1897 war nicht gerade arm an musikgeschichtlich »bleibenden« Ereignissen. In München fand am 23. Januar des Jahres die Uraufführung von Engelbert Humperdincks Oper Königskinder statt. Und am Teatro La Fenice in Venedig wurde La Bohème uraufgeführt. Allerdings in der Version von Ruggero Leoncavallo. (Puccinis Erfolgsoper war bereits 1896 in Turin aus der Taufe gehoben worden.) Geboren wurden 1897 unter anderem Erich Wolfgang Korngold und George Szell. Und Johannes Brahms starb am 3. April des Jahres. 16 Tage darauf – am 19. April 1897 – erblickte Katharine Faulkner »Kay« Swift in New York City das Licht der Welt. Zwei Jahre zuvor, 1895, wiederum war Antonín Dvořák nach seinem musikalisch legendären (in der Neunten gipfelnden) Aufenthalt aus eben jener Hauptstadt der Neuen Welt abgereist. Gustav Mahler kam 1907 nach. Anfang Mai 1891 hatte man die Carnegie Hall in Manhattan eröffnet, in deren großem Saal Dvořák und Mahler auf ihre jeweilige Weise (Letzterer auch dirigierend) Spuren hinterließen.

Doch dafür war Kay Swift die erste Frau, die ein abendfüllendes Broadway-Musical schrieb: Fine and Dandy (1930). Eigentlich ganz »klassisch« ausgebildet, ließ sie sich von George Gershwin (1898–1937) inspirieren, um ihr Glück ebenfalls mit populärer Musik zu machen. Swift und Gershwin hatten seit 1925 eine Affäre. 1934 ließ sich deswegen Swifts Ehemann – der Bankier James Paul Warburg – scheiden. Die Affäre ging weiter – bis zu Gershwins frühem Tod (er starb 1937 mit nur 38 Jahren an einem Gehirntumor).

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Mit dem bedeutenden Choreografen George Balanchine (1904–1983), der die Kunst des russischen Balletts nach Nordamerika gebracht hatte, verband Swift eine kollegiale Beziehung. 1934 schrieb sie die Musik für einen der ersten von Balanchine choreografierten Ballettabende. Infolgedessen heuerte man sie als Hauskomponistin der Showtanzgruppe »The Rockettes« an. Diesen lukrativen Job gab Swift erst auf, als sie die Stelle der Direktorin für U-Musik der Weltausstellung in New York angeboten bekam; im Jahr des Kriegsbeginns, 1939 …

Swift heiratete ein zweites Mal: einen waschechten Cowboy, mit dem sie nach Oregon zog. 1943 fasste sie ihr bisheriges Leben mittels des autobiographischen Romans Who Could Ask For Anything More? zusammen – und paraphrasierte mit dem Titel eine Textzeile aus Gershwins ikonischem Song I Got Rhythm. Noch viele, viele Jahre lang kümmerte sich Kay Swift um das Erbe der Musik ihres einstigen Geliebten, verschwand aber als autonom schaffende Künstlerin leider etwas von der Bildfläche. Sie starb 95-jährig am 28. Januar 1993 in Southington (Connecticut).


Kay Swift (1897–1993)
Can’t We Be Friends? (1929)

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Den Text zu Kay Swifts Song Can’t We Be Friends? schrieb 1929 ihr einstiger Ehemann Paul James (eigentlich: James Paul Warburg). Swifts Lied wurde zu einem All-Time-Favourite, an dem es generationsübergreifend für Künstlerinnen und Künstler wie Bing Crosby (1929), Frank Sinatra (1955), Ella Fitzgerald und Louis Armstrong (1956) und Jamie Cullum (2003) keinen Weg vorbei gab.

Paul James erzählt in seinem Song die Geschichte eines sich unaufhaltsam nahenden (netten!) Korbes: »Ich hätte es wissen müssen, aber jetzt ist es zu spät.« – und schließlich: »Sie wird mich abweisen und sagen: ›Können wir nicht einfach Freunde sein?‹« Die Originalität des Textes steckt dabei in den lustig-tragischen Vergleichsbildern: Der verliebte Protagonist legt die Worte der geliebten Frau nicht nur auf eine Goldwaage, nein, für ihn waren ihre Worte die »Wahrheiten des Evangeliums«.

Musikalisch überzeugt Can’t We Be Friends? durch die Vielgestaltigkeit von Melodik und Harmonik im Verbund. Die melodischen Bewegungen scheinen zunächst durchweg zu sagen: »Na, mein Schatz, siehst du selbst ein, nicht?« – oder: »Ich habe es dir von Anfang an erklärt!« Jedenfalls geht es am Ende eines »Satzes« immer steil bergab. Hier werden keine Fragen in den Raum geworfen. Hier wird festgestellt!

Harmonisch ist der Song – freilich Bestandteil des Real Books – ebenso genial »konstruiert«. Nach einem einleitenden »Add 9th Chord« (einem mit einer großen None bestückten Dur-Akkord) steht auch schon »C7« auf der Matte und mündet eben nicht (sonst wäre es ja auch fast kein Jazz/Blues mehr) in »irgendetwas mit F«, sondern in »G7« (das dann noch zu einem »Gb9b5« wird). Erst danach kommt es zum »erwartbaren« Akkord auf F-Basis nämlich zu »F6«. Doch um die überraschende (?) Janusköpfigkeit und Komplexität der im Song beschriebenen sozialen Situation harmonisch »umzusetzen«, wendet sich »F6« unmittelbar der verwegenen Mediante »Db7« (und die im Song »sprechende« Frau wohl einem anderen Geliebten) zu.

Bleibt nur noch – neben der Ungewissheit bezüglich »Freund:innen oder mehr …« – die Frage: Ist Can’t We Be Friends? die berühmteste Melodie einer Komponistin aller Zeiten? Die Antwort muss ganz klar lauten: »Gerne! Aber was ist dann mit Ramona von Mabel Wayne (1928) und La vie en rose (1945) von Marguerite Monnot?« ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.