Gegensätzliche Welten in Neukölln: Während in der Sonnenallee allnächtliche Ausschreitungen inklusive antisemitischer Exzesse viele erschrecken, scheinen in der parallel verlaufenden Karl-Marx-Straße am Donnerstagabend solche Konflikte weit entfernt. In der Neuköllner Oper werden Kompositionen von Johann Sebastian Bach aus Kantaten, Motetten, Passionen herausgelöst, um daraus eine Art Oper zu backen. Bach, der ja Parodist oder Kontrafakturist im Sinn seiner Zeit war, hätte dagegen wahrscheinlich keine Bedenken gehabt.
Das Publikum in Berlins viertem Opernhaus ist an diesem Abend ein wenig strahlend ergrauter als sonst: Die seit 1984 bestehende Lautten Compagney zieht offensichtlich treue Hörerschaft auch von weiter her an. Ein Besucher sagt zu seiner Begleiterin über irgendwas, das ihm gerade auf der Straße begegnet ist: »Neukölln, wie es lebt und leibt!« Und in dieser zufälligen feinen Verkehrung finden Wörter, die sonst im abgeschliffenen Klang einer stehenden Redewendung bedeutungslos geworden sind, zu neuer Intensität: Leibt. Es leibt. Was natürlich zu Bach besonders gut passt, der uns nicht nur geistlich neu beseelt und beleibt.

Es passt aber auch zur Lautten Compagney, die Alte Musik (gern auch weniger Gängiges als Bach) fein verkehrt, umspielt, neu kontextualisiert. Haarsträubend, dass die sich unbeobachtet wähnende Berliner Kulturpolitik diesem höchst originellen, experimentierfreudigen Ensemble gerade die (ohnehin knappe) Basisförderung streichen wollte; dass der ertappte Senator dann einen Rückzieher machte, ist gewiss auch den Berichten im VAN Magazin oder im Tagesspiegel zu verdanken.
Dass beim Teufel im Lift in der Neuköllner Oper nun das Stammpublikum der Lautten Compagney dabei ist, hilft wiederum der Stimme des Auditoriums auf die Sprünge, das immer wieder eingeladen ist, Bach-Choräle mitzusingen. Wer nur den lieben Gott lässt walten, wird da an die Wand projiziert, oder Heute lebst du, heute bekehre dich. Wir älteren unter den Gästen erinnern uns dunkel, das haben wir perückisiert und gepudert schon in Leipzig mitgeknarzt, anno dunnemal, als wir noch knackig wie die Gurken und der Boss Thomaskantor war.
Trotzdem ist man, wenn man so das eigene verzagte Brummen und Krächzen hört, ganz froh, dass da ein kompetentes Gesangsquintett auf der Bühne agiert. Da ist der Tenor Christian Pohlers, dessen bemerkenswerte Klarheit eine Arie wie Seele deine Spezereien BWV 249 (mit akkompagnierender Traversflöte von Ulrike Ködding) zu einem Höhepunkt des Abends macht. Der Sopranistin Frieda Jolande Barck, stimmlich sehr agil, gelingen einige der emotional intensivsten Momente der Aufführung. Elmar Hauser ist ein schnörkelloser Countertenor, der sich hier hübscherweise die Bass-Arie Ich freue mich auf meinen Tod aus der Kantate Ich habe genug unter den Nagel reißt. Sein spürbar fulminantes darstellerisches Talent wird nur durch die allzu ziellose Regie (dazu unten mehr) ausgebremst. Aber immer wieder bricht es durch, wie auch in der charaktervollen Bühnenpräsenz von Steffi Dietrich, deren tiefer als Barck liegender Sopran an diesem Abend allerdings gelegentlich etwas instabil wirkt. Und Elías Arranz hat einen warmen, samtenen Bassbariton, dem man nur dringend eine höhere Textverständlichkeit wünschte.
Wenn der Abend dennoch nicht so richtig leiben will, dann liegt das vielleicht auch daran, dass so viel von der Seele die Rede ist. Dabei dürfte diese ominöse Seele für die meisten von uns nicht mehr das erste sein, woran wir denken, wenn uns vor dem Tod graut und graust. »Haben Sie eine Seele?«, fragte der Philosoph Herbert Schnädelbach einst seine Studierenden, um sie über althergebrachte Worthülsen nachdenken zu lassen. Im Bühnenstück Der Teufel im Lift aber fragt allen Ernstes die Wissenschaftsjournalistin Raquel den Gehirnforscher Sánchez, ob die Mäuse, an denen dieser lebensverlängernd experimentiert, eine Seele hätten. Und auch wenn der Begriff »Seele« dann von Sánchez’ Assistent Dr. Vice scharfsinnig dekonstruiert wird, ist es ärgerlich, dass die fragende Frau hier als naive Stichwortgeberin fürs gelehrte Mansplaining aufzutreten hat.

Das Libretto stammt von einem Mann, John von Düffel, und für Konzept und Dramaturgie zeichnet Bernhard Glocksin verantwortlich. Gewiss Theaterprofis, aber ganz ausgereift wirkt der Abend nicht. Menschen im Hotel gehen immer, und ein gewisses Hin und Her lässt man sich in einer symbolträchtigen Lobby, diesem Inbegriff des Durchgangsortes, ja gefallen. Doch gedanklicher Ziele und auch zielstrebiger Personenführung bedürfte es trotzdem, ja erst recht. Man begreift wohl, dass es um den Tod geht, und um unsere Angst davor. Schöne Wörter hat von Düffel geschrieben, die der Countertenor Hauser auf uns schleudern wird: Ihr Sterbensfeiglinge! Sargverdränger! Und es ergreift und ängstigt uns, wenn eine Tumorpatientin »schwanger vom Tod« heißt.
Sowohl in der angepeilten Fixierung aufs Thema als auch der Neigung zum (durch Gezappel kaschierten) Rumstehen ist Der Teufel im Lift eher Oratorium als Oper. Wogegen an sich nichts zu sagen wäre, würden Themen eben wirklich beleuchtet, nicht nur flüchtig angerissen. Eine Abtreibungsklinik. Die angebliche Hybris der Wissenschaft, von Leonardo bis zur Neurogenetik. Da fehlt Konzentration. Die schematisch groben Figuren lassen uns letztlich kalt, während der Diskurs immer wieder hier und da rumstochert und letztlich zerfasert.
Dass der Abend auch ohne dramatischen Zug oder wirkliche inhaltliche Stringenz sympathisch ist, liegt an den Sängern – und der Lautten Compagney. Entzückend, wie uns schon im Vorspiel der walking Generalbass entgegenschwingt. Das Klangbild ist warm, farbig, fröhlich musikantisch. Die unkonventionellen Arrangements machen so viel Spaß, dass man die Allerweltsplaudereien drumherum leicht vergisst. Das sind sowohl fahrstuhl- als auch operntaugliche Kontrafakturen, in denen Bach lebt und leibt. Man würde sie sich noch stundenlang anhören. Und dass man hier Getränke mit an den Platz nehmen darf, gibt’s auch in keinem anderen Berliner Opernhaus. ¶