»Hallo, ich bin Flora und ich bin ein Instrument« – diese kurzen Worte als Auftakt zu Flora Marlene Geißelbrechts in der Berliner Villa Elisabeth präsentiertem Soloprogramm Viola and Voice, Sybils and Songs waren nicht nur Begrüßung, sondern brachten die ganze Konzeption wienerisch salopp auf den Punkt. Die junge Oberösterreicherin bespielt sich also selbst, ihr Körper, ihre Stimme und ihre Hände werden zum musikalischen Handwerkszeug, mit der sich die komponierende Performerin ihrem Publikum präsentiert. 

In Personalunion von Sopranistin und Bratschistin werden die namensgebenden Sibyllen zum roten Faden von zungenrednerischer Kryptik zu Dada-Späßen über virtuosen Bratschensoli: in Form ihrer mitreißenden Eigenkomposition Im Schatten verweilen, die ein gesprochenes Gedicht aus Geißelbrechts Feder auf einen überraschend gut funktionierenden Hybrid aus zeitgenössischer Viola und schmissigem Groove setzt, oder von Werken von Arlene Sierra, Sally Beamish, Giacinto Scelsi oder dem ihr auf den Leib gezüchtete Phönix von Rudolf Jungwirth. Doch es sind vor allem ihre eigenen Stücke – da waren noch eine Vertonung des Scherzos aus Kurt Schwitters Ursonate und das Stück Scots&Ire –, die überzeugten und die Performerin nicht nur als vielseitig besaitetes Instrument, sondern auch als eine schon jungen Jahren beeindruckend ausgeprägte Künstlerpersönlichkeit offenbarten.

Nach ihrem Kompositions- und Bratschenstudium in Graz und Wien war Flora Geißelbrecht im letzten Jahr Teil der Internationalen Ensemble Modern Akademie in Frankfurt, neben ihrer klassischen und Neue-Musik-Ausbildung schreibt sie Theatermusiken, improvisiert frei und zeigt einen Hang zum Skurrilen im »blumig-blutig, kosmisch-komischen« Duo Milleflör mit ihrer Schwester Camilla. Vor kurzem gewann sie mit Viola and Voice, Sybils and Songs den von VAN veranstalteten Berlin Prize for Young Artists.

VAN: Singende Bratschistinnen und vor allem Werke für diese gibt es nicht wie Sand am Meer, wie kamst du zu diesem Projekt und wie bist du in dieser Nische auf die Repertoiresuche gegangen?

Flora Marlene Geißelbrecht: Ich spiele schon einige Jahre in einem Folk-Trio, da habe ich auf der Bühne ständig beim Spielen die dritte Stimme gesungen. Das waren natürlich eher einfache Begleitpattern, aber schon ein erster Schritt hin zur Entkoppelung der beiden ›Instrumente‹. Für meinen Bratschen-Master habe ich dann eine Eigenkomposition für Bratsche und Stimme geschrieben, einfach nur, weil ich mich auch von der Komponistinnenseite zeigen wollte und sich diese Kombination ergeben hat.

Im allerersten Lockdown habe ich angefangen, sozusagen ›musikalische Selbstgespräche‹ zu führen und wollte mit mir selbst im Duo spielen. Da habe ich auch mehr Eigenkompositionen für Bratsche und Stimme geschrieben. Um musikalisch dann nicht zu sehr im eigenen Saft zu schwimmen, wollte ich bald wissen: Ergeben sich da auch noch andere Dinge? Die Kombination aus Stimme und Streichinstrument zu lernen, ist wie ein neues Instrument zu lernen. Du musst dir neue Techniken aneignen, zum Beispiel um die Dynamiken gegengleich zu gestalten – dass nicht jedes Mal, wenn du mit dem Instrument lauter wirst, die Stimme mitgeht. Da gibt es so viele Automatismen, die man erst einmal kontrollieren muss. Wenn man viele Dinge so automatisch macht und dann auch noch selbst für sich Stücke schreibt, kommt man schnell in einen bequemen Modus. Indem ich Stücke von anderen Komponist:innen gesucht habe, habe ich meine Fähigkeiten weiterentwickeln können, weil ich einfach erfüllen musste, was in den Noten steht. Und dann kam bald die Ausschreibung für den Berlin Prize for Young Artists und ich dachte: Das ist ein guter Anlass mal etwas zusammenzustellen. Ich habe Stücke ausgewählt, die möglichst un-textbasiert sind. Das war ein roter Faden. Ich wollte keine ›Songs‹ oder ›Lieder‹, wollte also nicht, dass die Stimme singt und die Bratsche nur als Begleitung wahrgenommen wird.

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Daher also die Sybillen aus den antiken Mythen?

Mystik an sich hat für mich keine große Rolle gespielt. Ich habe die Querverbindung hergestellt zwischen dem mystischen Zungenreden, wenn man bei Scelsis Manto aus einer Trance heraus spricht, und der Nonsens-Sprache bei Schwitters, die ja einen rein spielerischen Zugang hat, aber am Ende trotzdem ähnlich klingt. Ausgehend von meinem Im Schatten verweilen mit seinem klar gesprochenen Text, den ich witzigerweise vor vielen Jahren für einen anderen Anlass – das Albumbooklet eines Freundes – verfasst habe, gab es eine Entwicklung von der ›normalen‹ Sprache weg. Bei Sally Beamishs Buzz gibt es zum Beispiel eigentlich noch einen Text von Emily Dickinson, der wird aber auf typisch zeitgenössische Art und Weise gestreckt, die Laute werden verbunden oder hervorgehoben, sodass man ihn nicht mehr wirklich versteht – oder auch verstehen muss.

Persönlich habe ich auch ein bisschen ein Problem mit gesungenem Text in der zeitgenössischen Ästhetik. Das wirkt oft etwas aufgesetzt und nicht hilfreich, weder für den Text noch für die Musik. Deswegen ist es auch bei Im Schatten eher ein Sprechen, um den Text und die Musik jeweils für sich zu haben und das dann zu kombinieren. Oder der Text dient einfach als Klangträger, Klangauslöser, statt als etwas, das eine Bedeutung tragen soll.

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Gab es andere singende Bratschist:innen, die dich inspiriert haben?

Ich habe ein paar Vorbilder: Es gibt zum Beispiel die Engländerin Katherine Clark, von der ich einige Videos auf YouTube gefunden habe – witzigerweise über diesen Comedykanal TwoSet Violin, die sich ständig über Bratschen lustig machen. Von deren Repertoire habe ich mich inspirieren lassen, weil sie auch selbst einige Aufträge vergeben hat. Von ihr habe ich Buzz von Sally Beamish. Das ist eigentlich ein ›richtiges‹ Duo für Sopran und Bratsche und sie hatte die Idee, das alleine zu machen. Außerdem gibt es die Amerikanerin Wendy Richman, die ein Album mit Aufträgen aufgenommen hatte, da habe ich mir Cricket Viol ausgeborgt. Und in Wien gibt es die singende Bratschistin und Komponistin Jelena Popržan, die mit ihrem ganzen Sein ein Vorbild für mich ist.

Erst recht spät bin ich dann auf Scelsis Manto gestoßen und war ganz schockiert ›Was?! Es gibt ein Stück von Scelsi für Bratsche und Stimme?‹ Da war ich ganz froh, noch einen ›großen‹ Namen ins Programm nehmen zu können. Das Stimmfach und der Tonumfang sind auf so einer Suche noch eine weitere Einschränkung, aber sein Stück ist auch für hohe Stimme, sogar für eine ›necessarily female performer‹ geschrieben. Ich denke, das ist wegen der Sibyllenrolle, aber inzwischen singen das natürlich auch Männer.

Nimmst du dich selbst auf der Bühne anders wahr, wenn du nicht mehr nur Bratsche spielst?

Ich habe schon viel solistisch, auch sehr viel zeitgenössische Musik auf der Bratsche gespielt und ich singe auch schon seit der Kindheit. Ich habe zwar keine ›richtige‹ klassische Gesangsausbildung, aber war viel im Chor und mit zehn Jahren sogar auch einer der Knaben in der Zauberflöte. Meine Eltern sind beide sehr musikbegeistert und meine damalige Klavierlehrerin hat da ein gewisses Talent erkannt und mich vermittelt. Und dann ist da, wie gesagt, mein Folk-Trio. Als ich beide Welten kombiniert habe, habe ich schnell ein ›fasziniertes‹ Feedback bekommen – dass es verzaubert. Da öffnet sich ein anderer Raum, wenn man die Stimme dazu nimmt. Man bekommt ein anderes Gefühl von der Person, die da vorne steht.

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Gerade in der zeitgenössischen Musik, vor allem, wenn es dann so performativ wird, wie in deinem Programm manchmal, läuft man ständig Gefahr, auf der Bühne als zu sehr abgekapselt wahrgenommen zu werden. Siehst du noch andere Möglichkeiten, dem Publikum offener gegenüberzutreten?

Ich mag es, meine Programme sehr frei durchzumoderieren und so eine Verbindung mit dem Publikum aufzunehmen und eine lockere Atmosphäre aufzubauen. Das ist in klassischen Konzerten natürlich eher unüblich, aber gerade als einzelne Solistin kommt es sonst schnell zu unangenehmen Momenten: Ich mag die Pausen zwischen Stücken nicht so gerne. In früheren Programmen hatte ich deshalb alles durchgespielt, zum Beispiel Übergänge gefunden, improvisiert oder attacca gespielt. Das ist aber körperlich extrem anstrengend. Außerdem ist es gut, wenn man dem Publikum, gerade bei zeitgenössischen Stücken etwas an die Hand geben kann. Vielleicht auch, dass man eine Sympathie aufbaut – ›sich auf ein Gespräch einlässt‹ wäre übertrieben, das ist natürlich in der Asymmetrie einer Konzertsituation nicht der Fall.

Wo stecken die Schwierigkeiten, in so einem Duett mit sich selbst zu spielen?

Intuitiv will immer das eine mit dem anderen mitgehen. Was sehr schnell und ohne viel Üben geht, ist genau dasselbe zu spielen, wie man singt. Das machen auch von Jazzern sehr viele, dass man beim Solo dazu singt – als zusätzlicher Ausdruck oder mentale Stütze für die Gestaltung. Von da aus kann man Schritt für Schritt versuchen, die beiden voneinander zu entfernen. Zum Beispiel in einem anderen Intervall parallel verschoben, später dann versuchen, auch rhythmisch eine andere Linie zu spielen, als man singt. Es hilft zum Beispiel, wenn der Körper in einem Pattern immer dieselbe Bewegung wiederholt und man die Stimme frei davon einsetzt.

Für diese Aspekte konnte ich zwar Feedback, wenn ich jemandem vorgespielt habe, aber keinen wirklichen Unterricht bekommen, diese Kombination musste ich mir selber aneignen. Aber wenn man mal gelernt hat, wie man übt, kann man so etwas auch. Im Endeffekt muss man sein Hirn austricksen und immer wieder andere Wege für Probleme finden.

Foto © Verena Brüning

Beim Klavier oder der Gitarre schafft es ja jeder Singer-Songwriter zum Spielen zu Singen. Ist das etwas anderes?

Da drückt man die Tasten oder zupft die Saiten und kann sich daneben voll aufs Singen konzentrieren. Beim Streichinstrument muss man den Ton in jedem Moment gestalten, das erlaubt dieses ›jetzt drück ich und jetzt sing ich und jetzt drück ich und dann sing ich‹ nicht. Es ist immer wirklich gleichzeitig. Trotzdem wechselt man, je nach Schwierigkeiten im Stück, die ganze Zeit den Fokus. Und natürlich die Intonation! Die ist ein Riesenthema, du glaubst am Anfang, du kannst überhaupt nicht mehr singen und genauso wenig spielen: ›Wo zur Hölle ist der Ton, das gibt’s doch nicht?! Ich kann doch bitte eine Tonleiter spielen?!‹ Aktuell übe ich vermehrt Obertongesang, als nochmal eine Ebene der Polyphonie dazu. Da kommen wieder einige Erinnerungen an solche Frustration hoch [lacht].

Du hast ursprünglich Komposition studiert, dann noch Bratsche, hast auch den Contemporary Music Master der Internationalen Ensemble Modern Akademie gemacht und bist nun auch noch in einem Jazz-Bratschen-Studium gelandet. War diese Vielseitigkeit schon immer so ein Teil von dir?

Ein bisschen, aber es hat sich auch immer breiter entwickelt. Bei anderen ist das vielleicht andersrum, da konzentriert sich das später auf einen Weg. Ich habe zumindest immer improvisiert und experimentiert, deswegen früh zeitgenössische Musik gemacht und komponiert, klassische Musik natürlich sowieso. Aus der Impro kamen dann auch Folk und das Schreiben von Songs; jetzt arbeite ich auch an so einer Singer-Songwriter­-Sache. Es ist immer auch ein Suchen, ein ›Was kann ich mir von dem noch mitnehmen?‹ Ich sehe mich selbst auch nicht als Jazz-Bratschistin. Ich will in allen Bereichen funktionieren, aber in manchen dann auch so spezialisiert sein, dass ich das ausgezeichnet machen kann. Ich möchte auf jeden Fall in alles meine Nase stecken und Dinge entdecken für mich. Das befruchtet sich gegenseitig – wie ja der Folk der Ursprung für mein Bratschen-Stimmen-Projekt ist.

Als ich zu studieren angefangen habe, war das auch weniger aus dem Gedanken ›Ich will Komponistin werden‹ heraus, sondern weil ich neben dem Unterricht bei ein paar Wettbewerben gewonnen habe. Da dachte ich: ›Okay, das ist etwas, was ich gut kann, dann sollte ich das jetzt weitermachen und mehr lernen.‹ Wettbewerbe waren immer ziemlich prägend für mich, das waren immer die großen Pusher. Abseits davon war ich auch nicht so die Viel-Überin, da haben solche Ziele immer sehr geholfen und die Erfolge sind wichtig für das Selbstverständnis – jetzt muss ich das wohl auch langsam akzeptieren, dass ich als Solistin gut bin.

Es war erstmal ein Schock, als ich an eine Hochschule kam und es plötzlich auch diese Erwartungshaltung gab, was eigentlich ›zeitgenössische Musik‹ bedeutet, und was es auch nicht bedeuten soll und darf. Ich hatte zum Glück keinen Lehrer, der kategorisch Dinge ausgeschlossen hätte, aber trotzdem fühlte ich mich oft mit solchen Gedanken konfrontiert, auch weil Graz in Österreich für die Komposition als Neue-Musik-Hochburg gilt. So etwas hat mich nach dem Bachelorstudium erst einmal eine Weile blockiert. Ich hatte dann erstmal keine Lust mehr zu komponieren, weil ich gar nicht mehr wusste, was ich schreiben möchte, wo ich ästhetisch hingehöre. Es gab seitdem wieder ein paar Projekte, aber erst seit ich Bratsche und Stimme mache, habe ich das Gefühl, die Wurzel gefunden zu haben, wo mein Bedürfnis nach Musik ursprünglich hergekommen ist. Von dem aus kann ich wieder in unterschiedliche Richtungen gehen, kann genauso Songs schreiben wie zeitgenössische Musik, weil ich weiß, dass das die Basis ist.

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Ganz ohne sibyllisch-prophetisches Zungenreden: Wie möchtest du nun weitermachen?

Ich studiere erstmal noch ein Jahr Jazzbratsche. Daneben habe ich natürlich viele Pläne, aber nicht den einen konkreten Pfad. Ich habe nun eine Förderung vom Außenministerium bekommen, mit der versuche ich, möglichst viel mit meinen Programmen herumzukommen, auch möchte ich gerne mal ein Album aufnehmen. Ich habe vor, noch weiteren Komponist:innen schmackhaft zu machen, etwas für meine Bratsche und meine Stimme zu schreiben. Ich dränge gerade aber auf nichts, ich habe ja keinen Stress. Es ist immer genug Arbeit da.

Als nächstes, am 7. Juli, steht im oberösterreichischen Örtchen Ried ein Projekt an, wo ich zur Musik koche. Ich habe keine Synästhesie für Geschmack oder Aromen, aber es macht mir wahnsinnig viel Spaß, da Parallelen zu ziehen. Zwischen Musikrichtungen und Gerichten, Zutaten oder Aromen – Klängen und Gewürzen. Das Ganze ist Teil des Festivals Hörsturm, das eine befreundete Musikerin zu genau solchen Sinneskombinationen kuratiert. Das ist jetzt das erste Mal, dass ich das auch auf die Bühne bringen darf. Ich habe einige Solist:innen eingeladen, die Solostücke spielen, und habe mir zu diesen genau überlegt, was das kulinarische Pendant wäre, kein großes Menü, aber zum Beispiel eine Sommerrolle oder ein gefüllter Keks. Die koche ich dann vorher und das Publikum soll dann sehr genussvoll, sehr aufmerksam und sehr leise essen. Ich habe das Gefühl, solche Formate werden inzwischen oft gemacht und begeistern das Publikum auch immer, aber bekommen auch schnell einen kommerziellen Touch, das möchte ich umgehen. In diesem Fall ist es ja auch zeitgenössische Musik – auch wenn Leute nur kommen würden, weil sie was zu essen wollen, bekommen sie dann trotzdem die Musik [lacht]. Das Essen wird dementsprechend auch bitter und scharf und etwas crazy, nicht einfach nur weicher Genuss. ¶