In der 89. Minute täuscht Serge Gnabry auf links ein Dribbling an, bricht dann ab und spielt an die Strafraumkante zu Jamal Musiala. Der 20-Jährige steht seitlich zum Tor, nimmt den Ball mit Links an, streichelt ihn in einer filigranen Drehung auf seinen rechten Fuß und lässt seinen Gegenspieler ins Leere laufen. Er legt sich den Ball zwei Meter vor, beschleunigt, sieht die Lücke in der Kölner Abwehr und zirkelt ihn mit dem Innenspann aus 20 Metern ins lange untere Eck des gegnerischen Tores. 2:1. Abpfiff. Die Meisterschaft, die eigentlich schon verlorene, geht wieder nach München. Zum elften Mal in Folge.

»FC Bayern, Stern des Südens, du wirst niemals untergeh’n«, prophezeit Willy Astor in der Vereinshymne, und hatte auch in dieser Saison wieder recht. Ein anderer Stern ist in München verglüht, bevor er jemals aufgegangen wäre: Das neue Konzerthaus im Werksviertel wird, so malen es die Zeichen an die Wand, wohl nie gebaut werden. Das Projekt hat in den letzten zwanzig Jahren ähnlich viele Stümpereien, Intrigen und Pleiten durchlaufen wie der FC Bayern unter dem Unglückspärchen Kahn und Brazzo. (Hier eine Chronologie der Ereignisse.) Es braucht jetzt mindestens einen Geniestreich, um das Spiel noch zu drehen.

Der Jamal Musiala der Konzerthaus-Fans heißt Simon Rattle, ab der nächsten Saison Chefdirigent des Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO), dem der neue Konzertsaal einmal als Heimstätte dienen soll. Schließlich hat er einst, als junger Chefdirigent des City of Birmingham Symphony Orchestra, mit voller Lockenpracht und großem Elan quasi im Alleingang einen neuen Konzertsaal erkämpft. Und in Berlin kennt ihn – auch wegen der von ihm initiierten Education-Projekte wie »Rhythm is it!« – noch heute die halbe Stadt. Über seinen Nachfolger bei den Berliner Philharmonikern wissen hingegen viele nur, dass es nicht mehr Simon Rattle ist. 

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Als der Bayerische Rundfunk Rattle vor zweieinhalb Jahren zum neuen Chefdirigenten ab der Saison 2023/24 ernannte, war dies auch mit der Hoffnung verbunden, den Traum vom eigenen Konzertsaal am Leben zu halten: Ein Spitzenorchester mit Spitzendirigent braucht schließlich auch einen Spitzenkonzertsaal. In der Programmbroschüre des Orchesters zur nächsten Spielzeit geht es einzig und allein um ihn: »Was für ein Mensch! Charismatisch, klug, humorvoll«, schreibt BR-Intendantin Katja Wildermuth im Vorwort. Zehn Wegbegleiter:innen erzählen »von einem Moment mit Rattle, an den sie sich besonders gerne erinnern«. Dazu kommen ein Essay über ihn (»Ja, er ist ein Peter Pan der Klassik«), ein Interview mit ihm und ein illustrierter Zeitstrahl, der nachzeichnet, warum »es nur eine Frage der Zeit war, bis Sir Simon Rattle und das BRSO gemeinsame Wege gehen würden«. Hier kommt zusammen, was zusammengehört. Eine Hochzeit im Himmel. 

Partycrasher ist Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der in den Augen vieler bayerischer Kulturschaffender »Cancel Culture« als Imperativ versteht. 15 Monate ist es her, dass er dem Konzertsaal-Projekt in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung eine »Denkpause« verordnete. Seitdem hüllt sich die Landesregierung in Schweigen, trotz einer Flut parlamentarischer An- und medialer Nachfragen. »Park the bus« nennen die Engländer jene Mauer-Taktik, bei der eine Fussballmannschaft eigene Offensivbemühungen komplett einstellt und stattdessen an der eigenen Strafraumgrenze Beton anrührt, oder eben: den Bus parkt. Alle hinten rein, Ball raushauen und Zeit schinden. Der portugiesische Trainer José Mourinho hat es mit dieser Taktik zu zweifelhafter Meisterschaft gebracht. Auch die bayerische Kulturpolitik versteht sich darauf ganz gut. 

Wenn man sich heute in München umhört, bei Musikerinnen, Journalisten, Kulturpolitiker:innen, dann erwartet dort kaum noch jemand, dass das Konzerthaus jemals gebaut wird: zu hoch die Baukosten, zu lang die Liste anderer, prioritärer Sanierungsfälle, zu gering der politische Wille. Im Bayerischen Landtag hatte das Leuchtturmprojekt für München seit jeher wenige Befürworter. »Dort sind die Franken stark und fragen sich: Was ist mit Nürnberg, was ist mit Würzburg?«, so eine bayerische Musikerin, die auch in der Kulturpolitik vernetzt ist, gegenüber VAN. Die Erfolgsgeschichte der Isarphilharmonie hat zudem gezeigt, dass es auch gut und günstig geht. 

Als Kunstminister Markus Blume am 10. Mai in einer Anhörung im Bayerischen Landtag seine Pläne für die Sanierung von Münchens Kultureinrichtungen vorstellte, kam das Konzerthaus nur unter »ferner liefen« vor. Als gute Nachricht wird mittlerweile verkauft, dass das Projekt offiziell noch nicht gestorben sei. Allerdings hat es den Anschein, dass für die Kunde seines Ablebens einfach auf einen günstigeren Moment gewartet wird, der nach der Landtagswahl im Oktober gekommen sein könnte.  


Das Münchner Konzerthaus ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein Kulturprojekt nicht aufs Gleis gesetzt werden sollte. Seine Befürworter verweisen oft auf die Elbphilharmonie als Paradebeispiel für die Bedeutung, die ein Bauwerk für eine Stadt haben kann. Aber der Vergleich mit der Elphi offenbart eher, was in München alles schiefgelaufen ist: Während in Hamburg am Anfang eine Vision stand, waren es in München die Interessen einiger weniger, vor allem des BR und seines Symphonieorchesters. Während in Hamburg der Saal immer auch ein Versprechen für die Gesamtstadt war – Leuchtturm, Wahrzeichen –, das heiß diskutiert, in Frage gestellt und angefeindet wurde, argumentierte man in München mit Partikularbedürfnissen, die so richtig weder begeistern noch erzürnen konnten: eine bessere Akustik bei Mahler oder Prokofjew, mehr Backstage-, Umkleide- und Proberäume, endlich ein »eigenes Haus« für das BRSO. Das Argument, einem Weltklasse-Orchester könne nicht zugemutet werden, einen Saal mit einem anderen zu teilen, konnte dabei für Außenstehende immer auch abgehoben wirken. 

Das Versäumnis – oder die fehlende Bereitschaft – mit allen Ensembles und der freien Szene eine gemeinsame Vision zu entwickeln, hat das spätere Scheitern vorweggenommen oder zumindest erleichtert. »Man hat damit eine einmalige Chance für den Klassik-Standort München verpasst«, so ein Musiker gegenüber VAN. »Es reicht ja nicht der Bau allein, die Idee muss ebenso tragfähig sein. Aber die Idee war schwach, null integrativ und provinz-elitär.« Da hat es auch nicht mehr geholfen, dass man in letzter Zeit noch schnell versucht hat, das Konzerthaus umzuetikettieren. Es soll nun »das erste europäische Konzerthaus für das digitale Zeitalter« werden und unter anderem eine bespielbare LED-Fassade erhalten. Wie weit man die allerdings sehen kann, ist fraglich: Mittlerweile wurden neben den geplanten Glaskubus zwei Hotelklötze gesetzt.

Siegerentwurf für das Konzerthaus München des Vorarlberger Architekturbüros Cukrowicz Nachbaur • Foto via www.konzerthaus-muenchen.de (Fair Use)

Dass das Konzerthaus nie über den Status eines Herzensprojekts des BR hinausgewachsen ist, bleibt eine Hypothek, die in der Debatte um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und seine Klangkörper nun umso schwerer wiegt. (Zu dieser Debatte gehört auch die Frage, ob eine öffentlich-rechtlich finanzierte Rundfunkanstalt mithilfe der eigenen Kanäle so sehr Lobbying in eigener Sache machen sollte, wie es der BR beim Konzerthaus tut.

Folgerichtig sind es stets dieselben üblichen Verdächtigen, die für die Idee trommeln: Dann fordert Anne-Sophie Mutter im BR-Podcast, moderiert von einer Musikerin des BRSO, endlich »eine ›Stradivari‹ für dieses großartige Orchester zu bauen« und lamentiert darüber, dass die Solistengarderobe in der Isarphilharmonie »nur um die sechs Quadratmeter« habe. Dagegen bleiben die beiden anderen BR-Klangkörper, das Münchner Rundfunkorchester oder der BR-Chor, auffallend still. 


Wie geht es nun weiter in München? Kaum einer glaubt, dass vor der Landtagswahl im Herbst noch etwas passiert. Danach, so vermuten viele, werden sich das Land Bayern und die Stadt München zusammentun und gemeinsam den Gasteig zu einem Konzertsaal umbauen, der höchsten Ansprüchen genügt (auch beim städtischen Gasteig herrscht derzeit – mangels Investor – Baupause.) Mit (erweiterter) Isarphilhamonie und dem (sanierten) Herkulessaal hätte man dann drei Säle für zwei Orchester, die Münchner Philharmoniker und das BRSO. Zum Vergleich: Berlin hat noch mehr Spitzenorchester als München, aber mit Konzerthaus und Philharmonie auch nur zwei Säle für das sinfonische Repertoire. 

Einstweilen wird weiterhin viel Geld verbrannt: Über 100 Personen in Ministerien und Ämtern und 30 externe Firmen sind seit Projektbeginn mit der Planung des neuen Konzerthauses befasst. Bis Juni 2022 hatte dies bereits Kosten von etwa 27 Millionen Euro verursacht. Außerdem zahlt der Freistaat seit 2016 jährlich rund 600.000 Euro Erbpacht für den Standort an den Pfanni-Erben. Viel Geld für ein Projekt, dessen Scheitern besiegelt scheint. Aber auch das kennt man vom Fussball. Hertha BSC alias Big City Club kann davon ein Lied singen. Dass dem BRSO aber nun auch ein Abstieg bevorsteht, nur weil es keinen eigenen Konzertsaal besitzt, ist nicht zu befürchten.

Auf dem Areal im Werksviertel dreht einstweilen das Riesenrad »Umadum« seine Runden. »Ich bin durch meine Höhe von knapp 80 Metern Münchens größte Attraktion«, heißt es auf dessen Webseite. »I gfrei mi auf di!« ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com