Daniel Stabrawa war 35 Jahre lang Konzertmeister der Berliner Philharmoniker. Nach etwa 1.500 Konzerten allein in Berlin geht er jetzt in Pension. Ein Gespräch über Karajan, Abbado, Rattle und Petrenko, den Berliner Autopiloten und die größten Herausforderungen in der Vermittlung zwischen Dirigent und Orchester.
VAN: Am 29. Mai haben Sie Ihr letztes Konzert als Konzertmeister der Berliner Philharmoniker gespielt. Was haben Sie unmittelbar danach gemacht?
Daniel Stabrawa: Ich habe hinter der Bühne einen kleinen Umtrunk organisiert für die Besetzung, die gespielt hat. Es war das erste Mal seit Beginn der Pandemie, dass wir uns hinter der Bühne, natürlich alle getestet, treffen durften. Das war ein schönes, optimistisches Zeichen, dass es vorangeht. Ich gehe, aber es wird besser.
Ich nehme an, Sie hatten sich dieses Konzert bewusst für Ihren Abschied ausgesucht. Warum?
Ja, hatte ich, wegen Simon Rattle. Er war der Chef, der mich am meisten geprägt hat und mit dem ich am längsten gearbeitet habe, 16 Jahre lang. Ich hatte mir gewünscht, dass bei meinem letzten Konzert ein nettes, mir bekanntes und vertrautes Gesicht vor mir steht.
Haben Sie sich schon an den Gedanken gewöhnt, dass Sie jetzt pensionierter Konzertmeister sind?
Wegen der Pandemie konnte ich mich stückchenweise dem Abschied nähern. Es gab immer weniger Konzerte, immer weniger oder gar kein Publikum, man wusste gar nicht, ob man den Beruf eigentlich noch ausübt. Das habe ich genutzt, um mich das ganze Jahr über Schritt für Schritt vom Orchester zu entfernen, sodass der Abschied, das ›vor dem Nichts‹ stehen, nicht unvermittelt kam.
In dem Film ›About Schmidt‹ spielt Jack Nicholson einen pensionierten Abteilungsleiter, dem sein junger Nachfolger bei der Abschiedsfeier sagt, er könne jederzeit vorbeikommen, man würde gerne weiterhin von seinem Fachwissen profitieren. Als er das dann tatsächlich macht, wird ihm höflich klargemacht, dass er nicht mehr gebraucht wird. Die Gefahr besteht bei Ihnen nicht?
Nein, ich habe meinen Kollegen schon gesagt, dass für mich endgültig Schluss ist. Ich spiele ja weiter Violine, gebe Konzerte, dirigiere … Aber ich will gar nicht zu lange dran denken, weiter mit dem Orchester zu spielen. Viele Kollegen wollen sich nicht verabschieden und bleiben dann doch irgendwie. Für mich war das Konzert mit Simon mein letztes. Ich habe mich verabschiedet und möchte nicht mehr mehr zurückgehen.
Was werden Sie am meisten vermissen?
Immer auf dem höchsten Niveau zu spielen, mit einem Orchester, das einmalig ist. Und die Begegnungen mit fantastischen Künstlern, Dirigenten wie Solisten, überhaupt Menschen, die viel zu sagen haben.
Und was am wenigsten?
Na ja, dieser Job ist mit einem gewissen Stress verbunden. Nicht im Sinne von Angst, sonst könnte man dem Beruf nicht nachgehen. Aber man muss immer auf der Hut sein. Man sitzt da vorne, um zu organisieren, zu bestimmen. Gleichzeitig ist man sich ständig bewusst, dass man von Kollegen kritisiert oder angegriffen werden kann. Man erwartet von mir immer das Beste, und es war mein Anspruch, immer an mir zu arbeiten, um dieser Erwartung gerecht zu werden. Das muss ich jetzt nicht mehr. Von dieser Last bin ich befreit.

Welche Fähigkeiten braucht man als Konzertmeister besonders?
Ich glaube, das Wichtigste ist eine gewisse Musikalität, ein Verständnis von Musik, das auch Mitspieler überzeugt. Dass man nicht einfach nur Geige spielt, sondern zum Beispiel mit einer Phrasierung etwas erzählt, was auch andere anspricht. Wenn das so ist, werden die Kollegen aufmerksam und geben zurück, was sie bekommen. Und man muss eine gewisse Autorität haben, die man aber nicht lernen kann. Man hat sie oder man hat sie eben nicht. Das ist etwas mysteriös.
Sie haben bei den Berliner Philharmonikern unter vier Chefdirigenten gespielt, Herbert von Karajan, Claudio Abbado, Simon Rattle und zuletzt Kirill Petrenko. Bei den ersten dreien ist die Beziehung zwischen Dirigent und Orchester am Ende ziemlich erkaltet. Ist das bei einer langen Dirigent-Orchester-Beziehung unvermeidlich?
Ja, das ist unvermeidlich. Alle drei waren unglaublich begabt und haben Musik auf eine besondere Art verstanden, aber irgendwann nach ein paar Jahren weiß man als Musiker alles – wie der Auftakt wird, die Phrase, das Atmen, der Klang. Der Dirigent ist dann zwar noch Chef, aber er weckt keine Neugier mehr. Es verbraucht sich etwas. Man will neue Nuancen entdecken. Auch solche Dirigenten sind für die Musiker irgendwann wie das täglich Brot und nicht wie ein Sonntagskuchen.
Was ist die Halbwertszeit einer guten Beziehung? Acht Jahre, zehn …?
Ja, ungefähr so. Abbado war 12 Jahre da, aber er hatte eine etwas schwierigere Aufgabe als Simon Rattle. Er kam nach der Karajan-Ära, als Italiener, der ganz andere Vorstellungen hatte und alles umkrempeln musste. Das war nicht einfach für ihn. Das Orchester war stur. Für Simon Rattle war es leichter, weil das Orchester nach der Abbado-Zeit nicht so geprägt war von einer Handschrift. Als Karajan noch aktiv war, hat das Orchester, wenn ein Gastdirigent kam, einfach genauso geklungen wie unter Karajan. In den 12 Jahren unter Claudio Abbado hat sich das etwas verflüssigt. Als Rattle kam, hatte er ein Orchester, das er formen konnte, wie weichgewordene Plastilin. Als es dann wieder fest geworden ist, hat Simon, glaube ich, auch gespürt, dass er das Orchester nicht mehr prägen kann, dass das Miteinander nicht mehr so gut funktioniert.
Sie haben auch sehr unterschiedliche Führungsstile mitbekommen. Karajan war jemand, der sich einzelne Musiker vorgeknöpft und getestet hat. Ist das wirklich die beste Art, um ein gutes Ergebnis zu bekommen?
Man macht es heute nicht mehr, auch deshalb, weil das Niveau der Musiker im Orchester wahnsinnig hoch ist. Kein Dirigent wagt es, mit einem Musiker ein Gefecht zu führen. Der autokratische Stil von Karajan hat funktioniert, vielleicht auch deshalb, weil er nur die wirklich Besten getestet hat, sie dann aber auch wahnsinnig unterstützt und ihnen das ganze Vertrauen in die Hände gegeben hat. Als ich ganz jung war unter Karajan, musste ich die Ideen des Chefs übersetzen und ihn auch ein bisschen führen. Das hat er gemocht, dass er nicht ständig fordern musste von uns, sondern ich schon gegeben habe, was er dachte. Da konnte er sich zurückhalten.

Eine der wahrscheinlich weniger schönen Aufgaben des Konzertmeisters ist es, Widerspruch des Orchesters an den Dirigenten zu überbringen und Streit zu schlichten…
Das ist das schlimmste, was man als Konzertmeister im Orchester erleben kann: wenn es zu Streitigkeiten kommt innerhalb des Orchesters oder zwischen Orchester und dem Dirigenten. Man muss schlichten und gleichzeitig den Wunsch des Orchesters äußern. Das war nicht immer einfach. Einmal gab es zum Beispiel das Problem, dass der Dirigent sich beleidigt fühlte und quasi abgehauen ist, weil es der Wunsch des Orchesters war, ein etwas menschlicheres Tempo zu nehmen. Das Orchester hat gesagt: ›Es tut uns leid, in dem Tempo können wir nicht das realisieren, was sie musikalisch möchten.‹ Ich habe das bekräftigt, daraufhin hat der Dirigent kapituliert und gesagt: ›Dann macht’s halt ohne mich.‹ Das sind die schlimmsten Momente, die man spontan, schnell und möglichst ohne Konflikte retten muss.
Wie oft mussten Sie denn Aufführungen retten?
[lacht] Das passiert sehr selten. Aber man muss schon manchmal eingreifen, wenn man spürt, dass da was kommt, und dem Dirigenten und dem ganzen Orchester zeigen: Hier sind wir, das ist unser Puls.
Die Philharmoniker haben den Ruf einer gewissen Schonungslosigkeit, insbesondere, wenn Gastdirigenten nicht richtig respektiert werden.
Das kann stimmen. Wenn man jung ist, und das erste Mal auf diese Bühne kommt und weiß: das Orchester hat wirklich Power, will nicht nur so spielen, wie es der Dirigent vorgibt, sondern gibt auch viele eigene Vorstellungen mit rein… Damit muss man gut umgehen können. Da hat man natürlich Angst, das ist normal. Erst nach den ersten Proben oder dem Konzert merkt das Orchester: Der Mann hat Ausstrahlung. Oder: Er ist gut, aber er hat keine Ausstrahlung. Das ist ganz natürliche Selektion. Wir brauchen wirklich nur die besten, weil auch die Gastdirigenten die Macht haben, das Orchester auf kurze Distanz zu prägen. Und wenn wir da schwache Dirigenten haben, wird auch das Orchester schwächer.
Und dann schaltet es auf Autopilot und nimmt das Heft in die eigene Hand?
Naja, wir merken, wenn ein Dirigent uns nicht oder noch nicht gewachsen ist oder es keinen Kontakt gibt. Ob man das jetzt Autopilot nennt … Wenn vom Dirigenten zu wenig kommt, müssen wir halt selbst übernehmen, aber das passiert selten eigentlich. Kein Musiker auf der Welt in keinem Orchester will schlechter spielen als er kann oder eine schlechtere Aufführung machen, nur weil der Dirigent schwach ist. Der Klang und die Musik, das sind wir. Der Dirigent hat Ideen, will was erzählen, bestimmt in den Proben eine Richtung, aber am Ende machen wir die Musik.
Es mangelt dem Orchester nicht an Selbstbewusstsein, vielleicht auch Arroganz. Wie groß ist die Gefahr, dass man da überheblich wird oder zu selbstzufrieden?
So lange wir gute Dirigenten haben und einen Chef wie jetzt Petrenko, besteht da keine Gefahr. Wenn wir einen Partner haben, der gleich gut ist, oder ein Stückchen besser, kann er das Orchester im Zaum halten. Gefährlich wäre, wenn vorne jemand schwaches steht. Dann würde das Orchester ihn erbarmungslos platt macht. Damals als Karajan starb, war Bernard Haitink eigentlich der heißeste Kandidat für die Nachfolge, ein toller Dirigent. Er hat mal gesagt, dass die Berliner Philharmoniker wie ein Panzer sind. Wenn man ein bisschen unaufmerksam ist, wird man überrollt. Das stimmt. Deswegen brauchen die Philharmoniker einen wahnsinnig starken Chef, dann ist die Gefahr der Überheblichkeit gar nicht vorhanden.
Haben Sie den Klang der Berliner Philharmoniker von 1983, als Sie in das Orchester eintraten, noch im Ohr?
Ja, und da muss ich sagen, dass sich mit Petrenko der Kreis schließt. Wir haben uns wieder dem Klang von damals angenähert, wir gehen wieder in die Richtung des normalen, schönen Musizierens. Tiefsinnig, nicht nur um Effekte zu zeigen. Ich glaube, das Orchester hat jetzt eine tolle Zukunft vor sich, wenn sie brav bleiben und sich darauf einlassen, mit ihm hart zu arbeiten, denn das kann er, ungeheuer hart und erbarmungslos arbeiten. Vielleicht kommt nach ein paar Jahren ein Moment, an dem das Orchester es nicht länger aushalten kann, weil es zu viel ist. Aber die harte Arbeit muss sein.
Wissen Sie eigentlich, wieviele Konzerte Sie mit den Philharmonikern gespielt haben?
Ich habe versucht, das nachzurechnen. Es müssten etwa 1.500 Konzerte sein, nur in Berlin.
Gibt es ein oder zwei, die Ihnen immer in Erinnerung bleiben werden?
Abgesehen von den Konzerten mit Karajan, die mir alle in Erinnerung geblieben sind, gab es mit Abbado Rossinis Reise nach Reims, die er konzertant gemacht hat mit Sylvia McNair, das war phänomenal. Mit Simon bleibt mir für immer die Matthäus-Passion im Kopf, das war das schönste, was ich je erlebt habe.
Was war der peinlichste Moment?
Mit einem Dirigenten haben wir mal Fierrabras von Schubert gemacht. Er hat die Sätze umgestellt, um die Architektur des Stücks zu verbessern. Im Konzert dirigierte er auswendig und hat vergessen, welche Nummer jetzt kommen sollte. Er hat irgendeinen Auftakt gegeben, und wir haben versucht, dem, was wir spielen sollten, das Tempo zu geben und anders zu spielen, aber ein oder zwei Kollegen haben tatsächlich gespielt, wie er dirigierte. Ich habe dann gefragt: ›Warum hast Du das gemacht? Das ist doch peinlich.‹ Er hat mir geantwortet: ›Ich wollte einmal so spielen, wie der Dirigent dirigiert.‹ Das war frech und überheblich und hatte auch Konsequenzen. Aber auch der Dirigent hat sich danach nicht korrekt benommen. Das war peinlich für alle, aber ist schon vergessen.
Sind Sie Fußballfan?
Ja, selbstverständlich.
Im Fussball gibt es für verdiente Spieler manchmal ein Abschiedsspiel, in denen der zu verabschiedende Spieler sich ein All-Star-Team zusammenstellen kann. Welches Programm und welche Gäste würden Sie sich wünschen?
Mit Herbert von Karajan die Neunte von Bruckner, das wäre mein Traum. Aber Gottseidank ist er nicht realisierbar, also bin ich frei. ¶

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