In letzter Zeit tauchen neben den großen Streamingservices wie Spotify, Apple Music und Google Play immer wieder kleinere auf, die sich explizit der klassischen Musik widmen, dem Hörer oder den Künstlern eine feinere, würdigere Behandlung oder einfach das bessere Erlebnis versprechen. Holger Noltze wiederum hat in seinem Buch Die Leichtigkeitslüge so etwas wie ein Plädoyer für Belastung, Anstrengung und Geduld in Sachen Kunst und vor allem klassische Musik Entdecken geschrieben. Hat das was mit Streaming zu tun? Wir werden sehen. Hat Holger Noltze was mit Streaming zu tun? Ja, weil er gerade an einem Projekt in Sachen kuratiertes Musikstreaming beteiligt ist. Also, was wollen die Leute, und was tut ihnen überhaupt gut? 


VAN: Ist  die Wirkung der Streamingservices – gerade für die Kunstmusik – einfach noch oberflächlichere Rezeption? Kommt da mehr raus als die ›freundlich-übersichtliche Anfangserfahrung‹, um aus deinem Buch Die Leichtigkeitslüge zu zitieren? 

Holger Noltze: Es ist ja nicht gesagt, dass das Auflegen einer Platte oder das Abspielen einer CD zerstreute Wahrnehmung ausschließt. Das ist einfach ein Modus der Rezeption unserer Gegenwart, das kommt von allen Seiten. Zu sagen ›das Streaming ist schuld, weil es das so einfach macht‹, halte ich für einen Fehlschluss. Ja, wir sind zerstreut, aber das liegt nicht am Medium. Beim Buchdruck hat die Kirche auch Sittenverfall gefürchtet, aber es ist Kunst entstanden, Don Quijote etwa, eine medienkritische Satire und große Literatur. 

Ich kann ja auch konzentriert und ausführlich zuhören beim Streaming. Trotzdem habe ich zusätzlich noch die Möglichkeit, mal ganz kurz irgendwo reinzuhören; das halte ich erst mal für lehrreich. Wenn man das ästhetische Ereignis wichtig findet, die Musik, dann ist doch so etwas wie der Vergleich von Aufnahmen – auch ganz schnell hintereinander – ein Verfeinerungsboost! Diese Allverfügbarkeit halte ich in Bezug auf die klassische Musik für immer noch nicht genug gewürdigt. Man spricht ja immer vom neuen Album von Rihanna, und ob die genügend Geld dafür bekommt … 

… zumindest viele etwas weniger verbreitete Künstler bekommen davon nicht genügend, oder? 

Ich bin dafür, dass die Tantiemen gerechter verteilt werden. Aber trotzdem gibt es einen interessanten Punkt bei der klassischen Musik. Da wird es doch interessant, wenn ich Interpretationen vergleiche, auch historische mit ganz aktuellen. Das ist eine Chance zur Sensibilisierung der ästhetischen Wahrnehmung, die mir das Streaming bietet. 

Trotzdem: Generell prägen Medien unsere Wahrnehmung. Haben die Streaming-Webseiten und Apps nicht einen ganz anderen Modus? Ich kann sofort weiterklicken und entdecken. Was ist, wenn wir diese Sekunden oder Minuten der Ungewissheit oder Seltsamkeit in einem Stück nicht mehr aushalten und nicht dabeibleiben? Wie soll sich da eine Sonate oder Sinfonie entwickeln? 

Na ja, aber welchen Sinn hat es, sich eine andere Realität auszumalen? Ja, ich bin an anderer Stelle engagierter Teil dieser Medienkritik. Und ja, es hat mit dem Internet zu tun, dass wir nur noch Textblöcke von 15 Zeilen zur Kenntnis nehmen können. Aber da das Ganze nun mal da ist, frage ich mich auch, was wir damit machen können? Und da tut sich für mich ein neues Feld auf, und dieses neue Feld ist das der Erschließung von enorm viel Material … das kann man philosophisch gerade nicht lösen. Es gilt jetzt dafür zu sorgen, dass das Doofe im Internet nicht die Überhand gewinnt und dieses Entdecken gefördert wird. 

Und wie kann man das machen? 

Da sehe ich halt im Moment die Angebote noch nicht. Die neue Situation bringt es mit sich, dass die Streamingdienste sich nicht für ihre Inhalte interessieren. Spotify ist es komplett wurscht, was sie rausschicken, und vor allem ist denen klassische Musik wurscht, weil die maximal einen zweiprozentigen Anteil an dem ausmacht, was gestreamt wird. 

Und Apple Music? Ist das nur ein visuell-ästhetischer Eindruck, dass die feiner mit der Musik umgehen? 

Na ja, Apple Music will kuratieren, aber bleibt irgendwie banal, da seh‘ ich tatsächlich Leichtigkeitslügen ohne Ende. Aber das heißt nicht, dass das nicht besser werden kann. Die Anstrengungen werden jedoch nicht für die klassische Musik aufgebracht, ›Herbert von Karajan war ein sehr erfolgreicher Dirigent in den 60er und 70er Jahren‹, liest man da zum Beispiel. 

Apple Music hat mich bei Indie, Elektronik und Rock mit Playlists überrascht, die nicht nur stilistisch gut zusammenpassen, sondern auch ein bisschen ›Popwissen‹ beinhalten, auch bei alternativen oder subkulturellen Genres mit ganz eigenen Bezugssystemen. Die klassische und die Kunstmusik, die bringen ja ein anderes Bezugssystem und andere Bedeutungszusammenhänge mit. Ist das ein Grund, warum die kleineren Angebote sagen: ›Wir machen jetzt nur noch klassische Musik, weil das die Großen nicht können‹? Durch die Isolation gehen ja auch mögliche Bezüge zwischen den Genres verloren. 

Verknüpfung finde ich interessant, aber erst mal geht es mir bei einem Service darum, innerhalb der Schublade klassische Musik vernünftige Informationen zu bekommen. Also Katalogisierung, Metadaten. Als nächstes suche ich eine Erschließung, die nicht Werbetext ist. Das gab es bei Wimp, das jetzt mit Tidal zusammengegangen ist, die hatten diesen Ehrgeiz, auch zu kuratieren, obwohl da auch ziemlich viel Copy & Paste von Pressemitteilungen drin landete. Da fehlt mir immer noch viel. 

Aber dadurch entsteht ein anderes Problem: Die kleinen, neuen Klassik-Streamingangebote meinen immer ›wir müssen das selber machen, das muss von uns kommen.‹ Damit reiben die sich meiner Meinung nach auf. Man kann kein Spotify aus dem Boden stampfen, selbst ein etwas größerer Dienst wie Simfy ist gescheitert, weil die juristische und geschäftsmäßige Handhabe zu klein war. 

Da gibt es das Beispiel Idagio, das sich als Vermittler zwischen klassischen Musiker/innen und Publikum sieht. Da heißt es, man wolle die Qualitäten von ›Techies‹, ›Musikologen‹ und ›Marketingmenschen‹ gemeinsam entfalten. Der Service spielt die Karte der Kuratierung groß aus. 

Idagio ist ein großes Versprechen, von dem im Augenblick noch wenig zu sehen ist. Die Liste der Sachen, die man – auch sehr komfortabel – bei denen hören kann, wird zwar länger, aber womit am Anfang getönt wurde und was ja auch Eleonore Büning in der FAS als Revolution ausgegeben hat, das ist ja bislang nicht eingelöst: Wenn das smarteste Feature ist, dass ich entsprechend meiner Stimmung Musik hören kann, und wenn diese Liste sich dann auf ›lustig‹, ›traurig‹ tragisch und noch drei andere beschränkt … dann ist das arg holzschnittartig und wieder ein Schubladisierung der Inhalte, eigentlich eine Leichtigkeitslüge. Gute Musik antwortet immer auf mehr als einen Affekt oder mood, das ist ja das Tolle.

Ich glaube aber, dass man über diese Kanäle und mit diesem Mittel auch das Gegenteil tun könnte, nämlich kompetente Information liefern. So wie der gute Feinkosthändler, früher der gute Plattenhändler: Was er interessant oder gut findet legt er nach vorne ins Schaufenster, während man das andere auch finden kann. Ich gehe dahin, nicht weil er den ›besseren Geschmack‹ hat, sondern weil er Erfahrung hat. Und wenn die Auswahl dann noch qualifiziert und begründet ist, das wäre gut. Bei so einem Modell sind viele Möglichkeiten ungenutzt, und daran ist nicht das Internet schuld. 

Lass uns noch ein paar Angebote streifen, zum Beispiel Grammofy

Grammofy ist so ein sympathisches Fan-Ding, es kommt mir vielleicht ein bisschen zu didaktisch vor. 

Dagegen gehen die bei Qobuz einen Schritt weiter und bieten dir etwa auch Booklets an, dadurch sind schon mal ganz viele Informationen da. Die machen vieles richtig, weil sie den Qualitätsaspekt stark kommunizieren. Ich finde, es sieht nicht schlecht aus, und man hat das Gefühl: ›Hier werde ich mit meinen klassischen Musikinteressen ernst genommen.‹ Wenn ich bei Spotify ›Schostakowitsch‹ eingebe, entscheidet die Schreibweise darüber, welche Aufnahmen ich finde oder eben nicht. Spotify hat bei der Klassik – auch im Vergleich zu Deezer oder Apple Music – wahnsinnig viel, aber sie haben es nicht verlustfrei, wie das bei Tidal und Qobuz der Fall ist – die nämlich haben dieses Feature, dass sie Sachen auch im FLAC-Format anbieten, und wenn man wie ich viel über die Anlage hört, dann schätzt man so etwas, auch wenn es teurer ist. 

Und dann gibt es noch die Naxos Music Library, die fällt von der Zielgruppe und der Aufmachung etwas raus … 

Ich muss gestehen, dass ich da schon lange nicht mehr draufgeguckt habe. Ja, die machen hauptsächlich Angebote für Unis und andere Institute. Das ist von der Oberfläche inzwischen etwas unter dem Standard, obwohl die sehr viel haben und sich auch bemühen, Informationen zu bringen.  

Was ist aus den ›Hofläden‹ geworden, also den Angeboten die einen exklusiven Direktvertrieb leisteten? Die Deutsche Grammophon hatte bis vor kurzem einen Streamingservice, der allerdings inzwischen eingestellt ist. 

Nach meiner Wahrnehmung ist Exklusivität nicht mehr interessant. Wenn ich mich ernsthaft für Musik interessiere, dann interessiere ich mich weder nur für den Katalog der Deutschen Grammophon noch nur für die Berliner Philharmoniker, siehe Digital Concert Hall. Nein, ich interessiere mich für das Thema in seiner Breite und da brauche ich die Information: Was gibt es denn alles? Und das brauche ich ohne Dünkel, ohne Hohepriester, Elfenbeinturmbewohner, auch ohne die, die sagen, ›wir sind die Nerds‹ oder ›wir sind die Fans‹. Kuratierung im Sinne von Qualität und Vielfalt. 

Ob es das Kuratieren wirklich braucht? Viele sagen auch: ›Ich finde das, was ich suche auf Spotify, auch in der Klassik‹, die haben den Anspruch, selber der Kurator zu sein. 

Die gibt es bestimmt, ich glaube nur nicht, dass das die Mehrheit ist. Viele haben nicht so viel Zeit. Ich habe das Gefühl, es gibt viele Leute, die sagen: ›Klassische Musik, das würde ich gerne gut finden‹. Die sind aber vielleicht ein bisschen desorientiert. Die brauchen einen Kanal ohne Plüschmuff, aber auch nichts technoid-modernes. Ich sollte Vertrauen haben können, dass mir jemand keinen Scheiß anbietet.¶