Keine Zeit für Bayreuth? Nicht so schlimm, findet Volker Hagedorn, der oft dort war. Richard Wagners vielbestauntes Konzept, keinen neben sich zu dulden, wirkt in der Praxis inzwischen wie eine anachronistische Käseglocke.  

Ich kam nicht als Wagnerianer zur Welt und wurde auch keiner, obwohl besonders »Bayreuth« mit allem Glanz und Raunen zur Familie gehört, seit in den Fünfzigern mein Opa in den »mystischen Abgrund« steigen durfte, um dort zwischen anderen Auserwählten seine Violine erklingen zu lassen. Aber zur Familie gehörte noch so vieles andere, dass Wagner für mich allenfalls ein interessanter Typ war. Bei meinem Bayreuther Kritikerdebüt war ich 26, hatte wenig Ahnung, war aber stolz, im Allerheiligsten gelandet zu sein, das zwar keiner direkt so nannte, das sich aber insgesamt so anfühlte, auch wenn das Festspielhaus einem Mittelgroßstadtbahnhof des 19. Jahrhunderts ähnelt.

Wer da schon alles gesungen, dirigiert, inszeniert hatte! Wie schwer an Karten zu kommen war! Und dann diese Familie, diese Dynastie – schau mal, er hat genau die Nase seines Großvaters! Und dieser Rummel! Man kann so skeptisch vor sich hingrinsen, wie man will, es hat etwas unausrottbar Imposantes, wenn durch ein Spalier von Einheimischen die langen Limousinen mit den kurzen Nummernschildern zur Anhöhe, die »Grüner Hügel« genannt werden muss, hinaufrollen. »Oh, ER ist auch da…« Den Rummel fand ich schon damals bescheuert wie auch die Abendkleider, die allerdings in den späten 1980ern einen Gipfel der Geschmacklosigkeit erreicht hatten.

Aber dafür konnte der Komponist nichts, fand ich. Und war es nicht toll, dass er mit lauter Eigensinn und Größenwahn diesen Schuppen da hingestellt hatte, nur für seine eigenen zehn »gültigen« Musiktheaterwerke, und dass der Laden nun schon seit 1876 lief? Das Durchgeknallte daran schien mir das Restaurative in Balance zu halten. Sollten sich doch die Reichen und Mächtigen und Dynastiemitglieder in den Pausen filmen lassen, wenn es drinnen künstlerisch zur Sache ging. Aber je häufiger ich in Bayreuth war, desto mehr schien sich das eine mit anderen zu verbinden, diese besondere Art von Rummel und dynastischem Königshausersatz und Skandalfolklore mit dem »Werk«.

Anders gesagt, ich merkte nach und nach, dass all das dort gar nicht zu trennen ist. Richard Wagner ist der einzige Komponist, der seine Musik am besten da aufgehoben sieht, wo garantiert kein anderer Kollege gespielt wird und auch nicht diejenigen seiner eigenen Werke, aus denen man andere Kollegen etwas bequemer heraushören kann. Das Ganze gipfelt in dem »Bühnenweihfestspiel« Parsifal, das überhaupt nur hier gespielt werden durfte, bis 1913 eine Reichstagskommission die Freigabe erzwang. Man kriegt hier zu den Opern eine ganze Religion plus Kult mitgeliefert. Es ist also kein Wunder, wenn Begriffe wie »Allerheiligstes« herumspuken und jede deutsche Regierung am liebsten hier ihren Sinn für Kunst demonstriert – in einem Machtbereich.

Friedrich Nietzsche schauderte es, rückblickend, schon bei den ersten Festspielen vor der Ideologisierung, der Ausschließlichkeit, der Anhängerschaft: »Der Wagnerianer war Herr über Wagner geworden.« Darin sah Nietzsche etwas sehr Deutsches, wie nach ihm, allerdings begeistert, Hitler. Mit dessen Nähe hat man sich in Bayreuth längst auseinandergesetzt. Aber der Status der political correctness ändert nichts daran, dass auch die klügste Regie, bejubelt oder skandalisiert, immer den Tempel der zehn Werksäulen festigt, über den stets ein oder eine Wagner wacht. Man kann das bestaunen, man kann sich dem hingeben, man kann aber auch finden, dass die monomane Konzeption von Jahr zu Jahr anachronistischer, ranziger und uneuropäischer wirkt.

Vor zehn Jahren wollten Nike Wagner und Gérard Mortier etwas ändern und bewarben sich um die Nachfolge Wolfgang Wagners, die klügste der Nachkommen des Komponisten und der genialste Intendant Europas. Aber ihre irre Idee, Traditionen zu überdenken, ließ die Bewerbung scheitern. Inzwischen ist die Urenkelin offenbar froh darüber: »Immer nur Wagner zu machen, das ist doch grottenlangweilig«, erklärte sie vor einem Jahr. Inzwischen wirkt Bayreuth auf mich wie ein Kuriosum: Eine Käseglocke, unter der Regisseure schwitzend ihre Relevanznachweise vorführen, ein erschöpfter Vampir, dem man das Blut muskulöser Quereinsteiger aus der Kunstszene einflößt, ein gigantisches fränkisches Heimatmuseum, in dem eine internationale Sangeselite weitgehend davon überzeugt ist, dass man kein Wort zu verstehen braucht.

»Eine Käseglocke, unter der Regisseure schwitzend ihre Relevanznachweise vorführen, ein erschöpfter Vampir, dem man das Blut muskulöser Quereinsteiger aus der Kunstszene einflößt.« Volker Hagedorn über die Bayreuther Festspiele in @vanmusik.

Anderswo bewegt sich Wagner in frischer Luft, nicht nur auf den Bühnen. Eine kritische Ausgabe entsteht, die seine Schriften für die Realität hinter der Selbststilisierung transparent macht, so wie in und jenseits seiner Musik die Zeit erkennbar wird, aus der sie kommt. Er wollte ja noch 1859 für immer nach Paris ziehen. Ab und zu sieht Isolde jetzt, dass sie nicht allein ist mit ihrem Liebestod, und bestaunt die Wut, mit der Dido in Berlioz´ Troyens den ihren ansteuert. Man darf auch schon bzw. wieder feststellen, dass Wagners Längen mitunter einfach Längen sind und nicht Orakel. Es tut ihm ganz gut, wie ein halbwegs normaler, ansprechbarer Neurotiker behandelt zu werden. Aber wer ihn als Festungskommandanten bevorzugt, ist in Bayreuth weiterhin richtig. ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.