Von 2011–2013 habe ich in Basel bei Georg Friedrich Haas studiert, bevor er nach New York gezogen ist, wo er an der Columbia University Komposition lehrt. Bei meinem Abschlusskonzert kam ein Musiker zu spät, außerdem ging ein Instrument, das ich selbstgebaut hatte, kaputt; es fiel mir schwer, das – übrigens sehr wohlwollende – Publikum überhaupt anzusehen. Er brachte mich dazu, dass ich es doch schaffte. Unsere letzte gemeinsame Unterrichtsstunde war danach dem Thema Selbstvertrauen gewidmet.Vielleicht sprach er dabei auch von einer Veränderung bei sich selbst. Seine neue Ehefrau und Partnerin Mollena Lee Williams-Haas drückte es in ihrer Rede bei den ›Playground Sexuality Events‹ jedenfalls so aus: »He is freshly out as a kinky person.«Wir sprachen am Telefon und per Mail über das, was neu ist, und wie es sein Leben und seine Musik beeinflusst.

VAN: Vor diesem Gespräch hast du mir geschrieben, dass du heute ein anderer Mensch bist als der, den ich in Basel kannte. Was meintest du damit?

Georg Friedrich Haas: Ich habe durch viele Jahrzehnte hindurch versucht, meine sexuelle Veranlagung zu unterdrücken, weil ich sie abgelehnt und als unmoralisch empfunden habe. Dann habe ich mich entschieden, sie auszuleben. Ich hatte das große Glück, eine Partnerin zu finden, mit der ich das im gegenseitigen Einverständnis tun kann. Und dass ein schweres Gewicht, das mich über Jahrzehnte hinweg belastet hat … , dass das jetzt plötzlich nicht mehr da ist – das ändert etwas sehr Grundsätzliches.

Wie hast du Mollena, deine Frau, kennengelernt?

Der Anfang war äußerst unromantisch. Es war über das Internet, und nicht einmal eine Spezialseite, sondern ganz normal, es war ›OkCupid‹.

Ihr tragt eure Sexualität in die Öffentlichkeit.

Ja, sie geht damit offen um, und ich als ihr Partner komme dadurch natürlich auch automatisch mit in die Öffentlichkeit hinein. Das ist auch ein Bestandteil meiner Veränderung: Ich brauche mich nicht mehr wegen dieser Veranlagung zu schämen, und ich habe auch kein Problem mehr damit, wenn darüber öffentlich gesprochen wird. Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen: Ich habe vier Jahrzehnte lang etwas Zentrales unterdrückt. Ich hatte währenddessen drei Ehen, die zum Scheitern verurteilt waren, obwohl die Frauen zum Teil ganz großartige Menschen waren. Meine drei Kinder haben einen Vater, dessen Interessen mit traditionellem Familienleben unvereinbar sind. Mein Leben und auch das Leben von Menschen, die mir sehr wichtig sind, wäre besser gewesen, wenn ich diese Veranlagung nicht unterdrückt hätte. Wenn ich jetzt damit an die Öffentlichkeit gehe, dann auch, weil ich Menschen, die ein paar Jahrzehnte jünger sind als ich, ermutigen will, zu dem zu stehen, was sie in sich fühlen. Dass sie nicht so wie ich versuchen, ihre Gefühle jahrzehntelang zu unterdrücken.

Inwieweit wirkt sich diese neue Offenheit auf dein Schaffen aus?

Ich kann heute so viel schreiben wie noch nie in meinem Leben und fühle mich dabei viel leichter, viel wohler, viel konzentrierter als früher. Ich benötige das Komponieren nicht mehr als eine Psychotherapie. Es ist zu einem spirituellen Akt geworden, bei dem ich durch das Eintauchen in die Klangwelt in Bereiche vorstoße, die andere Menschen in der Religion finden. Ich kann mein Leben jetzt vollkommen auf die Musik fokussieren. Meine Partnerin ist submissiv, das heißt, sie ordnet meinen Wünschen und der Art, wie ich leben will, ihre eigenen Vorstellungen unter. Das hat den Nebeneffekt, dass ein Mensch neben mir ist, der mir alle Probleme des täglichen Lebens abnimmt. Dadurch habe ich die Möglichkeit, mich zu 100 Prozent – oder sagen wir 80 Prozent – meiner Komposition zu widmen. Der Rest ist Privatleben und das Unterrichten.

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Georg Friedrich Haas, Streichquartett No. 2 (1998), Kairos Quartett

Hängen diese Veränderungen in deinem Leben auch mit deinem Umzug nach New York zusammen?

Ja, damit hängen natürlich viele Dinge zusammen. Zunächst war da die ehrliche Freude über die Anerkennung, an einer der besten Universitäten der Welt lehren zu dürfen. Der Umzug hatte auch eine Veränderung in der Lebensqualität zur Folge: Die Arbeit und das Leben in New York, mit dieser unendlichen Freiheit, die es bietet, das schuf mir von Anfang an die Möglichkeit, klarer und konzentrierter zu arbeiten als je zuvor.

Mich interessiert, ob es einen Zusammenhang zwischen dem häufigen Alleinsein beim Komponieren und einer besonders intensiven Sexualität gibt: nicht nur bei dir, sondern auch bei anderen Komponisten wie zum Beispiel Claude Vivier.

Zunächst einmal müssen sich Alleinsein und Sexualität ja nicht ausschließen. Um ehrlich zu antworten: Ich glaube nicht, dass sich meine sexuelle Frequenz wesentlich geändert hat – vielleicht schon – aber das ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist, dass ich keine Zeit mehr damit vergeude, eine ideale Partnerin zu suchen. Das ist der Unterschied zwischen einer funktionierenden und einer nicht funktionierenden Partnerschaft. Und es geht nicht so simpel: Je mehr man ejakuliert, desto mehr komponiert man (lacht). Im Gegenteil. Ich mag die Musik von Hans Werner Henze nicht. Ich finde sie kalt, glatt, sie spricht mich nicht an. Irgendwann habe ich in seiner Autobiographie gelesen, dass er nur komponieren konnte, wenn er keinen sexuellen Druck in sich verspürte. Und mein böser Gedanke dazu war, ja, das hört man. (lacht)

Gibt es andere Komponisten, bei denen du die Sexualität als besonders wichtig empfindest?

Auf jeden Fall Schubert.

Aber ich denke, wir sollten uns zunächst einmal die Frage stellen: was heißt eigentlich Sexualität? Sexualität ist ja nicht nur das, was mit dem Geschlechtsorgan passiert – sondern viel umfassender. Ich möchte hier nicht über die Sexualität von Komponistinnen sprechen, das geht nicht, aber ich denke für viele männliche Komponisten war Musik der Ersatz für den realen Partner oder die reale Partnerin.

Ich war in Darmstadt, ich glaube 1996, wo eine amerikanische Musikwissenschaftlerin über Sexualität und Musik gesprochen hat. Sie wies nach, dass es eine Analogie gibt zwischen den Formprinzipien klassischer Musik und dem männlichen sexuellen Akt, beziehungsweise dem männlichen Orgasmus: Vorspiel, Aufbau der Spannung, Entladung im Höhepunkt, postkoitale Coda. Es ist kein Zufall, dass gerade die Wiener Schule den ›Höhepunkt‹ explizit einforderte: Otto Weininger lässt grüßen. Die Realität der Kompositionen Neuer Musik entspricht allerdings nicht so ganz diesem Geschlechterschema. In der Diskussion einigten wir uns darauf, dass die weiblichste Musik, die in den Darmstädter Konzerten zu hören war, von Morton Feldman stammte. Und die männlichste von Olga Neuwirth.

Mollena Lee Williams-Haas und Georg Friedrich Haas bei den Proben zur Oper Morgen und Abend am Royal Opera House, London. Dazu Mollena: »That was during rehearsals for Morgen und Abend this winter. And taken immediately after one of the many, many, conflicts between Georg and the conductor and the non-singing lead (who shall remain nameless. Nameless and Austrian), and I was feeling particularly fierce and determined.« · Foto MOLLENA LEE WILLIAMS-HAAS
Mollena Lee Williams-Haas und Georg Friedrich Haas bei den Proben zur Oper Morgen und Abend am Royal Opera House, London. Dazu Mollena: »That was during rehearsals for Morgen und Abend this winter. And taken immediately after one of the many, many, conflicts between Georg and the conductor and the non-singing lead (who shall remain nameless. Nameless and Austrian), and I was feeling particularly fierce and determined.« · Foto MOLLENA LEE WILLIAMS-HAAS

Hast du selber mal versucht, sexuelle Ereignisse in deine Musik zu komponieren?

Ja. 1989. Ich ließ einfach ein Tonband mitlaufen – meine Geliebte war recht laut. Das Timing ihrer Klänge wollte ich in Musik übertragen, der klangliche Verlauf sollte dadurch getriggert werden. Dann hatten wir einen Konflikt und sie löschte das Band. Ich schrieb das Werk dann in Erinnerung an den Rhythmus ihrer Lustschreie. Das Stück ist total missglückt. (Es steht heute nicht mehr in meiner Werkliste.) Und ich begriff: Eine Eins-zu Eins-Übertragung von Sex in Musik – das funktioniert nicht.

Wie behandelst du Sexszenen in deinen Opern?

Es funktioniert gut in Die schöne Wunde, aber dort singe ich nur von den Emotionen, nicht vom Akt an sich. Gerade habe ich in KOMA (die Oper wird im Mai bei den Schwetzinger Festspielen uraufgeführt, d. Red.) eine Szene geschrieben, die in absoluter Dunkelheit gesungen wird: Der Ehemann und der Liebhaber singen ein leidenschaftliches Duett, und die Adressatin dieser Leidenschaft schweigt, sie liegt im Koma – ja, so kann ich Sexszenen schreiben. Aber bei Bluthaus wurde es schwierig: Hier gibt es eine reale Szene zwischen Nadja und dem Makler, dann kommt der tote Vater als Dritter dazu – ich wollte dieses Geschehen unmittelbar in Musik setzen, aber das Ergebnis hat mich nicht glücklich gemacht. Ich musste eine neue Version schreiben, in der jetzt der spirituelle Hintergrund stärker thematisiert wird als die Motorik des Aktes.

Ein anderer Bereich, wo du Ereignisse deines Lebens in Stücke übertragen hast, ist die Politik. Mir fallen als Beispiele dafür In Vain oder I Can’t Breathe ein. Hast du dort dieselben Probleme gehabt wie bei der Sexualität?

Ja. Eigentlich hatte ich mich entschieden, keine politische Musik mehr zu schreiben. Weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass die Sprache der Musik dazu ungeeignet ist. Wenn ich politisch argumentiere, dann gibt es immer Persönlichkeiten, gegen die ich etwas ausspreche. In der Musik ist es aber unmöglich, direkt gegen jemanden zu sprechen. In dem Augenblick, in dem ich irgendetwas Musik gebe, identifiziere ich mich damit. Auch wenn ich es innerlich zutiefst ablehne.

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MARCO BLAAUW (TROMPETE) SPIELT »I CAN’T BREATHE« (2014) VON GEORG FRIEDRICH HAAS, KONZERTAUSSCHNITT, AUFZEICHNUNG AUS DER KÖLNER PHILHARMONIE VOM 8. FEBRUAR 2015

Was hat dich dann dazu bewogen, I Can’t Breathe zu komponieren?

Ich habe erst in New York begriffen, was für ein großes Problem der Rassismus gegen Menschen dunkler Hautfarbe darstellt. Ich kannte zwar die Geschichte des amerikanischen Rassismus, aber wenn man dann in New York lebt, ergibt das ein ganz anderes Bild. Mehrere Vorfahren meiner Frau wurden verschleppt. Wenn ich alleine in einer leeren Straße in New York gehe, fürchte ich mich vor einem kriminellen Akt, dass jemand mich ausraubt oder so etwas. Würde aber meine Frau dort gehen, würde sie sich vor allem vor der Polizei fürchten. Ich wohne in einem wunderschönen Appartement mit einem schönen Ausblick auf den Hudson. An einem Abend sah ich aus dem Fenster, und da waren 200 Polizeiautos mit blinkendem Rotlicht. Eine Großdemonstration von ›Black Lives Matter‹ fand direkt vor unserem Haus statt. Augenblicklich wollte ich hinuntergehen, mitdemonstrieren – aber ich begriff, dass das nicht meine Sprache war, nicht meiner Persönlichkeit entsprach. Zu dieser Zeit arbeitete ich gerade unter starkem Zeitdruck an Morgen und Abend; ich entschied mich, diese Arbeit zur Seite zu legen und I Can’t Breathe zu komponieren. Es war mir wichtig, den Tätern keinen Ton, nicht mal eine Pause zu geben. Keinen Punkt. Nichts.

Neben dem politischen – oder besser gesagt, neben dem menschlichen Aspekt dieses Stückes – gibt es rein musikalische Prinzipien in diesem Werk, mit denen ich mich seit etwa zwei Jahren beschäftige: dem Versuch einer Melodik, die auf extrem kleinen Intervallen basiert. In I Can’t Breathe beginne ich im traditionellen zwölftönigen System, lasse die Trompete einen Trauergesang beginnen, dessen Raum dann immer mehr eingeengt wird: Aus Halbtönen werden Drittel-, Viertel-, Achtel-, Zwölftel- und zuletzt Sechzehnteltöne.

Erlaube mir, das Thema zu wechseln und einen ganz anderen Gedanken zu formulieren, in dem die Beziehung zwischen Sexualität und Musik spürbar ist. Zu Beginn meiner persönlichen Entwicklung als Komponist organisierte ich meine Musik durch abstrakte Prinzipien. Der Begriff ›seriell‹ würde zu kurz greifen, ich setzte komplexe mathematische Prozesse in Klang. Bei den Aufführungen bemerkte ich mit großer Überraschung, dass diese Musik trotz ihres abstrakten Entstehungsprozesses eine große emotionale Wirkung hatte. Ich war der Meinung, die Energie der Konstruktionen, die Kraft des mathematisch organisierten Materials würde direkt auf die Musik wirken. Allerdings musste ich feststellen, dass Rechenfehler und Irrtümer die Wirkung in keiner Weise verringerten.

Nacht-Schatten war in den 1990er Jahren mein erfolgreichstes Stück. Ich habe es am Home-Computer erarbeitet. Dann machte einer meiner Studenten eine Analyse davon und fand circa 250 schwerwiegende Fehler. Es ist klar warum: Wenn man 10.000 Zahlen von flimmernden Bildschirmen abschreibt, dann kann man nicht vermeiden, dass zweieinhalb Prozent davon falsch sind. Das Stück aber hat trotzdem voll und ganz funktioniert. Und das ist irgendwie unerklärlich. Weil diese Fehler ja keine bewussten Veränderungen waren.

Was meinst du woran das lag?

Ich fand die Antwort in einem Bonmot von Robert Mapplethorpe, der meinte, die Buchstaben SM bedeuten Sex und Magie. Die Magie der freiwilligen Unterwerfung. Als Komponist war ich der master. Die Interpreten und Interpretinnen waren meine slaves. Sie unterwarfen sich den Anweisungen meiner Partitur. Freiwillig. Sie mussten sinnlose Dinge tun. Aber sie taten sie präzise. So wie in einem sadomasochistischen Ritual bestimmte Bewegungen oder Aktionen durch die submissiven Personen durchgeführt werden müssen, ohne dass sich der Sinn dieser Handlungen unmittelbar erschließt. Was sich emotional auswirkt, ist der bloße Akt der Unterwerfung. Diesem Akt liegt eine geradezu spirituelle Energie inne. Ich entschied mich, nicht diesen bequemen Weg zu gehen. Die Wirkung meiner Musik soll nicht das Ergebnis der Anspannung von Menschen sein, die verzweifelt versuchen, unter Aufbringung aller ihrer Kräfte das Notierte umzusetzen. Sondern einzig und allein das Ergebnis der Kraft der von mir komponierten Klänge.

Ich habe eine letzte Frage. Als ich bei dir in Basel studiert habe, bist du zum Komponieren oft in eine Hütte im Schwarzwald geflüchtet. Machst du das immer noch?

Daheim! Um Gottes Willen! Früher musste ich in irgendeine Hütte flüchten, jetzt komponiere ich zu Hause. Bei Mollena. ¶