Sie schauen mich an. Sie sind viele. Sie wollen was von mir. Eine Eins. Ich würde jetzt lieber vom Zehnmeterturm springen. Das würde schneller gehen und wäre weniger peinlich, denn beim Fallen kann man nicht so viel falsch machen. Vor diesen Menschen stehe ich bestenfalls als Schauspieler, schlimmstenfalls als Hochstapler. Und das wissen sie auch. »Fangt doch schon mal ohne mich an!«, möchte ich ihnen zurufen, »ich komme dann später dazu!« Aber das geht ja nicht. Ich soll hier jetzt was dirigieren. Falsch: Ich wollte etwas dirigieren. Es ist schon meine eigene Schuld. Dreivierteltakt, kann doch jeder, eins, zwei, drei. Gut, also. Äh. Wie ging das noch? Man hat das so oft gesehen, dass man’s schon gar nicht mehr weiß. Ich hebe die Hände – das macht man doch so? Bögen schweben jetzt über Saiten. Die machen das echt! Ich atme ein und meine Hand fällt nach unten.
Beauty as I see it, Die Schönheit, wie ich sie sehe, so hieß der Film über den Dirigenten Herbert von Karajan, den ich vor einem halben Jahrzehnt mal gesehen habe. Durch den Film habe ich erst verstanden, welche Möglichkeiten so ein Luftzerteiler überhaupt hat. Vorher muss ich der Ansicht gewesen sein, es sei doch egal, wer vor einem Orchester stehe, denn die Noten seien doch immer die Noten, das Gesetz. Ich hatte damals gerade erst begonnen, mich für klassische Musik zu interessieren oder besser gesagt: Die Musik hatte mich gerade erst gefunden. Die Faszination für sie war von Anfang an auch eine Faszination für die Figur des Dirigenten. Diese Figur schien Macht und Einsamkeit zu verkörpern, zu gleichen Teilen. Sie schien ihre Augen und Ohren überall haben zu müssen und – wie auch immer das überhaupt geschehen sollte – sie musste am Abend irgendwie tiefe Emotionen in den Musikern hervorrufen, damit deren Musik dann die Zuhörer berühren, erfassen, überwältigen konnte.

Wenn man es so betrachtet, ist der Dirigent ein Mensch, der für die Dauer eines Konzerts Macht über die Gefühle seines Publikums hat. In der Berliner Philharmonie sind das an einem ausverkauften Abend zweitausend Seelen, die in den erhobenen Händen eines Mannes, einer Frau liegen. Wenn man es so betrachtet, gehört Dirigieren eigentlich verboten.
»Ich mache im August einen Dirigierkurs. Wollten Sie das nicht auch immer mal probieren? Da wäre eine Gelegenheit«, sagte Fabian Enders, der Musikdirektor aus meinem Bekanntenkreis, vor einigen Monaten heiter zu mir. Enders arbeitet mit Klangkörpern wie der Filharmonie Brno, der Lautten Compagney BERLIN oder dem RIAS Kammerchor zusammen. Er leitet den Sächsischen Kammerchor und das Orchester Sturm und Drang. Schon oft habe ich ihn um eine aufführungspraktische Einschätzung oder einen musikalischen Rat gebeten. Und wie oft habe ich mit ihm oder mit anderen Musikfreunden über Dirigenten und Dirigentinnen geredet, die ich nicht so gut fand. »Wie kann man so rasen!«, höre ich mich sagen, »was für ein Idiot!« Möglicherweise habe ich auch halbqualifizierte Äußerungen über die Bedeutung von Fermaten im Kantatenwerk Johann Sebastian Bachs abgegeben. Oder leidenschaftlich in der Frage, ob man vor dem Trio im zweiten Satz von Beethovens Neunter retardieren sollte, argumentiert. Man entwickelt abgedrehte Vorlieben, je länger man sich mit einer Sache beschäftigt. Und immer denkt man, alles hängt jetzt davon ab, wie einem Dirigenten, einer Dirigentin irgendeine Stelle gelingt. Ich wollte mal eine h-Moll-Messe verlassen, weil, meiner Meinung nach, das erste Kyrie nicht episch genug geknallt hatte. Selbst auch nur mal Happy Birthday im Büro dirigiert habe ich nicht. But karma has a way of getting back at you.
In der Nikolaikirche im brandenburgischen Jüterbog ist es angenehm kühl. Vorne im Altarraum probt einer der richtigen Dirigierschüler gerade eine wiederentdeckte Kantate von Wilhelm Friedemann Bach. Er trägt kurze Hosen und Birkenstockschlappen. Ich trage ein Hemd und Lederschuhe, weil ich hoffe, durch die Seriosität meiner Kleidung von der Hirnrissigkeit meines Unterfangens ablenken zu können. Es musizieren der Sächsische Kammerchor und das Junge Märkische Kammerorchester. ›Ich hätte dieses Sechzehntel gern spitzer…!‹, sagt der Dirigierschüler Lars Conrad. Er ist eigentlich Sänger, das heißt, er hat Musik studiert, er kann zählen, er kann alles Mögliche.
Ich wäre schon froh, kriegte ich das mit dem Dreivierteltakt auf die Reihe. Die Schlagtechnik habe ich mir zwar angesehen. Aber als ich sie zu dem von mir gewählten Stück zuhause probte, bin ich, nun ja, aus dem Takt gekommen. Es handelte sich nicht um Le sacre du printemps, es handelte sich um einen Bachchoral, um Freu dich sehr, o meine Seele, den siebten Satz aus der Kantate Wachet! Betet! Betet! Wachet! (BWV 70).
G-Dur, soweit das Auge sieht, Affekt der Freude, nichts groß Außergewöhnliches, solide Sache. Dachte ich. Auf der Fahrt nach Jüterborg höre ich mir den Choral 280 mal an, weil ich denke, ich sollte das Stück wenigstens in jeder Hinsicht auswendig können. Und ich finde immer noch: Wenn der eigene Beruf daraus besteht, über Kunstwerke und ihre Schöpfer oder ihre Interpreten zu urteilen, dann, in Gottes Namen, sollte man sich zusammenreißen und sich einmal vor einen Klangkörper stellen, um etwas zu lernen.
»Frau Rietz wäre jetzt dran«, sagt Fabian Enders. Ich frage ihn, ob er das Ganze nicht erst einmal selbst durchdirigieren möchte: Nein. Ich frage, ob er mir nochmal die Schlagtechnik zeigen könne: Nein. Er hat ja Recht. Es ist nun einfach an mir, es hilft alles nichts. Ich schüttele der Konzertmeisterin die Hand, das wollte ich unbedingt mal machen. Sie lächelt. Manchmal ist ein Lächeln alles, was man im Leben braucht, um mit irgendwas anfangen zu können. Ich erklimme das Podium, hebe die Hände und lasse die rechte fallen.
Auf dem ersten Schlag setzen gleich alle mit allem ein. Freu dich sehr, o meine Seele, und vergiss all Not und Qual. Puh, eine Zeile schon geschafft! Geht doch! Plötzlich ruft ein Geiger: ›Ihr spielt nicht, was sie schlägt, ihr müsst ein Drittel so schnell spielen!‹ Ich fürchte, er hat recht. Gegen mein Tempo war Karl Richter ruhelos. Eigentlich aber ganz schön, man hört alle Harmonien besser, alle Durchgangsnoten, »…in Ewigkeit triumphiiiiieren!« Ende! Schlussgesten kann ich, ich entscheide mich für das große Einmal-von-rechts-nach-links-Wischen. Wow. Aus! Plötzlich klatschen und jubeln alle.
Gleich nochmal. In Absprache mit meinem Musikdirektor lasse ich das mit dem Jedes-Viertel-ausschlagen sein und schlage immer nur die eins, auf dass das Tempo schneller werde. Klappt. Wenn man die Hände etwas freier hat, kann man gleich viel mehr machen. Ich möchte ein Crescendo auf der ersten Silbe von »Jammertal«, ich kriege ein Crescendo auf der ersten Silbe von Jammertal. Mir fällt auf, warum ich am Abend zuvor zur Musik auf meinen Ohren den Takt nicht hatte schlagen können. Der Kollege hatte sich Freiheiten im Tempo rausgenommen, es war nicht mechanisch, er verharrte hier, beschleunigte da. Ich mache das jetzt auch. Das geht sogar. Mich überkommt ein trivialer Gedanke: Wie lange die Fermate dauert, wie lange der Schlussakkord stehenbleibt, bestimme ich und niemand sonst. Es kann auch keiner verhindern. Die Hand des Dirigenten ist das Gesetz. Sogar meine ist es. Das abstrakt zu wissen, ist das eine, es auch konkret zu spüren, das andere.
Auf Dauer muss das den Charakter versauen, denke ich. Dirigieren ist eine sublime Diktatur, in der alle der Schönheit, wie der Dirigierende sie sieht, folgen müssen. Anders kann es nicht gehen. Christian Thielemann hat das Orchester mal mit einem Pferd verglichen. Das müsse gehorchen, könne aber auch durchgehen. Er hat den Dirigenten mit einem Klempner gleichgesetzt: hier mehr kaltes Wasser, hier mehr heißes, so sei Dirigieren im Prinzip, wie Schraubendrehen.

Aber geführt werden muss immer. Die Grundfunktionen des Dirigentenberufs und moderne Konzepte von Pädagogik scheinen sich auszuschließen. »Egozentrisches Gebahren ist ineffizient und kontraproduktiv!«, sagt der Musikdirektor Fabian Enders, aber »dass ein Dirigent seine Lesart eines Werks nonverbal zu vermitteln hat, kann von keiner Mode abhängig sein. Seine Intention umschreiben, das ist, als erkläre man nach dem Reden das Gemeinte. Dirigieren ist eine Sprache wortloser Suggestion, die man nicht übersetzen muss.«
Zeitungen lieben Dirigentinnen und Dirigenten modernen Schlags, die irgendwie ›einladen‹ oder ›zum Mitmachen ermuntern‹. Aber kann man alles durch Einladungen erreichen? »Ohne vermittelndes Handwerk wird sich keine dirigentische Intention im Hörbaren spiegeln. Aber vermittelndes Handwerk ohne eigene Intention ist nutzlos«, sagt Enders. Handwerk und Wille sind also Voraussetzung für diesen Beruf. Aber eine weitere Zutat scheint flüchtiger zu sein. Vielleicht muss man sie mangels einer besseren Alternative einfach Charisma nennen. Wie man aber zu Charisma kommt, das müssen Psychologen entscheiden, als Musikliebhaberin kann man Charisma nur beobachten. Kurz vor meinem Choraldirigat schaue ich eine Dokumentation über Bayreuth und Richard Wagner an. Darin kann man Christian Thielemann beim Dirigieren zusehen. Er sitzt im kellerartigen Bayreuther Graben und soll mit dem Lohengrinvorspiel anfangen. Die Art und Weise, wie er sanft und ohne Ungeduld den Dirigierstab aufnimmt, die Hände vom Pult nach oben gleiten lässt, einen Takt vorschlägt und sich dann zu den Flageolett spielenden Geigen vorbeugt, als befände er sich mit ihnen in einem intimen Zwiegespräch, das ist alles so schön und zart, dass die Musik gar nicht anders kann als schön und zart und zerbrechlich zu klingen.
Bis zum Thema Charisma dringe ich auf dem Jüterboger Podium nicht vor. Aber ich merke, dass die Musikerinnen und Musiker zurückgucken, wenn ich sie angucke. Ich könnte mich ihnen jetzt mitteilen, wenn ich etwas mitzuteilen hätte – aber ich dilettiere ja nur. Dirigieren ist also im Kern ein Beruf des Kommunizierens, aber es handelt sich um einen Mehrkampf des Kommunizierens. Er besteht aus Blicken, Gesten, Sprache, Atmen und Etlichem mehr. Wie muss sich das erst anfühlen, wenn noch ein Publikum dazukommt, das hinter dir sitzt, still zwar, aber in der Stille deutlich präsent. Das werde ich nicht mehr erfahren, dazu bin ich 30 Jahre zu spät zum Dirigieren gekommen. Aber mal einen Bachschen Dreiertakt geschlagen zu haben – das werde ich mein ganzes Musikleben nicht mehr vergessen. ¶