Heute, am 6. Juli, wird die kubanische Singer-Songwriterin Marta Valdés 88 Jahre alt. Wir gratulieren herzlich – und verlassen dafür geradewegs den »Pfad der Tugend«, sprich: die E-Musik-Filterbubble. Denn Marta Valdés ist keine Angehörige dieser »Szene«, sie schreibt keine zeitgenössische E-Musik, keine Avantgarde, auch keine Neoklassik oder Neoromantik. Sie macht von diversen lateinamerikanischen Tänzen, Motivschleifen, Melodieeigenheiten und Timbre-Schattierungen geprägtes Singer-Songwriting. Und das nicht erst seit gestern.

Geboren wurde Valdés in Havanna. Im Jahr 1934 wuchs Kuba an seinen touristisch attraktiven Orten gewissermaßen Tag für Tag. Immer mehr Reisende aus den USA und Kanada besuchten die Karibikinsel – und so stellte sich die Baupolitik des Landes darauf ein und ließ zahlreiche Hotelanlagen, Kasinos, Nachtklubs und andere Etablissements hochziehen. In diese Phase der kapitalistisch motivierten »Öffnung« fällt also die Geburt von Marta Emilia Valdés González.

Nach einer wahrscheinlich ohnehin schon sehr musikalischen Kindheit und Jugend studierte Valdés an der Facultad de Filosofia y Letras der Universität von Havanna. Ihr Harmonielehre- und Kompositionsprofessor war der Kubaner Harold Gramatges (1918–2008). Gramatges hatte einst bei Aaron Copland studiert, also eine ganz »klassische« Kompositionsausbildung »genossen«. (Gramatges komponierte Musik für diverse Besetzungen, dabei kehrte er aber auch immer wieder zum »heimatlichen« Instrument der Gitarre zurück – und hinterließ recht gefällige, nur leicht zerknirschte Stücke. Politisch schien er mit dem Castro-Regime »ganz auf Linie« gewesen zu sein. So unterschrieb er – hochbetagt – noch 2003 eine Erklärung, die die international lautgewordene Kritik an der kubanischen Menschenrechtspolitik als Verleumdungskampagne darzustellen sich anschicken wollte.) Die Gitarren-Lehrer:innen von Marta Valdés an der Universität von Havanna waren Francisqueta Vallalta, Leopoldina Núñez und Vicente González.

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1955 gab Valdés ihren ersten Song heraus: No es preciso. Früh schlug sie also offenbar den Weg zwischen kubanischer Musikverwurzelung und US-amerikanischer Light-Avantgarde ein. Der Bolero spielte dabei von Anfang an die wichtigste Rolle. Somit entstanden gewissermaßen »Bolero-Songs« – in vielfältigen Varianten und Gestalten. Meist war Valdés dabei wohl ihre eigene Texterin (wiewohl bei Singer-Songwriter:innen völlig üblich – und in der »Berufsbezeichnung« selbstredend inkludiert). Hinzu kamen Schauspielmusiken und die Filmmusik zu dem deutsch-kubanischen Streifen Preludio 11, einer DDR-Produktion aus dem Jahr 1963, in dem Armin Mueller-Stahl eine der Hauptrollen spielt. (Die DDR und Kuba pflegten zu dieser Zeit schon seit ein paar Jahren enge Kontakte. Dem »sozialistischen Grau der DDR« stand die ewige kubanische Sonne sozusagen ganz gut. 1962 betonte der damalige kubanische Industrieminister, Ernesto Ché Guevara, die Wichtigkeit der Handelsbeziehungen der DDR mit Kuba. Das Verhältnis der beiden Länder wurde aber auch immer wieder dadurch belastet, dass die DDR-Regierung zunehmend befürchtete, die viel dynamischeren Revolutionsmotivationen des Karibikstaates könnten negative, unkontrollierbare Einflüsse auf die eigene Jugend haben und dem Vertrauen auf die eingefahrenen Strukturen und Klassenverhältnisse – dem sich sozusagen selbst erhaltenen Sozialismus – entgegenstehen. Das Ansinnen, den Auftrag zur Komposition der Musik zu Preludio 11 an die kubanische Komponistin Marta Valdés zu vergeben, kann sich darüber hinaus auch als ein frühes Beispiel der »Kuba-Mode« von Teilen der dem Sozialismus in Deutschland freundlich gesinnten Kulturlandschaft verstehen lassen; Man denke an Hans Werner Henze, der von 1969 bis 1970 in Kuba lebte – und dessen 1970 im Haus der Berliner Festspiele uraufgeführte Komposition El Cimarrón zu einem äußerst beliebten Werk der Avantgarde wurde.)

Marta Valdés unternahm darüber hinaus zahlreiche Tourneen durch Südamerika, gewann Auszeichnungen für ihre Alben, vertonte Federico García Lorca, erhielt 2007 den Kubanischen Nationalpreis für Musik und engagierte sich als Vizepräsidentin der Sociedad Coubana de Compositores (nachzulesen bei Martha Furman Schleifer / Miguel Ficher / John M. Furman: Latin American Classical Composers: A Biographical Dictionary).


Marta Valdés (* 1934)
Hay Todavia una Cancion. Boleros de Oro (ca. 1985)

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Die Lieder von Marta Valdés, dokumentiert auf mehreren Alben, sind nie rein gefällig. Sie geben sich einerseits versunken in Text und Musik, andererseits modulieren sie sehr stark. Raúl Martínez hebt in seinem Aufsatz Geschichten von Herzblut und Liebeskummer. Der kubanische bolero den Modernitätsanspruch der Künstlerin prägnant heraus: »Die sechziger Jahre [der kubanischen Musikgeschichte] waren von einer gewissen Mittelmäßigkeit geprägt, durch die Integration und Produktion von ›Eintagsfliegen‹-Rhythmen für den breiten Geschmack. Hinzu kam, dass wichtige Musiker und große Interpreten der canción und des boleros das Land verließen. Dem bolero und seinen Sängern wurde in den Massenmedien und auf dem Musikmarkt wenig Förderung zuteil; man sang ihn nur noch in Cabarets wie dem ›Salón Rojo‹ des Hotels Capri [in Havanna], dem ›Cañitas‹ im Hotel Habana Libre oder dem ›Palermo‹, die dann aber nach und nach geschlossen wurden. Aber talentierte Komponisten ließen sich nicht beirren und schufen trotz dieser Widrigkeiten weiterhin wahre Musterbeispiele des Genres […]. Eine besondere Erwähnung verdient die Komponistin, Gitarristin und Interpretin Marta Valdés (1934), die aus der filin-Atmosphäre heraus prachtvolle und sehr moderne boleros schuf, wie Tú no sospechas, En la imaginación, Y con tus palabras, Llora, llora, die wegen ihres Schwierigkeitsgrades, wie sie selbst sagt, nur wirklich großen Interpreten vorbehalten sind.« 

Ungefähr 1985 entstand der Valdés-Song Hay Todavia una Cancion, den wir selbstverständlich von Marta Valdés selbst hören. Nachdenklich, fast destruktiv gibt sich der Text zunächst: Es gibt ein Lied, das meine Gedanken durcheinander wirbelt. Entscheidungen wollen getroffen, Probleme bewältigt werden, es gibt vieles, das meine Aufmerksamkeit verlangt. Aber es gibt auch ein Lied, das sich fast wie eine Hymne gibt; eine Hymne, die feiert, dass du zurückkommst!

So ein bisschen schwingt der sozialistische Vibe Kubas mit. Der Verweis auf die »Aufgabe«, auf das »Werktätige«, das dann aber – sehnsüchtig – (auch) ins Private »abgelenkt« wird. Probleme gibt es überall. In der Politik und in der Liebe. Doch die Hoffnung bleibt!

Wunderbar verschachtelt singt uns Marta Valdés die Zeilen ihres selbstgedichteten Textes. Nach einer schlichten Gitarren-Einleitung vernehmen wir typisch elegisch-leidenschaftlich Melodie-Anflüge nach oben; diese Anflüge werden immer wieder mit melodischer »Erdung« kontrapunktiert. Herrlich klingt die Stimme von Valdés in der Tiefe. Diese Fähigkeit nutzt sie – und hat dafür viele große Sprünge nach unten komponiert. Nicht einfach zu singen! Ohrwurm-Potential. Kein Bolero-Lied wie jedes andere. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.