Ich bin mir sicher, wir alle kommen, wenn wir genug klassische Musik gehört und auch noch etwas dazu gelesen haben, an den Punkt, an dem wir gewisse Komponist:innen einfach nicht mehr ertragen können. Ich bin in der Nähe von Boston aufgewachsen, und beim ewigen Auf- und Abfahren des Highway 95 im babyblauen Buick meines Großvaters machte mich der Lokalsender schon bald bekannt mit meinen musikalischen Moriarty: Georg Philipp Telemann. Ich lernte schnell, den Komponisten zielsicher zu identifizieren, wenn ich auf die Klassikwelle umschaltete und mitten in ein Stück hinein, das mich mit unnötiger Affektiertheit anödete.

Irgendwann aber können wir nur noch schwer sagen, warum genau wir die Musik, die wir hassen, eigentlich hassen. Mit einer anderen Facette des Komponisten hat mich 2012 eine Produktion von Telemanns Orpheus in der New York City Opera herumgekriegt. Was für mein 17-jähriges Ich fades Rokoko war, klang Jahre später (mit der richtigen Besetzung) nun satt, nuanciert und knackig. Was mir damals wie ein kitschiger Garten aus simplen Melodielinien schien, vollgestopft mit zurechtgestutzten Hecken und groteskem Blumenschmuck, war in Wirklichkeit ein dichtes Labyrinth aus buntem Herbstlaub voller Abzweigungen und Sackgassen. Diesem Gefühl habe ich bei Telemann hinterhergejagt: endlich etwas fassen, das einem so lange entwischt ist.


Auf den ersten Blick eröffnen seine 12 Fantasien für Flöte Solo diese Tiefen nicht. Jean-Pierre Rampal braucht mit ihnen nur wenige Minuten, um mich wieder in den semi-komatösen Zustand zu versetzten, in dem ich bereits so viele Stunden lang korrekt-aber-lustlosen Telemann ertragen musste. Caroline Eidsten Dahls neue Einspielung aber, mit Block- statt Querflöte, gibt der Werkreihe die mir ebenfalls mittlerweile bekannte, erleuchtende Textur. In den komplexen Nebenflüssen des Komponisten spielt Dahl, als fühle sie sich zuhause: historisch informiert mit Ehrfurcht, aber niemals mit Ballast. Es ist die Intimität dieser Aufnahme: wie eine tiefsinniges Gespräch, in dem jedes Wort bewusst gewählt und jedes Gefühl ausgedrückt wird – während man gar nicht merkt, wie die Zeit verrinnt. 

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Auf dem Album Mirrors der Sopranistin Jeanine De Bique ist Telemann zwar auch vertreten, steht aber eindeutig nicht im Mittelpunkt. Nach einer feurigen Eröffnung aus Carl Heinrich Grauns Cesare e Cleopatra, dem üppig schwermütigem See pietà di me non senti aus Händels Gulio Cesare und dem Koloraturen-Schmuckstück L’alma mia fra le tempeste aus dessen Agrippina können Georg Philipps sechs Minuten im Rampenlicht schnell im Mix untergehen.

Das aber wäre eine Schande. Rimembranza crudel, die Arie von Agrippina in Telemanns Garmanicus, ist ein seidener Faden der Pein, schillernd und prunkvoll. Die Mutter und Namenspatronin von Händels Titelheldin ist keine Intrigantin, sondern politisches Bauernopfer, das der Untreue verleumdet und zu Tode verurteilt wurde. Getrennt von Ehemann Germanicus und Sohn Caligula weint sie: »Das Herz weiß nicht, wie es auf die Entfernung leben soll.« Ihr folgendes Lamento, in Händelscher Art zusammengezimmert auf dem Fundament von nur zwei Textzeilen, überwindet diese Distanz: Ein Dehnen ad infinitum schafft Verbindungen, wo  räumliche Ferne und bewusst herbeigeführte Missverständnisse einst trennten. Die Geschichte wird ihren Lauf nehmen, aber Agrippinas Herz wird immer auf immer verweilen in dieser schmerzvollen Erinnerung.

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Eine meiner Lieblingsaufnahmen mit Jeanine de Biques ist ihr elektrisierendes Rejoice greatly, o daughter of Zion von den BBC-Proms 2017, das auch im hitzigen Tempo keine einzige Note auslässt und perfekt artikuliert ist. Solch olympiareife Akrobatik erleben wir auch auf diesem Album. Aber es ist dieser Telemann-Moment von fast gänzlicher Stille, der wirklich den Tiefgang von de Biques Stimmumfang und ihres dramatischen Ausdrucksvermögens zeigt. Das ist auch der Sinn von Mirrors: Sie stellt umsichtig Opernfiguren des frühen 18. Jahrhunderts gegenüber, um eine unendliche Spiegelung verwandter Rollen zu schaffen. Quer durch die Oeuvres von Komponisten und Liibrettist:innen erblickt man dabei die Reflektionen und Brechungen verschiedener Persönlichkeitszüge und Intentionen. Der Pfad führt bergab, aber er wird bestritten von einer unglaublich frischen Stimme.


In seinem Buch Counterpoint: A Memoir of Bach and Mourning schreibt der Kritiker Philipp Kennicott: »Mit zunehmenden Alter müssen wir lernen, Aspekte unseres Selbst loszulassen, um Raum zu gewinnen, neue zu entwickeln.« Er meint hier zwar eher seinen Umgang mit Trauer, aber man kann diese Aussage auch gut darauf beziehen, wie wir heute an Bach (und die meisten anderen historischen Komponist:innen) herantreten.

Irgendwann müssen sich wohl alle Pianist:innen den Goldberg Variationen stellen. Das Cello hat die sechs Suiten, auf der Violine sind es die Sonaten und Partiten. Jedes Mal, wenn ich diese Werke wieder und wieder unter »Neuerscheinungen« aufgelistet sehe, frage ich mich in wie Chers Figur Castorinis im Film Mondsüchtig 1987: »Schon wieder?« Brauchen wir eine Kunst der Fuge von wirklich allen Pianst:innen? Nein. Müssen alle Violinist:innen kostbare Zeit, Aufwand und Geld an die nächste Chaconne-Aufnahme verschwenden? Nein. Wenn die, die aus der Geschichte nichts lernen, dazu verdammt sind, sie zu wiederholen – sollte uns der ewige Bach-Rückgriff dann eine Lektion sein? … Kommt drauf an.

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Bach kann als ständiger Begleiter auch eine lästige Krücke sein. Aber mit den richtigen Musiker:innen kann er auch Ausgangspunkt sein, um einen Lernprozess á la Kennicott in Angriff zu nehmen: so manchen Ballast der musikalischen Tradition abwerfen, um Platz für die Entwicklung von Neuem zu schaffen. Leonidas Kavakos, der bis zu seinem 50. Lebensjahr gewartet hat, um Bachs Solosonaten und Partiten aufzunehmen, ist einer dieser Musiker. Kavakos‘ fast übernatürliche Fähigkeit, mit seinen Darbietungen immer wieder genau ins Schwarze zu treffen, könnte einen beinahe auch »Schon wieder?« fragen lassen, aber auf eine andere Art. Zugegeben: Als ich Play klickte, glaubte ich eigentlich schon zu wissen, was mich bei diesem Album erwartet, und dachte, ich könnte es nach ein paar Minuten beiseite legen und weiter meinem Tagwerk nachgehen. Stattdessen war ich vom Präludium der Partita Nr. 3  sofort gefesselt. Die ersten sechs Töne klingen wie aus dem Lehrbuch, doch dann stößt eine kontrastierende Agogik hervor, um im Call-and-Response den Anfang zu vollenden. Fast so, als würden zwei verschiedene Geiger sich mit den ineinander verschlungenen Linien austauschen.


Während manche Stücke in Bildern, Sätzen oder Strophen sprechen, wirken Bachs Sonaten und Partiten in Gesten und kurzen Blicken. Kavakos‘ Neigung, ausgedehnt in den Pausen zu verweilen und die Bogenstriche nie prätentiös, immer ernsthaft voll auszukosten, lässt die Musik auf eine organische Weise knistern.  Man erkennt seinen Sinn für das Historische, aber auch für das wirklich Relevante. Sogar noch elektrisierender ist hier Lucile Boulanger, die Werke von Carl Friedrich Abel mit einer Vielzahl von Bach-Bearbeitungen für Viola da Gamba kombiniert. Die kleinen Funken, die durch Kavakos‘ Aufführung fliegen, explodieren bei Boulangers C-Dur Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier und Auszügen aus den Cello-Suiten in einem wahren Feuerwerk. Mehr noch als Kavakos‘ Geige (die noch aus Bachs Lebzeiten stammt) ist Boulangers Gambe ein Instrument, durch das man Bach in seiner greifbarsten und rauesten Form erleben kann. Mit jeder Phrase streift sie der Musik die über Jahrhunderte gewachsene Patina der Frömmigkeit ab. Was sie stattdessen daraus formt, steht dieser an Erhabenheit aber in nichts nach. ¶

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… berichtet über Musik und Kunst für Paper, die Washington Post, NPR, Gramophone und andere. Sie war Teil der Redaktion bei Time Out New York und WQXR/Q2 Music. Auf der Bühne der Brooklyn Academy of Music konnte man ihre Texte auch schon hören – beim Next Wave Festival. Seit 2020 ist sie festes Mitglied der VAN Redaktion. olivia@van-verlag.com