Wenn man mit den ehemaligen Kolleg:innen der Altistin Dina König spricht, betonen sie immer, wie hoch das musikalische Niveau der Sängerin ist. Vielen scheint es wichtig, das zu erwähnen, seit König im September 2020 ihre Gesangskarriere aufgab, nachdem sie eine Zusage für eine Stelle als Tramfahrerin bei den Basler Verkehrsbetrieben bekommen hatte.
Musiker:innen betrachten den Ausstieg aus der Branche häufig mit einem leichten Argwohn – auch wenn man danach Arzt oder Immobilienmaklerin wird –, weil Musik Berufung und kein Beruf sei. Aber Tramfahrerin zu werden, scheint besonders radikal, weil der Job dem Konzertsaal und seinen Klischee-Gästen so fern liegt – oder dem Hörgenuss sogar manchmal im Weg zu stehen scheint: Als im September 2020 das Sinfonieorchester Basel den renovierten Konzertsaal im Stadtcasino eröffnet, betonen die Akustiker, wie wichtig es ihnen war, dass die Trams am naheliegenden Barfüsserplatz die Musik nicht stören.
König wird 1991 in Karaganda, Kasachstan als Urenkelin eines berühmten Sängers und Dombra-Spielers geboren. Als König zwei oder drei Jahre alt ist, beobachtet eine Freundin ihrer Mutter sie beim Singen und Tanzen. Diese Freundin erzählt, dass König schon damals perfekt intoniert. Sie beginnt ihre künstlerische Früherziehung an einer örtlichen Musikschule. Weil die Familie deutsche Wurzeln hat, zieht sie im Alter von fünf Jahren mit ihrer Mutter, die als Pflegerin für schwerbehinderte Kinder arbeitet, nach Eggenfelden in Niederbayern. Mit sieben Jahren erhält König Klavierunterricht und Stimmbildung, zwei Jahre später kommt noch Geigenunterricht dazu.
Als Jugendliche erlebt König eine musikalische Krise. »Ich hatte keinen Bock mehr auf nichts«, erzählt sie. Trotzdem singt sie privat Jazz, Pop und Musicals. Als sie mit sechzehn mit der Schule fertig wird, ermutigt sie ihre Mutter, sich für eine bayerische Berufsfachschule für Musik zu bewerben. Damit startet für König die ernsthafte Auseinandersetzung mit der klassischen Musik. In den kommenden Jahren entwickelt sie einen klaren, ehrlichen Blick auf einen Beruf, der eben nicht für alle nur Berufung ist.
VAN: Warum hast du dich nach der Schule für eine Weiterbildung an der Berufsfachschule für Musik entschieden?
Dina König: Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich habe an etwas Praktisches gedacht. Ich glaube, meine Gesangslehrerin hat erzählt, dass es diese Berufsfachschule für Musik gibt. Ich hatte gar keine Lust, aber meine Mutter meinte: ›Das musst du probieren, du musst Musik machen.‹ Ich habe dort Klavier vorgespielt, das war natürlich eine Katastrophe. Dann hat meine Mutter gesagt, ›Komm’, wir probieren es mit Gesang.‹ An einer Schule gab es eine Gesangslehrerin, die mich gehört hat. Sie hat gesagt: ›Wenn du übst, wird das gut.‹
Meine Mutter und meine Gesangslehrerin haben mich sehr unterstützt. Es war aber auch, glaube ich, dieser Wunsch von meiner Mutter, dass ich an die Musikhochschule gehe. In Kasachstan und Russland hat das großes Prestige. Ich hätte mir gewünscht, tatsächlich Musical-Gesang zu studieren, aber viele Leute, auch meine Lehrerin, haben mir gesagt: ›Das ist schwierig und nicht gesund für die Stimme. Die Leute sind früh fertig.‹
Klassik ist doch auch eine schwierige Branche.
Ja, aber sie sahen für mich dort mehr Potenzial.
Wie ging es dann weiter?
Ich wurde ungeplant schwanger. Ich habe mich entschieden, das Kind zu behalten. Ich hatte also mitten in der Berufsschule einen Sohn. Ich musste überlegen, was ich mache. Mir wurde dieses Ziel gegeben: Ich muss singen, ich muss an eine Musikhochschule. Ich habe in Frankfurt, München, Salzburg und durch eine Freundin in Basel an der Musikhochschule und der Schola Cantorum vorgesungen. In Basel wurde ich an beiden Hochschulen genommen. Aber ich habe mich in diesem – Entschuldigung! – modernen Scheiß nie wohlgefühlt. Ich habe versucht, die Standard-Mezzosopran-Rollen zu singen, aber das war alles nicht meins. Dann habe ich die Alte Musik entdeckt, und bemerkt: Ich kann jede Altpartie singen, kein Problem. Im September 2012 habe ich angefangen, an der Schola zu studieren.

Bist du mit deinem Sohn nach Basel gekommen?
Ja. Wenn ich jetzt zurückblicke, denke ich mir: Welcher Teufel hat mich geritten? Ich war unglaublich jung, alleine mit einem Kind. Aber ich habe es geschafft zu studieren und Mutter zu sein. Im dritten Jahr meines Bachelors habe ich schon Engagements bekommen, ich bin froh, dass ich schon früh einen Fuß in die Welt der professionellen Musik setzen konnte.
Ich war zweiundzwanzig und habe für eine Solopartie in einer Ballettproduktion von Vivaldis Juditha triumphans mit La Cetra und Andrea Marcon vorgesungen. Ganz plötzlich habe ich mir die Hälfte der 22 Vorstellungen mit der anderen Solistin geteilt. Es war grandios, ich war auch wirklich sehr dankbar. In meinem ersten Master-Jahr war ich dann eigentlich schon voll dabei. Ich hatte jeden Monat zu arbeiten in Basel oder auch woanders. Ich war schon froh, aber es war tatsächlich sehr intensiv: zu studieren, zu arbeiten, und Mutter zu sein – aber es ging irgendwie. Ich weiß nicht wie, aber es ging.
Warst du gern auf der Bühne?
Mit der Geige und mit dem Klavier nie, ich hatte immer Angst. Ich war gut in meinem Zimmer – aber sobald ich auf die Bühne musste, habe ich die Kontrolle über die Hände verloren. Gesang war das Einzige, wo das nicht so war. Ich hatte das Gefühl, es war für mich wie eines der wenigen Ausdrucksmittel. Ich habe gerne für das Publikum gesungen und gern mit Leuten zusammen musiziert. Das war sehr schön.
2017 hast du deinen Master an der Schola Cantorum in Basel abgeschlossen, 2019 noch einen zusätzlichen Master in Musikpädagogik in Zürich. Dann kam Corona.
Sagen wir es mal so: Corona war der zeitliche Auslöser aufzuhören, aber nicht zwangsweise der Grund. In meinem ersten Jahr als freischaffende Musikerin hatte ich viele Jobs. Corona hat in der Hinsicht wehgetan, weil es super Engagements waren. Aber es gab schon Momente in diesen Jahren, in denen ich mich eigentlich unwohl gefühlt habe: viele Tourneen, weg von zu Hause, vom Hotel zum Flughafen, mit dem Telefon im Hotelzimmer allein sein. Im November 2019 hatte ich einen wirklichen scheiß Gig: scheiß Musik, scheiß Bezahlung, scheiß Dirigent. Ich kam nach Hause und ich habe gemerkt, dass ich leicht depressiv war.
Dann kam Corona. Es fiel – wie für viele, denke ich – einfach alles zusammen. Persönlich, beruflich. Zwei oder drei Wochen wusste ich nicht, was ich machen soll – mit meinem Sohn, finanziell und überhaupt. Ich hatte noch einen Studienkredit. Ich habe zwei oder drei Wochen lang geheult. Dann habe ich gesagt: Okay, ich muss was machen. Ich habe gesagt: Alles, nur nicht am PC sitzen. Krankenschwester oder Altenpflegerin, bei der Post, Lokführerin bei der Schweizer Bundesbahn, Polizistin… und dann kamen die Basler Verkehrsbetriebe.
Im September letzten Jahres bekam ich einen Anruf, dass ich die Stelle als Tramfahrerin bekommen habe und im März 2021 anfangen könnte. Ich war so glücklich. Das erste, was ich gemacht habe, nachdem ich den Vertrag unterschrieben habe, war, alle musikalischen Projekte, die noch anstanden, sofort abzusagen.
Hat es dir Freude gemacht, diese Projekte abzusagen?
Bei manchen schon: tatsächlich sagen zu können: Ich muss das nicht mehr machen. Viele Projekte muss man singen, damit es finanziell funktioniert, auch mit Leuten, von denen man miserabel behandelt wird, ohne Respekt. Oder mit einer unterirdischen Bezahlung. Das verdient kein Musiker.
Es gibt viele Künstler:innen, die irgendwann nicht mehr so viel reisen wollen oder können. Oft entscheiden sie sich einfach weniger zu spielen, arbeiten aber weiterhin als Musiker:innen. Andererseits kommen viele Interpret:innen auch aus wohlhabenden Familien und können sich das leisten. War es für dich eine Möglichkeit, weniger – aber trotzdem weiter – zu singen?
Die finanzielle Seite war wichtig. Man merkt, vor allem beim Singen, wie fragil das ist. Ich habe mir mal irgendwas eingefangen, ich war drei Wochen nicht fähig zu singen: dreieinhalb Tausend Euro, oder mehr – tschüss. Auf der anderen Seite: Ich habe leider das Gefühl, – ich wünschte es wäre anders – dass ich ein Mensch bin, für den es entweder schwarz oder weiß ist. Viele haben mich gefragt, warum ich so einen Cut gemacht habe. Bei vielen Sachen in meinem Leben ist das besser für mich gewesen. Viele fragen auch, ob ich später zurückkomme, oder zum Teil Tram fahre, zum Teil singe. Ich weiß es nicht. Aber ich habe in den letzten zwei Jahren jeglichen Spaß am Singen verloren. Ich habe es mental nicht mehr ausgehalten. Wenn du solistisch unterwegs bist – ich kann mich nicht vergleichen mit den Leuten, die an der Scala oder dem Zürcher Opernhaus singen – aber mir hat das schon gereicht, diese Ellenbogen zwischen den Sängern. Man kann nicht nur die guten Projekte machen, oder nur mit den Leuten, die man mag. Den Luxus, mir das aussuchen zu können, hatte ich noch nicht.

Viele etablierte, oft männliche Künstler haben in der Pandemiezeit gesagt, dass sie die zusätzliche Zeit mit ihren Familien genossen haben und in Zukunft weniger unterwegs sein möchten. Meinst du, dass es einen Unterschied gibt, wie Männer und Frauen in der Klassik in Hinblick auf ihre Familien wahrgenommen werden?
Ja, ich denke, es ist sowieso allgemein anders für Frau und Mann. Wenn du eine Frau und alleinerziehend bist, ist das eigentlich kein guter Beruf. Ich merke es jetzt im Rückblick: Ich hätte es nicht gedacht, wie männerdominiert und ein bisschen machodominiert der Musikerberuf noch ist. Wahrscheinlich weniger als früher, aber trotzdem extrem.
Man sieht schon die Dirigenten – nicht alle, aber genug – die ihre Situation, ihre Macht, ausnutzen: mental, verbal, körperlich. Ich finde es unprofessionell, wenn Dirigenten persönlich werden oder meinen, man ist deren Puppe, auch musikalisch gesehen. Was mich persönlich auch fertig gemacht hat: die vielen verheirateten Männer, mit Familien, mit Frau und Kindern, die, wenn sie weit weg sind und an einem Projekt arbeiten … Es gab viele hübsche junge Frauen am Abend in den Bars, auf den Hotelzimmern, und das schien für niemanden ein Problem zu sein. Ich fand es zum Kotzen. Jeder darf machen, was er will – aber ich habe gemerkt: Das ist nicht mein Ding.
Ich bin Altistin. So oft habe ich den Satz gehört, ›Du hast es so einfach, du musst nicht gegen die ganzen Soprane kämpfen.‹ Moment, ich muss aber gegen all die Countertenöre kämpfen, die oft bevorzugt werden, weil es dann heißt: ›Ein Mann mit einer solchen Frauenstimme ist viel historischer.‹ Bei manchen Vorsingen wurde ich nicht mal eingeladen, für die gleiche Stimmlage, weil ich kein Mann bin.
Hat sich in der Zeit, in der du viel unterwegs warst und Gigs gesungen hast, deine Beziehung zu deinem Sohn verändert? War das mit ein Grund, warum du mehr zu Hause sein wolltest?
Die Sache begreife ich erst jetzt. Meine Rolle als Mutter und die Beziehung zu meinem Sohn hat darunter extrem gelitten. Ich habe viele wichtige Momente verpasst. Klar, man verpasst immer etwas, man hat immer einen Job. Aber da habe ich schon sehr viel verpasst. So viel weg zu sein, mal zwei, drei Wochen am Stück. Man sagt, die ersten sieben Jahre sind eigentlich die Prägendsten. Mein Sohn war nicht sehr anhänglich, aber irgendwann kam eine Zeit, in der er mich bestraft hat, indem er mich ignoriert hat.
Im Nachhinein denke ich mir: Das ist die Sache, die am meisten wehgetan hatte. Ich kann es ihm nicht übel nehmen.
Was ist anders im Umgang mit deinen Kolleg:innen bei den Verkehrsbetrieben im Vergleich zur Musikbranche?
Du arbeitest zum größten Teil allein. Du siehst deine Kollegen meistens nur, wenn du wechselst oder Pause hast. Aber ich finde es einen sehr respektvollen Umgang. Was ich sehr anders finde, ist, dass es verschiedene Menschen von überall gibt, aber nicht die Einstellung, ›Ich bin etwas Besseres als du‹. Das hatte ich in der Musik sehr oft. Hier ist es einfach: ›Ey Kollege. Wie war es? Wie war der Dienst? Ah ja, der Scheiß-Autofahrer.‹ So ist das sehr menschlich, sehr sozial. Hier sind natürlich mehr Männer als Frauen. Aber es ändert sich, und ich habe das Gefühl, es gibt dieses Macho-Getue nicht. Du bist eine Frau, aber du wirst respektiert. Du kannst das auch, und das ist gut.

Wie ist der Umgang von deinen Musikerkolleg:innen mit der Entscheidung, den Beruf zu wechseln? Ich finde, dass Musiker:innen oft nicht wissen, wie sie mit anderen Berufsgruppen umgehen sollen.
Die Reaktionen waren immer sehr unterschiedlich. Die meisten haben verständnisvoll reagiert, einige natürlich auch gar nicht. Manchen ist es egal. Man sieht, wie schnell man in dem Beruf vergessen wird. Es gibt genug Altistinnen. Ganz wenige haben gesagt, dass sie es sehr schade fanden. Als ich damals erfahren habe, dass ich den Job bekommen habe, war ich auf einem Projekt. Ich bin ganz glücklich herumgerannt, habe einem Musiker-Freund davon erzählt, und er meinte, mit so einem Lamento-Gesang, ›Meine Dina, nein …‹.
Seitdem du im März 2021 angefangen hast, Vollzeit bei den Verkehrsbetrieben zu arbeiten, hat sich etwas an deiner Beziehung zu deinem Sohn geändert?
Im Corona-Jahr war ich überhaupt mal zu Hause und konnte eine wirkliche Bindung, einen wirklichen Kontakt zu meinem Sohn aufbauen. Jetzt finde ich es schön, jeden Tag nach Hause zu kommen. Ich habe das Gefühl, meinem Sohn tut es auch gut.
Was sagt deine Mutter zu deiner Entscheidung?
Mittlerweile akzeptiert meine Mutter es, aber für sie war es sehr schwierig. Sie konnte es gar nicht glauben. Sie hat gesagt: ›Das geht nicht. Du hast so viel Zeit und Energie investiert und du bist eine Sängerin, du bist eine Musikerin, du kannst gar nichts Anderes.‹ Es war schwierig. Mittlerweile sieht sie, dass ich glücklich bin. Ich denke, sie hat immer noch die Hoffnung, dass ich ein Comeback habe. Es war für sie ein Traum, dass ich das mache. Wie soll ich sagen: Ich habe verstanden, dass das ihr Traum ist, nicht meiner.
Singst du noch?
Ja, zu Hause, oder ich ertappe mich beim Singen in der Tramkabine.
Was für Lieder sind’s dann?
Sehr viel Pop-Zeug, viele Ohrwürmer, die ich vielleicht im Radio gehört habe. ¶