Die Komponistin Anna Thorvaldsdottir sitzt auf einem Rollhocker in ihrem Studio in Surrey, südlich von London. Durchs Fenster dringt das Brummen eines Rasenmähers. Der Raum ist minimalistisch eingerichtet, aber absichtlich offen gehalten, mit großer Glastür zum Garten der Nachbarn hin. 

Thorvaldsdottirs Musik ist im Gegensatz dazu eng fokussiert, Schichten von ganz unterschiedlicher Dichte fließen langsam ineinander, ohne Exzess, aber auch alles andere als filigran. Immer wieder beschreibt sie ihre Werke im Gespräch als »organisch«, und das trifft auch ihre Arbeitsweise, beide sind geprägt von Wachstum, Verfall, Bewegung und Stillstand. 

Aktuell sind die weißen Wände des Studios leer. Vor kurzem hing hier noch das Material für ein Stück für die Density-Serie der Flötistin Claire Chase. Jetzt will Thorvaldsdottir einige Orchesterwerke in Angriff nehmen. Auf ihrem Arbeitstisch warten ein imposanter Stapel unliniertes Papier, ein Bleistift und ein Radiergummi auf die Komponistin. 

VAN: Wie beginnen Sie die Arbeit an neuen Kompositionen?  

Anna Thorvaldsdottir: Ich mache bei all meinen Stücken am Anfang erstmal Skizzen, das ist wirklich wichtig für mein inneres Hören. Das ist mein Ausgangspunkt, wenn ich Musik suche, durch den ich erkenne, was dazugehören könnte und was nicht.

Die Struktur eines Stückes ist so elementar, darum ist es auch sehr wichtig zu wissen, wohin man will, woher man kommt und wie das zusammenhängt. Ich skizziere in ganz unterschiedlichen Formen: mit Worten, mit grafischen Elementen.

Was machen Sie dann mit den Skizzen?

Wenn ich an einem Stück arbeite, füge ich der Skizze immer wieder etwas hinzu – manchmal habe ich sogar zwei oder drei Skizzen für ein Stück, je nachdem, um welchen Aspekt der Musik es geht. Ich füge etwas hinzu, entferne wieder was – zu erkennen, was zu einem Stück gehört und was nicht, ist ein zäher Prozess. 

In den meisten Skizzen sind schon die grundlegenden Harmonien enthalten, die Layer, die ich dort übereinanderlegen will, und das melodische Material. Es gibt immer diese Struktur mit dem zeitlichen Ablauf auf der einen und den Registern auf der anderen Achse.

»Ich bin immer sehr schüchtern, wenn es darum geht, diese Skizzen zu zeigen«, sagt Thorvaldsdottir, während sie in der untersten Schublade eines Schranks herumwühlt. Sie holt eine Papierrolle hervor, die sie über dem großen Tisch ausbreitet – die Skizze für METACOSMOS, eine Art Zeitleiste. Von links nach rechts sind lyrische Beschreibungen zu lesen wie »Schönheit tritt hervor« und »Schönheit wird erstickt«, genau wie Großbuchstaben, Harmonien und Cluster und eine ganze Reihe verschnörkelter Formen. »So werde ich mir meiner selbst bewusst, für mich ist das keine visuelle Kunst, sondern Teil eines Prozesses«, sagt sie. »Das ist natürlich nichts, was alle hören können.«

Am Ende sieht man eine dicke schwarze Linie und einen Timecode. Ist das schon so festgelegt in Ihrem Kopf? Ich lese gerade ein Buch über Birtwistle, der komponiert, indem er einfach immer eine Entscheidung nach der anderen trifft, und plötzlich ist ein Stück, das eigentlich 20 Minuten dauern sollte, 47 Minuten lang…

Normalerweise habe ich schon sehr früh ein klares Gefühl für die Dauer, weil ich dazu neige, Musik innerlich in Echtzeit zu hören, bevor ich überhaupt anfange, sie aufzuschreiben. Natürlich ändert sich dann noch dieses und jenes, aber am Ende komme ich der ursprünglichen Dauer doch sehr nah, das weicht dann nicht mehr um Minuten ab. 

Viele andere Komponist:innen berichten, dass ab einem bestimmten Punkt die Musik beginnt, die Kontrolle zu übernehmen. Und man macht fast nur noch mit. Ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich denke: ›Bist du dir da sicher?‹ Und die Musik sagt: ›Ja, ich bin mir sicher.‹ Natürlich bin ich nicht verrückt. Ich weiß, dass das alles meine eigenen Gedanken sind. Aber es ist schon ein organischer Prozess. Man muss ihm vertrauen: dem Material vertrauen und ihm folgen.

Ihre Mutter ist Lehrerin. Wie würden Sie ihren zehnjährigen Schüler:innen Ihre Musik beschreiben?

Ich fände es viel interessanter, wenn die Zehnjährigen meine Musik beschreiben würden! Ich würde sie ermutigen, ihren Geist und ihre Seele zu öffnen und wirklich in die Musik einzutauchen; all das Rumpeln, die Melodien und die ganzen verschiedenen Schichten in der Musik zu finden.

Woher kommen die Melodien? 

Es macht mir wirklich Spaß, an den Grenzen zum Melodischen zu arbeiten und melodisches Material mit anderen Klängen zu mischen, die oft nicht als sehr musikalisch oder lyrisch angesehen werden. Ich habe keine Angst vor Melodien, ich habe auch keine Angst vor Lärm. Ich möchte beide mischen und organische Wege finden, damit sie koexistieren können: das Chaos und die Ruhe, um dann manchmal diesen oder jenen Aspekt der Musik heranzoomen zu können.

Meistens gibt es nicht viel Zeit, neue Werke zu proben. Beeinflusst das Ihre Art zu komponieren?

Das ist ein wirklich wichtiger Aspekt, den man im Kopf behalten sollte. Ich selbst habe versucht, mich von dem Wissen, dass die Probenzeit begrenzt ist, beim Komponieren nicht einschränken zu lassen. Meine Notation ist sehr detailliert und ich nehme jedes Instrument, für das ich schreibe, selbst in die Hand. Obwohl ich natürlich nicht alle wirklich spiele, möchte ich ihren Möglichkeiten gerecht werden. Meine Stücke sind nicht einfach zu spielen, aber ich möchte, dass sie idealerweise angenehm zu spielen sind – so, dass es nicht frustrierend schwierig wird – aber dennoch anspruchsvoll.

Das gilt vor allem für Orchester, denn die haben wirklich nicht viel Zeit und müssen mehr oder weniger sofort loslegen können…

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Dabei ist Ihre Musik gar nicht so unmittelbar greifbar – sie ist weder schnell noch rhythmisch noch besonders markant, sie muss wirklich heraufbeschworen werden..

Ich weiß genau, was Sie meinen, deshalb sieht und hört man, wenn Leute meine Musik kennen: Sie wissen sofort, was sie machen und wie sie das Material als Ganzes behandeln sollen. Irgendjemand bekommt immer Material von jemand anderem und gibt es dann an jemand anderen weiter. So läuft das normalerweise ab in meiner Musik.

Können Sie es hören, wenn jemand darauf nicht wirklich eingeht?

Natürlich, aber ich kann das auch nachvollziehen, wenn man das nicht sofort versteht.

Über Ihre Musik wird oft in Zusammenhang mit Natur gesprochen. Was für eine besondere Beziehung haben Sie zur Natur?

Bei meiner persönlichen Beziehung zur Natur geht es mehr um den Raum, den die Natur mir gibt, wie ich den Kopf freibekomme, wenn ich in der Natur bin. In Island, wo ich aufgewachsen bin, gibt es so viel Platz, und der ist anders. Man kann sehr weit schauen, weil es ein bisschen karg ist; die Landschaft dehnt sich so weit aus, dass man ein Gefühl von Raum bekommt, das man an anderen Orten nicht wirklich hat.

Ich gehe mal davon aus, dass das in Surrey anders ist …

Ja, hier gibt es so viele Bäume. Wenn man hindurch fährt, sieht man eigentlich gar nichts, weil man nur durch Tunnel aus Bäumen fährt, was aber einen ganz eigenen Charme hat.

Es ist einfach schön, in der Natur zu sein, aber ich gärtnere nicht selbst – ich würde gerne etwas Gemüse anbauen, aber ich bin so viel unterwegs, das würde wahrscheinlich alles nicht überleben. 

In AIŌN arbeiten Sie mit Choreografie, genau wie im Juni diesen Jahres mit Wayne McGregor und METACOSMOS und CATAMORPHOSIS am Royal Ballet in London. Hat die Zusammenarbeit mit Tänzer:inen Ihren Blick auf Ihre Kunst verändert?

Wahrscheinlich nicht. Solche Kollaborationen sind immer interessant, die Verschmelzung von Kunstformen, aber ich gehe Musik immer aus einer wirklich ›rein musikalischen‹ Perspektive an. Die Musik muss für sich funktionieren, so dass sie nie von anderen Kunstformen abhängig ist, um zu existieren.

Mit Erna [Ómarsdóttir, der Choreografin von AIŌN] war alles sehr organisch. Wir haben die Tänzer:innen und das Orchester auf der Bühne koexistieren lassen, so dass es weniger die traditionelle Trennung gab, mit dem Orchester unten im Graben. Das war ein wichtiger Teil der Gesamtidee, diese Art von symphonischem Bühnenwerk zu haben.

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Ihre Musik ist im Film Tár zu hören. Wie kam es dazu?

Anderthalb Jahre bevor der Film in den USA in die Kinos kam, hat mein Verlag die Skript-Seiten der Juilliard-Szene bekommen, weil die Dirigent:innen für den Film eine Lizenz für beantragen wollten. Ich bekam also nur eine sehr kurze Inhaltsangabe des Films und diese paar Seiten. Natürlich war ich etwas überrascht, aber ich fand es faszinierend, dass jemand einen Film über eine Dirigentin dreht, für mich war das sehr speziell. Aber als ich den Film dann tatsächlich gesehen habe, hatte ich das Gefühl, dass ihre Rolle – die Rolle der Dirigentin – eher ein Vehikel ist. Der Film handelt meiner Meinung nach von ganz viel anderem. Es geht nicht wirklich um eine Dirigentin, sie ist ein Vehikel.

Ihre Titel sind meist in Großbuchstaben geschrieben – AIŌN, ARCHORA, METACOSMOS – wie e.e. cummings, nur andersrum. Ist das eine bewusste Entscheidung?

Das ist so ein komisches Ding bei mir. Ich hoffe, ich klinge nicht verrückt, aber ich möchte nicht, dass der erste Buchstabe des Titels mehr Gewicht hat als der Rest der Buchstaben. Ich will, dass alle gleich viel wert sind. Der erste Buchstabe könnte aber genauso gut auch klein sein.

Ich selbst neige dazu, in Großbuchstaben zu schreiben. Aber dann ist der erste Buchstabe manchmal ein bisschen größer… Ich mache das bewusst, ja, aber ich will damit nichts sagen. Ich will nicht, dass es geschrien ist oder so. 

Gibt es dafür auch eine Entsprechung in Ihrer Musik?

Ja, genau. Der Anfang ist nicht wichtiger. ¶