei, für die Leipziger Behörden wie auch für die Sowjetische Militäradministration erfüllt Konwitschny ein entscheidendes Kriterium: Er ist als einziger aller infrage kommenden Dirigenten bereit, in die sowjetische Besatzungszone umzuziehen und seinen Wohnsitz in Leipzig zu nehmen.

Franz Konwitschny (zweiter von rechts) musiziert mit dem Gewandhaus-Quartett, 19. März 1952

In der DDR wird Konwitschny bald zum ungekrönten Musikpapst. Neben dem Leipziger Amt, das er ab 1949 innehat, leitet er zeitweise und einmal sogar zeitgleich die Staatskapellen und Staatsopern in Berlin und Dresden. 1960 dirigiert er an Stelle des unter Protest zurückgetretenen Thomaskantors Kurt Thomas die traditionellen Aufführungen des Bachschen Weihnachtsoratoriums in der Leipziger Thomaskirche. Er hätte das nicht tun müssen, hätte das dem Interimskantor Hannes Kästner überlassen können. Aber er hat schon zuvor mehrmals Stellen übernommen von Kollegen, die in den Westen gegangen beziehungsweise in der NS-Zeit, als Juden entlassen worden sind. 1961 begrüßt Konwitschny mit einem Statement, das in den Zeitungen der DDR veröffentlicht wird, den Bau der Berliner Mauer. Unter seiner Ägide zieht die SED in Person von Karl Zumpe in eine Leitungsposition am Gewandhaus ein.

1962 stirbt Konwitschny. Sein Nachfolger Václav Neumann sieht sich selbst nur als Übergangsdirigent und will maximal einen Fünfjahresvertrag. Sein Weggang 1968, nach nur vier Jahren im Amt, wird nachträglich als flammender Protest gegen den Einmarsch der Armeen des Warschauer Vertrags in die Tschechoslowakei überhöht werden. Dabei ist Neumann Mitglied der KPČ. Im Kontext der Ereignisse von 1968 gibt er zu Protokoll: »22 Jahre bin ich Mitglied der KPC, zehn Jahre davon mit bewusster, innerer Anteilnahme und Begeisterung. In den letzten Jahren habe ich mich in meiner Partei nicht mehr wohlgefühlt.« Das hindert ihn nicht, ins okkupierte Prag zurückzukehren, wo er seine Karriere ungebrochen fortsetzen kann: Am 1. Oktober 1968, einen Monat nach seiner Abreise aus Leipzig, wird Neumann Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie Prag. Sein Vorgänger im Amt, Karel Ančerl, ist nach der Niederschlagung des Prager Frühlings nach Kanada emigriert. Neumann dagegen, dem zu dieser Zeit ein Angebot aus Hamburg vorliegt, kehrt in die besetzte Tschechoslowakei zurück, die zwangsweise auf sozialistischen Kurs à la Sowjetunion verpflichtet worden ist.

Gewandhauskapellmeister Václav Neumann

1970 tritt Kurt Masur die Nachfolge Neumanns am Gewandhaus an. Er bleibt aber weiterhin Chefdirigent der Dresdner Philharmonie, pendelt ständig zwischen Leipzig, Dresden und dem Wohnsitz in Berlin. Bei einem Autounfall am 26. April 1972 kommen Masurs Ehefrau und zwei weitere Menschen ums Leben, er selbst wird schwer verletzt. Masur ist der Unfallverursacher, sein Mercedes gerät auf die Gegenfahrbahn und prallt mit einem Trabant zusammen. Doch es kommt zu keinem Gerichtsprozess. Die Erklärung des Staatsanwalts habe gelautet, so kolportiert es Johannes Forner in seiner Masur-Biografie, der Dirigent sei mit dem Tod seiner Frau genug bestraft. Wog diese »Bestrafung« den Tod der beiden jungen Leute auf, die in dem Trabant saßen? Das Ausbleiben eines Strafprozesses stößt bei vielen auf Unverständnis und nährt die bis heute nicht entkräftete Spekulation, Masur habe sich auf einen Deal mit dem SED-Staat eingelassen.

Dokumente, die das belegen, sind bislang nicht aufgetaucht, aber der ehemals hochrangige Stasi-Offizier Markus Wolf goss Öl ins Feuer, als er 2002 zu Protokoll gab: »Ich weiß … von unserem prominentesten Dirigenten aus dem Gewandhaus, Masur, daß die Leipziger Staatssicherheit zu ihm die engsten und besten Beziehungen hatte, umgekehrt genauso …« Und Wolf ergänzte: Es habe innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit die Order gegeben, über die Zusammenarbeit mit oberen Parteifunktionären keine geheimen Akten anzulegen; sinngemäß habe diese Order auch für solche hochrangigen Künstler wie Masur gegolten.

1989 ist in die Biografie des Gewandhauskapellmeisters als das Jahr eingegangen, in dem er mutig zu Gewaltfreiheit aufgerufen und damit ein Blutbad in Leipzig verhindert habe. Ende 1989 wurde Masur die Ehrenbürgerschaft der Stadt Leipzig verliehen. Die Stadtverordneten hätten vielleicht anders entschieden, wenn ihnen bekannt gewesen wäre, was Masur schon seit längerem geplant hatte: die Herauslösung des Gewandhausorchesters aus der städtischen Trägerschaft und die Umwandlung zu einem Staatsorchester gleich den Staatskapellen in Berlin und Dresden. Das Gewandhausorchester sollte, so wünschte es der Gewandhauskapellmeister, dem DDR-Kulturministerium beziehungsweise dem Rat des Bezirks Leipzig unterstellt werden. Masur war schon fast am Ziel seiner Wünsche: Im März 1989 wurde in der Abteilung Kultur des Zentralkomitees der SED die Umwandlung des Gewandhausorchesters zu einem Staatsorchester beschlossen, und es wurden erste Maßnahmen eingeleitet. Damit verbunden war jedoch ein weiterer Beschluss: In Dresden und Leipzig sollten Außenstellen der staatlichen Künstler-Agentur eingerichtet werden, um eine bessere Organisation der Konzertreisen der beiden Staatsorchester zu ermöglichen. Dieser zweite Beschluss, bei dem es auch um finanzielle, insbesondere Valuta-Fragen ging, verzögerte die Umsetzung. Letztlich vereitelte die Friedliche Revolution das Vorhaben – und der Dirigent musste sich zähneknirschend darein fügen, wieder mit den städtischen Behörden arbeiten zu müssen. Nicht zuletzt daraus erklärt sich das bis zur Feindseligkeit gespannte Verhältnis zwischen Masur und dem ersten Leipziger Nach-Wende-Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube.

Masurs Vorhaben, aus dem Gewandhausorchester ein Staatsorchester zu machen, kommt aus zwei Gründen eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Erstens hätte er damit das Orchester aus seiner bürgerlichen Tradition gelöst und von seinen städtischen Wurzeln entfernt. Zweitens hat Masur in Zeiten, in denen sich immer mehr Persönlichkeiten vom SED-Regime mehr oder weniger vorsichtig distanzierten – der Prozess begann spätestens mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 –, genau den entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Das Prädikat »Staatsorchester« wäre nicht zum Nulltarif zu haben gewesen. Aber der Gewandhauskapellmeister war offensichtlich bereit, die deutliche und dann sogar organisational verfestigte Nähe zum SED-Staat in Kauf zu nehmen. Im Übrigen lässt die Staatsorchester-Angelegenheit Masurs Rolle im revolutionären Herbst von 1989 in einem etwas anderen Licht erscheinen. Von der wohl schon gefühlten Position des Staatskapellmeisters konnte er auf die Stadt Leipzig herabblicken und ohne größeres Risiko etwa deren Umgang mit dem Straßenmusikfestival vom Juni 1989 kritisieren. Auch dass bei den sogenannten Leipziger Sechs, die am 9. Oktober 1989 den Aufruf zur Besonnenheit unterzeichneten, drei Parteifunktionäre der SED-Bezirksleitung, aber kein Vertreter der Stadt dabei war, stellt sich im Lichte der Staatsorchester-Angelegenheit neu dar.


Im Gewandhausorchester gab es die gleichen Strukturen der gesellschaftlichen Organisation wie in allen Institutionen und Betrieben der DDR: die Einheitsgewerkschaft – den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, FDGB – mit einer Betriebsgewerkschaftsleitung, der BGL; eine SED-Grundorganisation mit einer Parteileitung, an deren Spitze der Parteisekretär stand; eine Gruppe der Freien Deutschen Jugend, FDJ und eine Betriebsgruppe der Gesellschaft der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, DSF.

Die Etablierung dieser Strukturen ging in den 1950er Jahren sehr holprig voran. Erst mit dem Amtsantritt von Karl Zumpe gelang es, das Gewandhausorchester gesellschaftlich »auf Linie« zu bringen. So sehr man Zumpe zugutehalten muss, dass er stets auf Seiten des Orchesters stand und nicht blindlings Parteidoktrinen gefolgt ist, so darf man dennoch nicht übersehen, dass dank ihm die Prinzipien und Strukturen des sogenannten demokratischen Zentralismus im Gewandhausorchester umgesetzt worden sind. Zumpe sorgte gemeinsam mit der Parteileitung und der BGL dafür, dass das Orchester sich an überinstitutionellen Wettbewerben um Titel wie »Kollektiv der sozialistischen Arbeit« oder »Kollektiv der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft« beteiligte und dass auch innerhalb der Institution gewetteifert wurde um Prädikate wie etwa »Bereich der vorbildlichen Ordnung, Sauberkeit und Disziplin«.

Einen Orchestervorstand, wie wir ihn heute kennen, gab es zu DDR-Zeiten nicht. Die Betriebsgewerkschaftsleitung galt als Interessenvertretung gegenüber der Betriebsleitung, wobei die BGL gleichermaßen für die Mitglieder des Orchesters und die Beschäftigten der Verwaltung zuständig war. Wohl erst mit oder nach dem Einzug in das Neue Gewandhaus mit seiner Belegschaft von 239 Beschäftigten in Verwaltung und Technik wurde eine sogenannte Abteilungsgewerkschaftsleitung für das Orchester geschaffen, die sich in ihrem Selbstverständnis als Orchestervertretung sah. Allerdings war die fünfköpfige AGL der BGL untergeordnet. Und deren Vorsitz hatten die DDR-Zeit hindurch Gewandhausmusiker inne, die in den meisten Fällen auch SED-Mitglieder waren.
Man kann sich gut vorstellen, dass es Differenzen zwischen Betriebs- und Abteilungsgewerkschaftsleitung gegeben hat und die BGL darauf bedacht war, die AGL nicht zu mächtig werden zu lassen. Vielleicht auch aus diesem Grund war die AGL nicht zugelassen zu den turnusmäßigen Direktionssitzungen, im Gegensatz zur BGL, die durch ihren Vorsitzenden vertreten war. Der Gewandhausmusiker Uwe Kleinsorge – ein SED-Genosse, der 1984 BGL-Vorsitzender wurde – hatte es durchgesetzt, dass er an den Direktionssitzungen teilnehmen durfte. Kleinsorge kannte, wie sich aus den Protokollen ersehen lässt, Masurs Wunsch, aus dem Gewandhausorchester ein Staatsorchester zu machen. Die AGL dagegen – und damit das ganze Orchester – war wohl nicht in die Pläne eingeweiht. Zumindest konnte sich Hartmut Brauer, der damalige AGL-Vorsitzende, auf jüngst erfolgte Nachfrage nicht erinnern, seinerzeit davon gehört zu haben.                    

Dennoch dürfte das Orchester damit nicht entlastet zu sein. Politische Indifferenz, die man ihm sicher über weite Strecken bescheinigen kann, schützt nicht vor Vereinnahmung. Und wenn sich die Geschichte des Gewandhauses und seines Orchesters in der DDR am Ende in einem einzigen Satz resümieren lässt, dann offenbart sich darin eine sicher ungeliebte Wahrheit: Das Gewandhaus und mit ihm das Gewandhausorchester waren in der DDR auf bestem Wege zu einem Staatsbetrieb respektive einem Staatsorchester. ¶


Der Beitrag beruht auf einem Referat des Autors bei der 5. Sitzung der Gewandhaus-Arbeitsgruppe »Demokratie« am 12. Februar 2020.

Claudius Böhm, Jahrgang 1960, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Gewandhaus zu Leipzig, Leiter des Gewandhausarchivs und Chefredakteur des Gewandhaus-Magazins. 2018/19 erschien seine ›Neue Chronik des Gewandhausorchesters‹ in zwei Bänden.