Oft entstehen auf der Bühne ganze Berglandschaften, Schlösser oder Stadtviertel – aus Stoff, Styropor, Stahl und Holz – um das Publikum für einen Abend in fremde Welten zu entführen. Die Faszination des Musiktheaters fußt auf Verschwendung und Überfluss. Sobald der letzte Vorhang fällt, wird vieles verschrottet.

In Zeiten des Klimawandels passen solche Materialschlachten nicht mehr zum vielbeschworenen Ideal von Nachhaltigkeit, dem sich auch die deutsche Kultur verpflichtet hat. Am 11. Oktober veröffentlichte die Kultusministerkonferenz einen CO2-Bilanzerungsstandard für Kultureinrichtungen. Bei Theatern fällt hier neben den offensichtlichen Faktoren wie Stromverbrauch und Wärme eben auch das Bühnenbild ins Gewicht: Nur die wenigsten Materialien sind klimaneutral produziert, hinzu kommen bei Neuanschaffungen oft lange Transportwege. Auch der Bund der Szenografen ruft zum Umdenken auf: »Wir haben als Künstler*innen und Theater gesellschaftliche Verantwortung und können helfen, eine soziale und klimagerechte Gesellschaft der Zukunft mitzugestalten«, heißt es in Die grüne Bühne, dem offiziellen Leitfaden für nachhaltiges Entwerfen und Produzieren in Bühne und Kostüm. Darin formuliert der Szenografiebund die Grundprinzipien: Refuse, Reduce, Reuse, Recycle, Repurpose, Repair, Rethink, Reimagine, Restore, Regenerate. Das bedeutet, bei der Entwicklung eines Bühnenbildes greift man am besten auf bereits Vorhandenes zurück, Baumaterialien sollen auf ihre Wiederverwertbarkeit überprüft und nicht recycelbare Verbundstoffe, die unweigerlich im Rest- oder Sondermüll landen,  sollen vermieden werden. Außerdem empfiehlt der Bund der Szenografen, möglichst wenig zu kleben, sondern lieber zu verschrauben oder zu bespannen. Auf diese Weise lassen sich bereits bespielte Kulissen leichter auseinandernehmen und eventuell neu verbauen. Soweit die Theorie.

Foto © Axel Zeininger

Erste Versuche der praktischen Umsetzung gibt es bereits: Mit Fördermitteln des Fonds Zero der Kulturstiftung des Bundes führen die Bühnen Wuppertal derzeit das Pilotprojekt »Modular Stage Zero« durch. In Rückgriff auf Traditionen aus der Barockzeit wird dort ein wiederverwendbares, modulares Bühnensystem entwickelt, das für insgesamt fünf Produktionen zum Einsatz kommen soll.

Schlüsselelement der Mission ist ein Wandgerüst aus Stahl, dessen Einzelteile wie LEGO-Steine in unendlichen Variationen miteinander kombinierbar sind. So können unterschiedliche Oberflächen für viele verschiedene Bühnenbilder gebaut werden. Eine Idee mit Zukunft, findet Projektkoordinator Lukas Vaupel: »Stahl hält ewig. Diese Bühnenelemente werden mindestens 20 bis 30 Jahre nutzbar sein.« Das modulierbare Wandgerüst, erklärt Vaupel, wird dann je nach Bedarf mit unterschiedlichem Oberflächenbelag bespannt.

Ein auf diese Weise entwickeltes Bühnenbild spart Ressourcen, denn anstelle einer ganzen Häuserfront aus Massivholz ist schon ein dünner Belag aus Sperrholz ausreichend. Teilweise kommt diese Lösung schon bei der Neuproduktion von Cinderella, die am 9. Dezember als erste Modular Stage-Zero-Produktion Premiere hat, zum Einsatz. »Im Sinne des Klimaschutzes ist Sperrholz tatsächlich das Beste, was man nutzen kann. Noch besser wäre natürlich gebrauchtes Material«, so Vaupel. Doch auch das Prinzip der Wiederverwendung wird bei Cinderella nach Kräften umgesetzt: »Im Lager hatten wir noch einen Brunnen, der jetzt das zentrale Element des Dorfplatzes bildet und für den Heißluftballon, der bei uns anstelle einer Kutsche auftritt, gucken wir gerade noch, ob wir den Stoff woanders ausleihen können. Nur den Fußbodenbelag mussten wir leider neu kaufen.«

Dafür wird alles, was für eine Produktion neu hergestellt oder gekauft werden muss, gelagert und katalogisiert. Dieser Katalog – eine detaillierte Auflistung vorhandener Materialien, Requisiten und Bühnenelementen –  ist das zweite Kernelement des Konzeptes von Stage Modular Zero und bildet die Arbeitsgrundlage für Bühnenbildner:innen, die als Gäste ans Haus kommen: »Es geht darum, die Bühnenbildner:innen viel früher in den Prozess einzubeziehen, sodass sie zusammen mit unseren hauseigenen Abteilungen schauen können: Wie können wir das, was da ist, auf eine kreative Art und Weise nutzen und daraus eine neues Bühnenbild schaffen?« Wenn für die Realisierung der künstlerischen Vision dann noch weitere Anschaffungen notwendig sind, sollen in einem nächsten Schritt erstmal die umliegenden Theater abtelefoniert und erst als ultima ratio Neukäufe getätigt werden. 

Damit so ein Prozess funktioniert, braucht es vor allem eines: Zeit. Bei dem gegenwärtigen Produktionsdruck bleiben den Werkstätten des Theaters aber oft nur wenige Wochen, um die Wünsche der von außen angereisten Teams aus Regisseur:in und Bühnenbilder:in zu erfüllen. Auch da braucht es laut Vaupel Veränderung: »Die Arbeitskapazitäten und die Personaldecke der Werkstätten sind sehr gering. Was die Kollegen dort leisten, ist sehr beachtlich, sie haben im Laufe von Jahrzehnten Unmengen an Expertise gesammelt, wie man aus Altem Neues zusammenbasteln kann. Das müsste man viel mehr nutzen. Aber oft ist es eben aus Zeitgründen leider erforderlich, Dinge neu zu kaufen. Wir haben die Vision, die Produktionslaufzeiten länger zu gestalten, sodass es nicht erst bei der Bauprobe auffällt, dass man vielleicht doch auf Vorhandenes hätte zurückgreifen können. So könnte die Ideenentwicklung insgesamt viel mehr in Richtung Co-Creation zwischen den hauseigenen Werkstätten und künstlerischen Gästen gehen.« Modular Stage Zero bedeutet also auch: nachhaltig miteinander kommunizieren.

Könnte das Pilotprojekt in Wuppertal Vorbild für andere Häuser sein? Rolf Suhl, Geschäftsführer des Berliner Bühnenservice, der Bühnenbilder für die drei Berliner Opernhäuser anfertigt, ist vorsichtig: »Ob sich der Aufwand für ein solches modulares Bühnensystem lohnt, muss man beobachten. Ich bin im Zweifel, ob sich diese wiederverwendbaren Grundbauten in unseren Berliner Opernhäusern realisieren lassen. Einige Bühnenbilder, die wir in den letzten Spielzeiten zum Beispiel für die Deutsche Oper oder die Staatsoper gebaut haben, mussten großen statischen Belastungen standhalten. Ob wir diese Belastungen mit einem solchen System gewährleisten können, ist derzeit noch nicht absehbar. Die meisten Theater- und Opernbetriebe arbeiten ja bereits mit Zargensystemen und Bauelementen, die wiederverwendbar sind.«

Der Nachhaltigkeitsaspekt aber spielt auch in Berlin eine Rolle. Kopfzerbrechen bereitet zum Beispiel Styropor, ein Kunststoff, der nur dann recyclebar ist, wenn er nicht etwa durch Farbe verunreinigt wurde: »Das ist ein Problem, mit dem wir uns intensiv befassen müssen. Einzelne ökologisch bedenkliche Materialien können sicherlich in absehbarer Zeit durch nachwachsende Naturmaterialien wie Maisstärke oder Bambusprodukte ersetzt werden. Gegenwärtig arbeiten wir an einem Handbuch der eingesetzten Materialien, das die ökologischen Belastungen, den Klimaabdruck und mögliche Alternativen bewerten soll. Am Ende bleibt dies eine Entscheidung der künstlerischen Betriebe, da hier auch wirtschaftliche und künstlerische Gesichtspunkte hineinspielen.« Zum Glück kämen viele Bühnenbilder aber ohnehin über mehrere Spielzeiten hinweg zum Einsatz: »Das ist ja die nachhaltige Komponente unseres deutschen Repertoirebetriebs; Bühnenbilder werden gelagert und oft über viele Spielzeiten wiederverwendet. Wenn wir nur Stagione spielen würden, ginge das nicht. Da würden viele Bühnendekorationen schon nach einer Saison weggeschmissen.«

So ist auch das Bühnenbild zur Repertoire- Inszenierung von La Bohème an der Staatsoper seit 2001 im Wesentlichen unverändert geblieben – nur Teile eines Plexiglasbodens wurden nach hoher Beanspruchung irgendwann ausgetauscht. Auch der gigantische Fisch, heimlicher Co-Star aus der Erfolgsproduktion Sleepless von Peter Eötvös bekommt ein zweites Leben. Im November 2023 kommt der 17 Meter lange und 2,5 Tonnen schwere Koloss erneut auf die Bühne.  

Foto © Gianmarco Bresadola

Irgendwann gerät das Gesetz der Wiederverwendbarkeit freilich an seine Grenzen– wie bei dem biedermeierlich anmutenden Rosenkavalier von Otto Schenk, der seit sage und schreibe 55 Jahren an der Wiener Staatsoper zu sehen ist. 

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Dem Publikum gefällt er noch immer, aber das Mobiliar scheint zu schwächeln. Als die Inszenierung vor einiger Zeit unter der unbarmherzigen Lupe eines High-Definition Live Stream übertragen wurde, äußerte sich Kritikerin Isabella Steppan besorgt. Es werde deutlich, schrieb sie auf Bachtrack, »wie abgewohnt das Bühnenbild mittlerweile ist«. Ein bisschen Patina lässt sich im Dienste der Nachhaltigkeit wohl nicht vermeiden. ¶

… lebt in Berlin und arbeitet als freischaffende Sängerin und Musikjournalistin (u.a. für Opernwelt, Crescendo, TAZ).