Natürlich kann man den Track noch einmal starten, die Platte wieder neu auflegen, alles auf Anfang, da capo. Aber das gleiche ist bekanntlich nie dasselbe. Schon vorbei, während sie noch erklingt: Musik ist immer auf der Flucht. Besonders hart trifft dieses Phänomen alle Jahre wieder die Besucher des ältesten und wichtigsten Uraufführungsfestivals der Welt. Die Herausforderung für sie besteht vor allem darin, nicht am Abend schon vergessen zu haben, was sie nachmittags hören.
23 Uraufführungen waren es diesmal bei den Donaueschinger Musiktagen. 7 Werke von Komponistinnen, 15 von Komponisten, verteilt auf 3 Tage, 10 Konzerte. Ein männerdominiertes Programm, nach wie vor. Dazu ein Film, eine Podiumsdiskussion sowie zwei Klanginstallationen, die – wieder einmal – die entsprechenden historischen Wasser-Orte im Schlosspark bespielten. Eine, von Daniel Ott und Enrico Stolzenburg, soll den Donaueschinger Bürgern sogar dauerhaft erhalten bleiben.
Sie ist eine Zugabe zu dem Happening Donau/Rauschen, mit dem Ott & Co im vorigen Jahr die Stadt aufgemischt hatten, heißt Zusammen Fluss und befindet sich an der etwas unwirtlichen Stelle am Rande des Parks, wo die Breg und die Brigach zusammenfließen. Ab hier heißt das Gewässer Donau. Das Wasser-Thema ist seit Jahren ein Dauerbrenner in Donaueschingen, Otts neue Installation ist zwar erschreckend gedankenprall (»Nur zusammen sind wir Fluss«), aber in der Praxis ziemlich klein. Zwei Gulli-Deckel. Darunter verbergen sich Lautsprecher, die im Halbstunden-Loop zarte Zivilisationsgeräusche absondern: eine Straßenbahn, Demogeschrei, ein startendes Flugzeug. So etwas.

Als ich vorbeikam, gab es zusätzlich gerade eine kleine Livemusik: Der Komponist Manos Tsangaris, als Gast, klopfte und kratzte mit Steinen, Glas und Metalldeckeln auf den Gullis herum und knisterte mit Papier, und zwar nach »Noten«. Das war lustig. Wir haben andächtig im Kreis drumherum gestanden. Haben an des Kaisers neue Kleider gedacht. Und uns gefragt, warum – obwohl doch, von seiten bildender Künstler, schon so viele hintersinnige, sinnlich klingende Skulpturen erschaffen wurden (zum Beispiel Lexichaos von Stephan von Huene, unlängst im Berliner Pierre-Boulez-Saal gezeigt) – andererseits die klangkünstlernden Musiker und Komponisten, durchaus schon betagt und in Ehren ergraut, mit ihren Projekten bis heute nicht aus den Kinderschuhen des Lustigseins herauskommen.
Die Frage wurde zwar später diskutiert, blieb aber ungelöst. Das ist mit das Beste an Donaueschingen: diese planlos geführten Diskurse drumherum, diese vielen nie zu Ende geführten Gespräche. In den Pausen, auf den Spaziergängen, im Foyer, bei einer Kürbissuppe im Stehen oder einer Zigarette. In diesem Jahr tauchte, gleich am ersten Tag, ein Gerücht von außerhalb auf, wie ein schwarzer Schatten. Ob Klaus Lauer gestorben sei? Einige hielten das für ausgeschlossen, darunter auch ich. Andere wussten sicher, dass dem so sei. Dass er an Parkinson erkrankt war, wussten alle. Wirklich, dieser große Mann und Freund starb, wie einen Tag nach Abschluss der Musiktage durch seine Todesanzeige erwiesen wurde, drei Tage vor Beginn des Festivals. Er hatte selbst ein Neue-Musik-Festival kuratiert, als Hotelier, vierzig Jahre lang, eines, das ohne öffentliche Mittel funktioniert hatte, weil er, mit seiner Leidenschaft für die Moderne, persönlich dafür einstand – ganz so, wie es einst auch der alte Fürst zu Fürstenberg gehalten hatte, in den Donaueschinger Gründertagen.
Diese Figur wurde schon historisch, als Lauer noch mitten unter uns war. Ein privates Engagement wie das Lauersche ist heute, jedenfalls im Reich der Musik, verdorrt und versickert. Dabei wäre es nötiger denn je im Kleinklein der ahnungslos-bürokratischen Subventionskultur. Lauer hatte sich für seine »Römerbad-Musiktage« in Badenweiler ein neues Publikum herbeigewünscht, das, wie er selbst, neugierig war auf das Neue. Das gelang. Man reiste an, auch von weither. Und zahlte – ganz ohne »Education«-Maßnahmen. Lauer schuf für sich und seine Gäste, Zuhörer wie Musiker, vor allem aber für mit ihm befreundete Komponisten wie Boulez, Ligeti, Kurtág, Rihm und viele andere mehr eine Sphäre kreativer Freiheit, allen Kunstwidrigkeiten zum Trotz, und ganz ohne Vorgaben, modische Motti, etwa gar Dogmen.
Es gibt, sagt man, keine Zufälle: Gleich zwei Konzerte zu Beginn der diesjährigen Donaueschinger Musiktage trugen ein solches außermusikalisches Motto vor sich her. Sie waren, im Auftrag der »Musik der Jahrhunderte« dem Thema Parkinsonsche Krankheit gewidmet. Auch die Besetzung war gegeben: eine Bassklarinette (gespielt von Gareth Davis), dazu die kostbaren Stimmen der Neuen Vocalsolisten Stuttgart. Die Idee an sich ist nichts Neues, wenn auch nicht unumstritten. Bereits seit Jahren ist die Musikalisierung physischer Grenzerfahrungen der menschlichen Existenz und deren Leiden im Schwange, dabei ging es um Autisten, Gehörlose oder Komapatienten. Der Oper Koma von Georg Friedrich Haas blieb vor Jahren, als ihr zu einer Wiener Aufführung Live-Videos einer Patientin aus der Intensivstation zugespielt wurden, der Vorwurf des Voyeurismus nicht erspart. Iris ter Schiphorst ging dem nun mit ökonomisch und kühl eingesetzter elektronischer Wucht aus dem Weg. Sie fügte der Besetzung ein Zuspielband mit den Aussagen einer an Parkinson erkrankten Patientin hinzu, teils verfremdet, übermalt und übersetzt. In den flächigen live gesungenen Passagen zerschellte die virtuose Stimme des Bassisten Andreas Fischer immer wieder an der tief in dem Abgrund der Verzweiflung wühlenden Bassklarinettenklage. Viel Pathos war da im Spiel. Scharf schlugen da die letzten Worte zu: »Ist das ein Mensch? Ein Mensch?«

Der amerikanische Komponist Evis Sammoutis lehnte sich in seinem Parkinson-Stück namens In darkness an den Text eines berühmten Liedes von John Dowland an. Viele weitere klug ersonnene Ebenen der Artikulation neutralisierten sich gegenseitig, auch der Effekt der durch die Luft wirbelnden, zischenden (Klang)-Schläuche wirkte äußerlich. Bernhard Lang hatte zu dem Thema gleich eine handwerklich fast perfekte, komplette Video-Oper komponiert, illustriert durch Fotos, Zeichnungen und Notizen der an Parkinson erkrankten Architektin May Kooreman. Dieses »Quasi-Libretto« wurde zum Leitfaden einer leicht zu verfolgenden »Literatur«-Oper, mit Live-Loops, im Raum verstärkt. Nicht zuletzt dank der hinreißenden Performance der Vocalsolisten fesselte das Werk. Für eine gute Weile. Es dauerte aber dann doch leider länger. Ich würde es trotzdem oder gerade deswegen gerne noch einmal erleben, womöglich verschwindet dann dieser Effekt des Déjà-vu.

Vielleicht, weil er selbst in seinem früheren Leben Arzt gewesen war, hatte der vierte in diesem Bunde, Nikolaus Brass, das Thema Parkinson lieber links liegen lassen. Er wählte sich ein anderes, ein politisch aktuelles. Als einziger Komponist in diesem Donaueschinger Jahrgang reagierte er auf die Zeitenwende des 24. Februar 2022. Hatte sich, der kurzen Programmbuchnotiz zufolge, offenbar so ergeben. Kein plakativer Aufschrei. Vielmehr ein Langzeit-Thriller, ein stilles, intensives Stück. Und eines der besten, die in diesem Jahr zu erleben waren: Heliotrop wendet sich in den spektral gefärbten Harmonien letztlich vorsichtig, wenn auch nicht ohne Hoffnung, dem Licht zu. Die Vocalsolisten atmen, ächzen und summen. Sie singen ineinander fließende Vokalisen zu, die hoch hinauf steigen. Schlagen sich fast lautlos auf Brust und Wange, streichen knisternd an ihren Ärmeln entlang. Diese Klanggestik sinkt ab ins Unhörbare, so leise und zerbrechlich, dass durch die doppelt geschlossenen Türen im Mozartsaal der Donauhalle das Gerede des Aufsichtspersonals hörbar werden kann. Ein unverständliches, wahrscheinlich auch unwichtiges Gemurmel. Ein Gruß aus der Wirklichkeit.
Donaueschingen ist eine Blase, ein Ufo, das nicht aus der Zukunft kommt, sondern tief aus der Vergangenheit. »Die Suche nach etwas Neues ist endlos«, sagt dazu eine vertraute Stimme aus dem Off, mit französischem Akzent, in der Intro-Sequenz des Films Ohren auf!, der im vorigen Jahr zum Thema »Hundert Jahre Donaueschinger Musiktage« gedreht wurde: unverkennbar Pierre Boulez. Ihm wird, später im Film, der vor fabelhaftem Archivmaterial fast aus den Nähten platzt und von zwei Frauen gedreht wurde – Bettina Ehrhardt und Anette Fleming –, rabiat widersprochen. Da behauptet plötzlich nämlich eine dritte Frau, die mehrfach preisgekrönte Komponistin Rebecca Saunders, im Brustton der Überzeugung, es gäbe nichts Neues mehr. Alles schon mal da gewesen. Nur für all diejenigen, die das klingende Material, das Alte, Bekannte mithin, noch einmal anfassen, so Saunders, könne es wieder neu werden, für einen Augenblick.
Der Originalgeniegedanke ist tot. Die (eventuell allzu mechanisch-männliche) Fortschrittsidee ist obsolet. Dieser Gedanke zieht sich – als Verdacht – nicht nur durch die gesamte Filmdoku, die während des Jubiläums der Musiktage 2021 entstand und heuer im Donaueschinger Kommunalen Kino »Guckloch« uraufgeführt wurde; er umschreibt auch perfekt die Tendenz des diesjährigen Festivals: kein Schritt vorwärts, dafür zwei zurück. Das »Guckloch« übrigens liegt ganz am Ende der Welt. Wieviele Schlachtenbummler es dorthin geschafft haben, kann ich nicht sagen. Aber Ohren auf! ist für ein Jahr noch in der ARD-Mediathek zu sehen und, allein der fantastischen Archivaufnahmen halber, ein Must-See.
Den Preis des SWR-Symphonieorchesters für das beste Orchesterstück gewann die polnische Sängerin und Komponistin Agata Zubel, es handelte sich dabei aber eigentlich eher um eine Oper, die sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit begibt und den Titel Outside the Realm of Time trägt. Der Clou dieses stark posaunenbewaffneten Nostalgietrips, so versprach es das Programmbuch, sollte die als Hologramm in verschiedenen Rollen, Kostümen und opernhaften Gesangspartien auftretende Komponistin selbst sein, die dem sattkoloriert aufgestellten SWR Symphonieorchester die raffinierten Klangschichtungen der Zwischenspiele geradezu perfekt in die Instrumente geschrieben hatte. Auch das SWR Experimentalstudio soll mit von der Partie gewesen sein.
Nur: Der Clou klappte einfach nicht. Das Hologramm hatte nichts Gegenständliches. Es sah aus wie eine Projektion, ein Video. Und das war es auch. Wie später beiläufig zu erfahren war, konnte die Hologramm-Idee Zubels aus Kostengründen nicht umgesetzt werden. Der Text dagegen, polnisch, durfte geraten werden. Die englische Übersetzung auf den eingeblendeten Tafeln war so winzig, dass das Publikum mehrheitlich nicht erfuhr, worum es ging. Ein großartiges Stück, bei der Uraufführung suboptimal präsentiert. Auch das ist nichts »Neues« in Donaueschingen. Tröstlich, dass der Preis eine Wiederaufführung garantiert: Es wird noch eine zweite Chance geben.

Etwas sehr Altes fasste Thomas Meadowcroft noch einmal neu an. Er zelebrierte das Easy Listening des klassischen Bigband-Sounds und schraubte sich ironisch- harmonisch durch die Tonarten, Sequenz für Sequenz. Die Bläser gaben ihrem Affen Zucker. Auch das SWR-Symphonieorchester unter dem Dirigenten Pascal Rophé hatte bannigen Spaß, wie auch alle Zuhörer, selbst diejenigen, die partout keine kleinen und großen Terzen, Dur oder Moll, mehr hören möchten. Deshalb fiel das Stück namens Forever Turnarounds erwartungsgemäß sofort in Ungnade, selbst ein »Buh« wäre zu viel der Ehre gewesen. In den ersten Bilanzen im Foyer, bei der Kürbissuppe, fiel es durchwegs unter den Tisch. Schade. Und Glückwunsch an den kraftvollen Meadowcroft, der mutig gegen den Strom schwamm.
Mit dem Strom schwammen, einsam und allein, zwei woke Themen: Kinder und Diversity. Das Letztere wurde ganz hervorragend vom Ensemble Modern unter Leitung von Vimbayi Kaziboni zelebriert. Sie füllten die elaborierten, phantasievoll aufgebrezelten Klangbänder der Plantagenmusik shoutin forever in the receiver von Hannah Kendall mit prallem Leben. Warum Kendall die Aufzählung der afrikanischen Stämme ausgerechnet mit einer glockenspielzärtlichen Ode an die Freude illustrieren musste, bleibt ihr Geheimnis. Wiederhören muss man diese Komponistin unbedingt.
Kinder gehen ja eigentlich immer. Viel diskutiert wurde deshalb eine Orchesterbearbeitung einer Schallplattenaufnahme aus dem Jahr 1943 von einer Brahmskomposition eines berühmten Kunstwiegenliedes namens Die Blümelein, sie schlafen. Genitiv häufte sich auf Genitiv. Auch musikalisch folgte Schleppe auf Schleppe, Ableitung auf Ableitung. Kunstvoll garnierte Arnulf Hermann seine Orchesterparodien auf die Bruchstücke des Liedes, das er in horrorfilmmusikartige Erinnerungsspuren zerlegte. Hoch oben drehten sich zwei glänzende kleine Lautsprecher, in unterschiedlicher Geschwindigkeit, auf dass sich Ein Kinderlied (Dämonen) raummusikalisch an den Wänden brechen und echt gruselig klingen sollte. Klappte nicht ganz. Das Stück war einfach nur gut gebaut und sehr nett. Pech dagegen hatte das mit Zitaten und Effekten überladene Ensemblestück Children’s Songs des dänischen Komponisten Christian Winther Christensen, in dem die Schlagzeuger des Ensemble Ascolta aus Legosteinen eine Villa Kunterbunt bauten, zu einem finalen Grundbass, wie von Purcell, wobei, pünktlich zum Schlussakkord, das Licht anging in den Fenstern. Das führt zu besonders ungnädigen Buhs.

Mein Lieblingsstück in diesem Jahr war Stock Footage Piece 2: Type Beats von Malte Giesen. Kammermusik vom Feinsten, eine Fülle von sauber durchgearbeiteten musikalischen Diebstählen, fröhlich hiphopend und mit den, wie Giesen es nennt, »klassischen Techniken des Remixings: Sampeln, Zerschneiden, Loopen, Shuffeln«. Und: Scratchen. Ein Riesenvergnügen. Mein Lieblingsensemble war das polnische Kwadrofonik, das diese Uraufführung nebst noch drei anderen interessanten Stücken mit musikantischem Furor bewerkstelligte.
Aber auch mit den aus der Abteilung Alte Meister hinzuprogrammierten Werken bin ich, aus ganz persönlichen Gründen, nicht unzufrieden gewesen: Alexander Goehrs Double Chaconne with Gaps, Peter Ruzickas Violinkonzert Eingedunkelt nach Paul Celan und der von Georg Friedrich Haas breit ausgewalzte biographische Einfall zu dem Orchesterstück Weiter und weiter und weiter, das allerdings nicht weiter ging, sondern vielmehr wie Haydns Abschiedssymphonie aufhörte, indem die Musiker des Ensemble Modern aufstanden und nach Hause gingen.
Vielleicht werden solche Scherze im nächsten Jahr nicht mehr möglich sein. Die Donaueschinger Musiktage sind mal wieder an einem historischen Wendepunkt angelangt. Ab 2023 wird mit Lydia Rilling eine starke Frau antreten, sie hat versprochen, die Musiktage neu zu definieren und unter anderem an das digitale Zeitalter zu gewöhnen. Dieser Jahrgang war vielleicht der letzte, der es, so wie ein Kessel Buntes, allen Recht machen wollte. Zusammengewürfelt aus dem vom Coronastau Übriggebliebenen und aus den Resten der Ära Björn Gottstein, der die Leitung vor einem Jahr niedergelegt hatte. Niemand war so richtig zuständig. Wir werden das eines Tages ganz sicher vermissen. ¶