Die Musiker des Gewandhausorchesters waren in der NS-Zeit Angestellte der Stadt und zum großen Teil verbeamtet. Die meisten Musiker gehörten der NSDAP an. Das geht aus Schreiben des Orchestervorstands hervor. In einem heißt es, das Stadtorchester bestehe »zum allergrößten Teil aus Nationalsozialisten«, in einem anderen ist konkret von »82 Nationalsozialisten des Stadt- und Gewandhaus-Orchesters« die Rede. Das Orchester hatte zu dieser Zeit 97 Mitglieder.
Dem einzigen jüdischen Musiker im Orchester, dem Konzertmeister Leo Schwarz, wurde das Leben durch die eigenen Kollegen schwer gemacht. Am 7. April 1933 trat das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« in Kraft. Darin hieß es unter anderem: »Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand … zu versetzen.« Leo Schwarz ist auf Grundlage dieses Gesetzes am 8. April 1933 beurlaubt worden. Da das neue Gesetz jedoch nicht für Personen galt, die »im Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft haben«, erhielt Leo Schwarz drei Tage später die Aufforderung, seinen »Dienst umgehend wieder aufzunehmen«. Leo Schwarz wird froh darüber gewesen sein, doch ausgerechnet aus dem Kollegenkreis wurde nachgetreten. Der Orchestervorstand schrieb zwei Monate später an die Stadt: »Es widerspricht dem Grundsatz der nationalsozialistischen Weltanschauung, daß der jüdische Konzertmeister Leo Schwarz an Sonn- und Feiertagen in der Thomas- und Nicolaikirche musikalischen Kirchendienst und anschließend Kantatendienst versieht. 82 Nationalsozialisten des Stadt- und Gewandhaus-Orchesters bitten daher, diesen Pflicht-Passus aus dem Anstellungsvertrag des Herrn Konzertmeister Schwarz zu streichen.« Daraufhin wurde Leo Schwarz tatsächlich vom Kirchendienst entbunden, ein Jahr später in den Zwangsruhestand versetzt und im November 1938 ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Im Dezember 1938 konnte er in die USA emigrieren, wo es ihm jedoch nicht gelang, seine Musikerkarriere wieder auf einen ähnlichen Stand wie in Leipzig zu bringen. 1962 starb er in New York.

Wir wissen nicht, ob der Brief des Orchestervorstands tatsächlich im Namen jener »82 Natio- nalsozialisten des Stadt- und Gewandhaus-Orchesters« geschrieben worden ist, wir wissen auch nicht, wie sich die Kollegen im Einzelnen gegenüber Leo Schwarz verhalten haben. Es ist nur überliefert, dass sich immerhin einer – der Stimmführer der zweiten Geigen, Gustav Link – für Schwarz eingesetzt und mit diesem Kontakt gehalten hat. Das Verhalten des Orchesters, repräsentiert durch dessen gewählten Vorstand, kann damit allerdings nicht entschuldigt werden. Die Sache Leo Schwarz als Einzelfall oder als Einzelaktion des Orchestervorstands abzutun, dürfte verfehlt sein. Im Gegenteil steht sie wohl paradigmatisch für das Verhalten und die Einstellung des Gewandhausorchesters in der NS-Zeit. So verwundert auch nicht, wenn kein Hinweis zu finden ist, dass sich das Orchester in irgendeiner Form eingesetzt hätte für zwei jüdische Dirigenten, als diese entlassen respektive aus ihren Ämtern vertrieben wurden. Gemeint sind der Gewandhauskapellmeister Bruno Walter und der Generalmusikdirektor der Oper Leipzig Gustav Brecher. Immerhin, könnte man meinen, sind die Orchestermusiker in beiden Fällen nicht selbst aktiv geworden, wie es bei Leo Schwarz geschehen ist. Allerdings schreibt Brecher in einem Brief aus jener Zeit, dass auch Orchestermusiker unter all denen seien, die ihm gegenüber jetzt »den Zeitpunkt der ›Rache‹ gekommen« sähen.
Im September 1935 spielte das Gewandhausorchester im Nürnberger Opernhaus zur Eröffnung der Kulturtagung, die im Rahmen des NSDAP-Reichsparteitags stattfand, und umrahmte die Ansprachen und Reden unter anderem von Adolf Hitler. Auf diesem Parteitag wurden die berüchtigten »Nürnberger Gesetze« beschlossen, zu denen neben anderen das vor allem gegen die Juden gerichtete »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« gehörte.
Im Juli 1937 wurde mit einem Festakt der »Tag der deutschen Kunst« in München eröffnet. Wieder war es das Gewandhausorchester, das diesen von Partei- und Regierungsgrößen besuchten Festakt musikalisch gestaltete. In die Geschichte eingegangen ist der »Tag der deutschen Kunst«, weil in dessen Rahmen die Femeschau »Entartete Kunst« eröffnet worden ist. Zehn Monate später, im Mai 1938, fanden die ersten Reichsmusiktage in Düsseldorf statt, bei der die Femeschau »Entartete Musik« ihre Vernissage erlebte. Im Festkonzert jener Reichsmusiktage spielte nicht das Gewandhausorchester, sondern das Berliner Philharmonische Orchester – unter Leitung des Gewandhauskapellmeisters Hermann Abendroth. Im Publikum saß in der ersten Reihe Joseph Goebbels. Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda bevorzugte das Berliner Orchester, wie aus mehreren Tagebucheinträgen hervorgeht. Zum Beispiel hatte er am 2. März 1937 in Leipzig das Gewandhaus-Messesonderkonzert besucht und darauf in seinem Tagebuch notiert: »Das Gewandhaus-Orchester spielt unter Abendroth sehr gut. Natürlich keine Philharmonie.« Als das Gewandhausorchester 1935 in Nürnberg auftrat, geschah dies als Ersatz für die Berliner Philharmoniker. Gleiches ist für 1937 in München zu vermuten. Dennoch berichtete der neue Obmann des Orchesters, der Pauker Alfred Seifert, in einer Festschrift von 1940 stolz von diesen und weiteren politischen Veranstaltungen, die das Gewandhausorchester »auf Veranlassung höchster Stellen« musikalisch umrahmt habe, und schreibt: »Diese ehrenvollen Berufungen können gebucht werden als ein Beweis für die Wertschätzung durch den Führer.«
»Die Wertschätzung durch den Führer« respektive dessen Propagandaminister spiegelte sich auch darin, dass Hitler und Goebbels das Gewandhausorchester auf ihre »Gottbegnadeten- Liste« setzten, als eines von nur neun Orchestern. Dem Platz auf der Liste verdankte das Gewandhausorchester, dass es von Stilllegung verschont blieb, seine Mitglieder vom Kriegsdienst freigestellt wurden und auch nach der Schließung sämtlicher Theater am 1. September 1944 weiter konzertieren durften.
Welches Resümee wäre zu ziehen? Am schwersten wiegt wohl die Sache Leo Schwarz. Das Nachtreten des Orchestervorstands geschieht knapp 20 Wochen nach der Machtübernahme durch das NS-Regime und lässt nur zwei Schlüsse zu: Entweder hat sich das Orchester im Lauf von vier Monaten dem neuen System in Windeseile angepasst, oder es trägt die Sympathie für dessen Ideologie schon eine Weile in sich. Auch nur die Spur einer Distanz zum NS-Regime, gar irgendeine widerständige Haltung oder Aktion können dem Orchester nach bisherigem Kenntnisstand nicht bescheinigt werden. Was freilich nicht ausschließt, dass es Distanz oder gar Widerstand bei und von einzelnen Orchestermitgliedern gegeben hat.
Ob sich im Gewandhaus-Direktorium zu Beginn der NS-Herrschaft Parteigenossen der NSDAP befanden, ist nicht bekannt. Wir wissen aber, dass die NSDAP-Kreisleitung Leipzig dem Direktorium am 30. März 1934 attestierte, es besäße »keinen nationalsozialistischen Charakter«. Den bekam es in der Folgezeit jedoch nicht nur von außen aufgezwungen. Im Mai 1934 wurde ihm eine sogenannte Arbeitsgemeinschaft angegliedert, wobei der Begriff »Arbeitsgemeinschaft« nur verschleiern sollte, dass es sich bei dem dreiköpfigen Gremium um ein Kontrollorgan der NSDAP-Kreisleitung handelte. Ihm gehörten der NSDAP-Kreisleiter, der Leiter der Politischen Abteilung der Polizei Leipzig – die 1937 in die Gestapo umgewandelt wurde – sowie der Kulturdezernent der Stadt Leipzig und Leiter der NS-Kulturgemeinde an. Vor der Etablierung der sogenannten Arbeitsgemeinschaft hatte sich das Direktorium allerdings schon selbst bemüht, Parteigenossen in seinen Kreis aufzunehmen, was jedoch nur zum Teil gelungen war.
Wir wissen von einzelnen Mitgliedern des Direktoriums, dass sie später in die NSDAP eintraten, beispielsweise der Reichsgerichtspräsident Erwin Bumke oder der Verlagsinhaber von Breitkopf & Härtel Hellmuth von Hase. Letzterer gehörte überdies der SA an, der paramilitärischen Kampforganisation der NSDAP, und bekleidete dort den Rang eines Obertruppführers. Das ist allein schon deswegen bemerkenswert, weil Hase 1936 Vorsitzender des Gewandhaus- Direktoriums wurde und es bis 1939 blieb.
Wir wissen schließlich, dass das Direktorium 1940 auch formell seine Unabhängigkeit verlor, und zwar mit der Gründung der Stiftung »Gewandhaus in Leipzig«. Mit dieser Stiftungsgründung wurde das Direktorium quasi entmachtet und dem Oberbürgermeister der Stadt Leipzig unterstellt. All sein Vermögen inklusive dem Konzerthaus floss in die Stiftung ein. Bereits wenige Wochen nach der Stiftungsgründung gab es einen heftigen Streit bei einer Direktoriumssitzung. Richard Falb – Stadtrat, Cellist im Sinfonieorchester Leipzig und NSDAP-Mitglied – verlangte die Abhängung der Ehrentafeln im Gewandhaus, weil auf ihnen die Namen von Juden wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Ferdinand David oder Ferdinand Hiller stünden. Falb hatte sich schon 1936 für diese »Säuberungsaktion« stark gemacht, damals gehörte er allerdings noch nicht dem Direktorium an und war mit seinem Ansinnen daran gescheitert, dass das Gewandhaus nicht der Stadt unterstand. Der erneuten Forderung Falbs im November 1940 widersetzte sich der neue Direktoriumsvorsitzende Anton Kippenberg zunächst mit Erfolg. Da das Gewandhaus jetzt aber der Stadt gehörte, dürfte dieser Erfolg auf tönernen Füßen gestanden haben. Wir wissen jedoch nicht, was am Ende mit den Ehrentafeln geschehen ist, wir wissen auch nichts über das Schicksal der Mendelssohn-Büste im Kleinen Saal des Hauses. Immerhin zeigt diese Episode: Es gab im Gewandhaus-Direktorium durchaus Widerstand gegen das Regime. Wobei nicht unbedingt eine generelle Gegnerschaft zur herrschenden Ideologie des Nationalsozialismus bestanden haben muss, sondern es möglicherweise eher darum ging, die Unabhängigkeit des Gewandhauses zu verteidigen und zu erhalten. Den Kampf um diese Unabhängigkeit verlor das Direktorium – wie seinerzeit schon den Kampf gegen das Auftrittsverbot für Bruno Walter.
Bruno Walter war gleich zu Beginn der NS-Herrschaft aus dem Amt gedrängt worden,und das nicht etwa mit der offiziellen Begründung seiner jüdischen Abstammung. Stattdessen wurde argumentiert, die »öffentliche Sicherheit« sei in Gefahr, wenn ein Konzert mit Walter stattfände. Es dürfte zu den rühmlichen Kapiteln in der Geschichte des Gewandhaus-Direktoriums zählen, wie leidenschaftlich sich das Gremium gegen den staatlichen Eingriff zu wehren versucht hat – wenn auch vergebens. Dem Direktorium wurde gleich zu Beginn des neuen Regimes die eigene Machtlosigkeit vor Augen geführt. Dieses Erlebnis dürfte sich in das Denken und Handeln der Gewandhausdirektoren eingebrannt haben.

Umso wichtiger wurde daher die Frage, wer als Nachfolger Bruno Walters berufen würde. Dass sich das Direktorium gegen den Präsidenten der Reichsmusikkammer Richard Strauss und den Kulturstadtrat Friedrich August Hauptmann durchsetzte und nicht deren, sondern einen eigenen Kandidaten ins Amt holte, mag die erlittene Schmach in Sachen Bruno Walter etwas gelindert haben. Hermann Abendroth wurde Gewandhauskapellmeister. Als er 1934 nach Leipzig kam, war er noch kein Parteimitglied. Ein Amt in einer NS-Institution hatte er aber schon inne: Er war in der Reichsmusikkammer Leiter der Fachschaft Musikerzieher und Chorleiter. Außerdem gehörte er dem Verwaltungsrat der Reichsmusikkammer an. 1937 wurde seinem Antrag auf Aufnahme in die NSDAP stattgegeben.
Vor seinem Wechsel nach Leipzig war Abendroth in Köln Städtischer Generalmusikdirektor. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten sah er sich dem Vorwurf ausgesetzt, »er habe im Laufe der Jahre zu viel jüdische Künstler engagiert, zu viel ausländische oder jüdische Werke gebracht«. Außerdem wurden ihm seine Gastspiele in der Sowjetunion angelastet. In Leipzig jedoch erklärte sich die NSDAP-Kreisleitung mit seiner Wahl zum Gewandhauskapellmeister »restlos einverstanden«. Von Leipzig aus entfaltete Abendroth eine ausgedehnte Gastdirigententätigkeit, die ihn nach 1939 auch in Gebiete führte, die von der deutschen Wehrmacht besetzt worden waren. Zeitweise hatte er neben seinem Amt am Gewandhaus noch andere Chefpositionen inne, unter anderem beim Orchester der kulturpolitischen Abteilung der NSDAP-Kreisleitung Leipzig. Von Hitler erhielt er den Titel Staatsrat und schließlich einen Platz auf der »Gottbegnadeten-Liste«.
War Hermann Abendroth ein Nationalsozialist oder nur ein Opportunist? Oder einer, der sich ähnlich wie Wilhelm Furtwängler vor allem als apolitischer Musiker verstehen wollte? Eine Biographin schrieb, bei Abendroth sei in dieser Zeit eine »Tendenz innerer Emigration zu spüren«. Dennoch kann nicht einfach übergangen werden, dass sich Abendroth zumindest in seinen Handlungen und Äußerungen als ein dem NS-System nahestehender Künstler zeigte.
Auch wenn der Gewandhauskapellmeister in jener Zeit eine andere Rolle spielte als später etwa Franz Konwitschny oder Kurt Masur, so galt er dennoch als Repräsentant der Gewandhauskonzerte, für die Leipzig international berühmt war. Insofern gehört Hermann Abendroth unabdingbar mit dazu, wenn wir danach fragen, wie sich das Gewandhaus und das Gewandhausorchester in der Zeit des Nationalsozialismus verhalten haben, wie sie in das System integriert waren oder auf Distanz zu diesem gingen.