Kiew war schon immer eine fortschrittliche Stadt. Als erste Metropole des damaligen Russischen Reichs überhaupt erbaute man hier 1892 ein elektrisches Straßenbahnnetz. Nach der Russischen Revolution im Februar 1917 und nach der deutschen Besatzung nach Ende des Ersten Weltkriegs entstanden – für sehr kurze Zeit – Ukrainische Volksrepublik und Ukrainischer Staat. Doch man ließ den Menschen in Kiew keine Ruhe. Ab 1920 war Kiew wieder sowjetisch – und ab Januar 1934 Hauptstadt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik.

Am 24. Oktober 1939 wurde hier – in Kiew – Lesia Vasylivna Dychko geboren. Offenbar musikalisch früh- und hochbegabt schloss Dychko 1959 ihre Studien am Musikgymnasium »M. V. Lysenko« in Kiew mit einem Diplom in Musiktheorie ab. (Dieses Konservatorium genießt bis heute einen hervorragenden Ruf – und blickt auf eine ruhm- und ehrenvolle Geschichte zurück. Jelena Sinkewitsch berichtet, Gründer Mykola Witalijowytsch Lyssenko (1842–1912) gelte gewissermaßen als Legende der Ukrainischen Musikkultur. Lyssenko war nicht nur Komponist von eindrücklichen elf Opern, sondern tat sich als Volksmusikforscher und herausragender Pädagoge hervor. Er ist gewissermaßen der »Béla Bartók der Ukraine«.)

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1964 machte Lesia Dychko ihren Abschluss in Komposition an der Nationalen Musikakademie der Ukraine in Kiew bei Konstantyn Dankevych (1905–1984), der symphonisch schwergewichtige, heroisch-schwelgerische Tongemälde vorlegte. Ein weiterer Kompositionsprofessor Dychkos war Borys Ljatoschynskyj (1895–1968), der – wie überraschend viele Komponisten des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts – zunächst Jura studierte, um sich kurz nach dem Studienabschluss Sergei Prokofjews bei dessen Lehrer Reinhold Glière (1875–1956) für Komposition einzuschreiben. Im Jahr 1971 ergänzte Dychko ihre Studien bei Nikolai Peiko (1916–1995) und arbeitete anschließend als Komponistin und Musiktheorielehrerin. Von 1965 bis 1966 unterrichtete sie am Pädagogischen Institut in Kiew, von 1972 bis 1994 an der dortigen Kunstakademie und ab 1965 am Studio des Staatlichen Bandura-Spielerchors der Ukraine. (Die Bandura nennt man auch »ukrainische Lautenzither«.) 1994 wurde sie an der Nationalen Musikakademie der Ukraine zur Professorin ernannt und lehrte dort lange Komposition und Musiktheorie.

Unseres Wissens nach lebt Lesia Dychko inzwischen 82jährig weiterhin in Kiew.


Lesia Vasylvina Dychko (* 1939)
Scherzo für Orgel

YouTube Video

Informationen über Dychkos Werkkatalog findet man nur vereinzelt. Offensichtlich komponierte sie bisher mindestens eine Symphonie mit dem programmatischen Titel »Pryvitannia zhyttia« (»Willkommenes Leben«) sowie Oratorien und andere Werke mit Beteiligung von Chor und Orchester. Wann ihr Scherzo für Orgel entstand, das lässt sich nicht genau herausfinden. Aber vor wenigen Tagen – und offenbar aus aktuellem Anlass – tauchte eine Einspielung dieses Werkes in der Online-Welt auf (siehe Video). Hier sehen und hören wir die Organistin Nadiya Velychko an der 1868 erbauten Erben-Orgel in der Basilica of Saint Patrick’s Old Cathedral in New York City.

In dem Text zu dem besagten Video erfahren wir noch, dass Dychko in der Ukraine vor allem für geistliche Musik bekannt ist und über sakrale Arbeiten hinaus Kammermusik und Filmmusik komponierte. Dychkos Scherzo harmoniert prächtig mit den historisierend nachempfundenen bunten Fenstern der Basilika. Segnend, sprühend wird hier offenbar eine Menge Heiliger Geist ausgesendet. Ständig drehende Tongruppen bilden den Teppich für motivische und harmonische Spielereien. Kaskaden fahren die Tastatur hinauf, verschachteln sich. Farbige Musik, die ganz aus der Tradition französischen Orgelimprovisierens heraus entsteht. Wirkungsvoll, lukullisch, bedeutsam – und durchaus tonal verortet. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.