Das Paradies war gestern. Die Welt von Adam und Eva, Kain und Abel [gemäß alter Transliteration hier Adahm, Chawa, Kajin und Chabel] liegt in Trümmern. Unbewohnbar. Kahle Bäume, ein Autowrack und Geigerzähler sind Zeugnisse einer nicht klar definierten Katastrophe. So hausen die Überlebenden unter der Erde. Eingedeckt mit Vorräten, zwischen Notstromaggregaten, Cornflakes und Dosenessen haben sie sich ihre Welt wie aus einem Möbelkatalog der Achtziger geschaffen. Rechts die hellbraune Einbauküche mit Abzugshaube, Mikrowelle und Vorratsdosen. Links die biedere Couchgarnitur. Hier fläzt im Feinrippunterhemd und Jogginghose der triebgesteuerte Kain. Im Hintergrund Fensterscheiben, durch die eine vermeintlich intakte Welt schimmert, mit grünen Wiesen, blauem Himmel und Sonnenschein.

v.l.n.r. Andreas Bauer Kanabas (Adahm), Ambur Braid (Chawa; sitzend) und Ian Koziara (Chabel) • Foto © Matthias Baus

Alles Fake. Alles kaputt. Wie auch die Urfamilie der Menschheit. Mutter Eva sucht wahnhaft die einstige Liebe, die Adam längst verloren hat. Abel verschreibt sich seinem Gott und Kain ist Sklave seiner Triebe, immer auf gieriger Suche nach dem »wilden, wilden Weib«. Vertrackter könnte die Geschichte kaum sein. Die Empfehlung für die Besucher der Aufführung ab 16 Jahren kommt nicht von ungefähr. Sigmund Freud lässt grüßen, wenn Eva auf der Rückbank eines ausgebrannten Autos die Liebe bei ihrem Sohn Abel zu finden versucht. Kain schlägt dem Bruder für diese ihm versagte Liebe brachial den Schädel mit einem Schürhacken ein. Mehr Zerstörung inmitten dieser kaputten Welt geht nicht.

Iain MacNeil (Kajin; oben) und Ian Koziara (Chabel; unten) • Foto © Matthias Baus

Diese Wucht ist hörbar. Im Kontrast zur eher blumig poetischen Sprache des Librettos nach dem gleichnamigen Werk von Otto Borngräber, welches 1912 als Skandalstück im Königreich Bayern verboten wurde, entfaltet die Musik von Rudi Stephan einen ungeahnt düsteren Sog. Expressionistische Klänge, die noch in der Romantik fußen, aber bereits die Moderne erahnen lassen. Der riesige Orchesterapparat kling hier wie man es nur von Richard Strauss, Gustav Mahler oder Richard Wagner kennt. Schwindelerregende Partien für die vier Solisten, die gemeinsam mit dem Orchester die ausschweifende Dynamik dieses Werks bis an hörerträgliche Grenzen ausreizen. Für diesen wahren Klangrausch hört man schon in der Premierenpause an der Oper Frankfurt Bedauern darüber, dass dies die einzige Oper des Komponisten ist. Rudi Stephan, geboren 1887 in Worms, war ein großes Talent. Sein Handwerk lernte er unter anderem bei Bernhard Sekles, der Ende der 1920er-Jahre die weltweit erste Jazzklasse an Dr. Hoch’s Konservatorium in Frankfurt gründete. Wie Sekles so schaut auch Stephan in neue musikalische Richtungen. Ein bemerkenswertes Detail der Partitur dieser Oper von 1915 ist der riesige Apparat an Schlaginstrumenten sowie ein Saxophon. So exponiert findet man das Anfang des 20. Jahrhunderts sonst meist nur in Werken seiner französischen Komponistenkollegen. Die ersten Menschen sollte sein bedeutendstes Werk bleiben. Die Uraufführung 1920 an der Oper Frankfurt erlebt der Musiker nicht. Mit gerade mal 28 Jahren stirbt Rudi Stephan auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs.

v.l.n.r. Ambur Braid (Chawa) und Iain MacNeil (Kajin; stehend) sowie Ian Koziara (Chabel; nicht sichtbar auf dem Boden liegend) • Foto © Matthias Baus

Das Familienmysterium nach Otto Borngräber definiert der Regisseur Tobias Kratzer in der Frankfurter Inszenierung neu. Im Gegensatz zum ursprünglichen Plot werden bei ihm die ersten zu den letzten Menschen. Die Überlebenden der nicht genau benannten Katastrophe haben ihr einstiges Paradies verloren. Nur Einspielungen einer Super 8 Kamera lassen Erinnerungen daran aufleben: an Nachmittage am Kaffeetisch auf der heimischen Terrasse mit viel Erdbeerkuchen und Kinderlachen. Doch aus den blondschopfigen Kindern sind kraftstrotzende, einsame junge Männer geworden. Kain sucht den Exzess. Abel widmet sich dem Überirdischen, eine verzweifelte Eva und ihr längst in sich zurückgezogener Adam kreisen in ihrem eigenen Kosmos. Ein düsteres Setting mit Brüchen. Wenn Adam Eva eine karierte Küchenschürze als schickes Kleid offeriert, hat das bei aller Tragik auch was Komisches. Ein skurriler Einschub ist zudem ein lebendiger Wolfshund, der quer durch die graue Trümmerlandschaft der Bühne läuft. Inzest, Eifersucht und Brudermord ergeben eine mehr als krasse Geschichte, die in dieser Inszenierung jedoch schlüssig ohne Kitsch und Pathos aufgehen. Trotz brutal erschlagenem Abel und sich selbst entmanntem Kain wird am Ende doch der langersehnte und verzweifelt gesuchte Blick nach vorn möglich. Denn die vermeintlich letzten Menschen sind längst nicht die einzigen. Nach und nach kommen Frauen, Männer und Kinder aus ihren unterirdischen Bunker wieder ans Licht. Die Welt wird sich also weiterdrehen.

Zweieinhalb Stunden fesselndes Musiktheater mit vier ausgesprochen anspruchsvollen Gesangpartien. Die Solisten des Abends Ambur Braid (Eva), Andreas Bauer Kanabas (Adam), Iain MacNeil (Kain) und Ian Koziara (Abel) meistern die, sängerisch wie spielerisch, mit Bravour. 

Jeder einzelne lebt seine Rolle in voller Gänze aus. Ambur Braid wechselt mühelos von tief sinnlichen zu schrillen Klängen. Ihre Angst vor Übergriffen durch den eigenen Sohn kann man ihr allein am panischen Zucken im Gesicht ablesen. Doch egal wie komplex die Partie der Eva ist, immer bleibt sie voll in ihrer Rolle. Ebenso Andreas Bauer Kanabas, der den eher kantigen Part des Adams mit seinem sonoren Bass ausfüllt und so erahnen lässt, dass dessen Gefühle hinter einer Mauer verschlossen sind. Iain MacNeil gibt mit weiter lyrischer Stimme den testosterongesteuerten Kain. Dem gegenüber steht höhenversiert der amerikanische Tenor Ian Koziara als komplett verklärter Abel. Alle vier singen ihre eindrucksvollen Partien in einer phänomenalen Symbiose mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter ihrem Noch-Chef Sebastian Weigle. Der bekommt schon zum Auftakt des Abends tosenden Applaus. Nach 15 Jahren als Generalmusikdirektor mit zahlreichen bemerkenswerten Premieren verabschiedet sich Sebastian Weigle mit dieser Rarität. Nur selten findet sie den Weg auf die Spielpläne, der teilweise verstörende Stoff verlangt Mut. Die berauschende Musik ist dieses Wagnis wert. Für Ensemble und Publikum ist das Herausforderung und Gewinn zugleich. ¶

…lebt in Hessen und arbeitet als Musikjournalistin, Moderatorin und Musikvermittlerin.