Von 1397 bis 1523 firmierten Dänemark, Norwegen und Schweden unter dem Titel »Kalmarer Union«. Dominiert wurde diese Union von Dänemark – und als Hauptstadt des Konstrukts galt Kopenhagen. Im Zuge des »Kieler Friedens« vom 14. Januar 1814 musste Dänemark allerdings Helgoland an Großbritannien und Norwegen an Schweden abtreten. Im Deutsch-Dänischen Krieg unterlag Dänemark schließlich Preußen und Österreich und wurde 1871 Teil des Deutschen Reiches.

In die Zeit der darauffolgenden dänischen Nationalidentitätskrise hinein wurde am 6. Juli 1881 in Drøsselbjerg – an der Westküste Seelands, quasi genau »gegenüber« vom ganz östlichen Kopenhagen – Nancy Hansen geboren. Ihre Kindheit verbrachte Hansen jedoch auf Fünen, also noch weiter westlich. Vater Christian besaß eine Chemie-Firma und so war die Finanzierung von häuslichem Klavierunterricht für seine Tochter freilich keine Schwierigkeit. Als Heranwachsende erhielt sie bald Unterrichtsstunden von dem Geiger, Komponisten und Pianisten Ove Christensen (1856–1909), einem Schüler des dänischen »Nationalkomponisten« Niels W. Gade (1817–1890). Und mit 20 Jahren heiratete Hansen 1901 den Offizier und Ingenieur Erik Dalberg (1875–1945), der als Amateur-Maler und Laiendichter nicht nur selbst privat künstlerische Ambitionen pflegte, sondern die Laufbahn seiner Frau nachdrücklich befürwortete und förderte. 

ANZEIGE

1907 erfolgte der erste öffentliche Auftritt Nancy Dalbergs als Pianistin – mit traditionellem Repertoire: Mozart, Beethoven, Chopin. Wie einige bekannte Klavier-Interpretinnen und -Interpreten, die aufgrund physiologischer Probleme ihre Laufbahn beenden mussten, fokussierte sich Dalberg wegen einer Armverletzung bald aufs Komponieren. Ihr erster Lehrer in diesem Fach war der dänische Geiger und Komponist Fini Henriques (1867–1940), der bei Joseph Joachim gelernt und dem Johan Halvorsen (1864–1935) sein »One Hit Wonder« – die als Zugabe nach dem Brahmsschen Doppelkonzert fast immer gegebene Händel-Passacaglia-Adaption (1900) – zugeeignet hatte.

Ab 1909 wurde der Norweger Johan Svendsen (1840–1911) Dalbergs Kompositionslehrer. Svendsen war ein glühender – allerdings auch etwas harmloser, harmonisch wenig einfallsreicher – Hochromantiker. 1911 starb Svendsen in Kopenhagen, also musste Nancy Dalberg nach einem neuen Lehrer suchen. Diesen fand sie in dem – nach Gade – »anderen Nationalkomponisten Dänemarks«: Carl Nielsen (1865–1931). Nielsen vermittelte Dalberg die Feinheiten in Sachen Instrumentation und ließ seine Schülerin sogar eigene Arbeiten instrumentieren, wie beispielsweise die »dänische Version des Jägerchors«in Fynsk Forår. (Ganz freiwillig ließ Nielsen Dalberg jedoch nicht an seine teilweise schon fertiggestellte Partitur heran. Nielsen hatte zu dieser Zeit mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen und war überdies von weiteren Kompositionsaufträgen derart überfordert, dass er seine Kompositionsschülerin aus diesen Gründen um Hilfe bat.)

1914 wurde Dalbergs erstes Streichquartett uraufgeführt, allerdings nur im Rahmen eines privaten Konzerts. Künstlerisch wirklich durchgesetzt hatte sich die Komponistin zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht. 1917 entstand Dalbergs einzige Symphonie, die heute als der erste Beitrag dieser Gattung von einer dänischen Komponistin gilt. Doch die Rezeption Dalbergs scheint nicht so weit gediehen zu sein, dass man eine Aufnahme dieser Symphonie irgendwo auffinden könnte. 

Auf Grundlage weitgehender finanzieller Sorglosigkeit konnte Nancy Dalberg einige Fernreisen unternehmen. Ein Aufenthalt in Nordafrika machte sich auch musikalisch in den Werken der Komponistin bemerkbar. Beim Schreiben von Liedern verließ sich Dalberg dabei ganz auf dänische Dichter wie Mads Nielsen (1879–1958) oder Hans Hartvig Seedorff (1892–1986).

Nancy Dalberg starb am 28. September 1949 in Frederiksberg im Großraum Kopenhagen im Alter von 68 Jahren.

Nancy Dalberg (1881–1949)
Streichquartett No. 2 g-Moll op. 14, 1. Satz: Moderato (1922)

YouTube video

Der Werkkatalog von Nancy Dalberg erscheint seitens der Musikwissenschaft als unvollständig und unaufgearbeitet. Neben der besagten Symphonie finden wir hier Zwei Orchesterstücke op. 9 (1918), ein paar Lieder und vereinzelte Kammermusikwerke sowie immerhin drei Streichquartette aus den Jahren 1914, 1922 und 1927.

Das zweite dieser drei Quartette schrieb Dalberg im Jahr 1922. Im ersten Satz (Moderato) begegnet uns eine zu Tode betrübe Ton-Reihung, die sogleich in stimmentechnischer Verdichtung erscheint. Gleichsam entwickeln sich durchaus warme Zwischentöne. Möglichkeiten einer Tröstung. Doch die vier Streicher kriechen langsam empor – und formulieren ihre verhalten erregte Klage nun dringlicher, wütender.

Die anfängliche Gleichberechtigung aller Instrumente wird zu Gunsten von aufgeregten Umkreisungen zeitweilig aufgegeben. Bald erklingen erneut tröstende Gebilde – fast schon wie Dissonanz-Auflösungen in einem Kirchenchoral. Nach dreieinhalb Minuten schwingt sich die Musik einmal mehr auf. Motivische Erinnerungen werden aufgegriffen, bringen sich mahnender, abrupter ins Spiel.

Dalbergs Musik ist zunächst gnadenlos introvertiert. Doch aus dem Zustand der wie unveränderlich wirkenden Verschlossenheit ranken utopische Gedanken heraus. Das drängt, ohne dass man sich irgendwie unangenehm erstürmt fühlen würde. Das ist kontrapunktisch und polyphon gedacht, ohne sich selbst stimmungsführungstechnisch zu überladen. Extrem merkwürdige Musik. Eine Musik, die unnachahmlich fragt: »Wohin?« ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.