Auf den Tag genau vor 127 Jahren – am 16. Dezember 1893 – wurde mit Antonín Dvořáks Symphonie No. 9 e-Moll op. 95 eine der bald beliebtesten Symphonien überhaupt von Anton Seidl am Pult der New York Philharmonics uraufgeführt. Arno Lücker widmet sich Dvořáks Symphonie aus der Neuen Welt Schritt für Schritt biographisch, plant die Reise, wagt die epische Fahrt über den großen Teich und sucht zum berühmten Largo die »richtige Stelle« eines Gedichtes über die Native Americans. Außerdem vergleicht er die Werkeinspielungen von Rafael Kubelík und dem Chicago Symphony Orchestra, von Herbert von Karajan und den Berliner Philharmonikern, von Mariss Jansons und dem Concertgebouw-Orchester Amsterdam sowie von Jos van Immerseel und Anima Eterna. Ein zünftiges Dvořák-Paket, geschnürt anlässlich eines extrem unrunden Geburtstags eines äußerst runden Stücks Musik, das um die Welt ging. Follow me, please.

Antonín Dvořáks neunte Symphonie ist die wohl drittbekannteste Symphonie der Welt – nach Beethovens Symphonien No. 5 und No. 9 – und vielleicht noch vor Schuberts Unvollendeter. Aber wie kam es eigentlich zu der melodiereichen, schwungvollen wie fast filmmusikalisch-dramatischen e-Moll-Symphonie Dvořáks?

Am 16. Juni 1891 erhielt der Komponist die Ehrendoktorwürde der Universität in Cambridge. Vier Tage später, wieder in seiner Heimatstadt Prag angekommen, schrieb der 50-jährige Frischbetitelte einen Brief an den Sekretär der fürstlichen Familie Rohan in Sychrov in Böhmen, Alois Göbl: »Lieber Freund. Nach vierzigstündiger Reise bin ich glücklich heimgekehrt. Alles ist glänzend ausgefallen – wie ich Ihnen aus Cambridge bereits auf einer Postkarte mitteilte. Es wird für mein ganzes Leben eine unvergessliche Erinnerung bleiben. Ich müsste Ihnen lang und breit darüber erzählen. Vielleicht lesen Sie in unseren Zeitungen etwas davon. Ich soll auf zwei Jahre nach Amerika fahren! Es wird mir die Stelle des Direktors am Konservatorium von New York und die Leitung von zehn Konzerten mit eigenen Kompositionen angeboten – und als Entgelt jährlich 15.000 Dollar, das sind über 30.000 Gulden. Soll ich das Angebot annehmen? Oder nicht? Schreiben Sie mir nur ein paar Worte darüber. Ich erwarte Doktor Tragy, der mir vor einem Jahr die Professur am Prager Konservatorium verschaffte, um mich zu entscheiden. Schicken Sie mir doch Ihre Antwort nach Vysoká, wohin ich schon morgen, Montag, mit der Familie fahre. Es küsst Sie und alle in Sychrov grüßend herzlich: Ihr Antonín Dvořák«.


1. Satz: Adagio – Allegro molto

Als würde Dvořák sein Abwägen, seine Selbsthinterfragung Symphoniebeginn werden lassen: der erste Satz (Adagio – Allegro molto). »Soll ich wirklich nach Amerika gehen?« (Die Antwort wird »ja« lauten!). Der Hauch einer Melodie in den sanft synkopierten Pianissimo-Celli, dazu die selig lang gezogenen Kontrabasstöne in einfachstem Nebentonabstand abwärts. Dazu eine sich resignierend-ermüdend sinken lassende Linie in den obigen Bratschen. Ein Tief-Streichtrio der Skepsis. Kein anderer bekannter Symphonie-Komponist konnte so gut mit Schlichtheit umgehen wie Dvořák. Vielleicht Mahler, stellenweise.

Die »wahre« Unsicherheit bildet das Streichtrio des unmittelbaren, leisen Beginns aber noch längst nicht ab. Erst nach scharfen Fortissimo-Schlägen, bei denen sich die Streicher gegen die abgesonderte Pauke und die schmetternden Bläser formieren, geht jegliches Musikgeschehen gewordenes Selbstbewusstsein in die Binsen. Auf die zackigen – aber längst nicht triumphierenden – Fake-News-Erschreckungen folgt zunächst eine Fortepiano-Intervention von Celli und Bässen. Dann geht der Fokus über auf die Flöten und Oboen, die in rhythmisch recht zersprengter Art und Weise harmonisch Verhangenes in schnellen Notenwerten erklingen lassen; zittrig und symphonisch unterkühlt nach dem Weg fragend. »Verdammt, wohin?«

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Gar nicht einmal »überemotional« erzählen Rafael Kubelík und das Chicago Symphony Orchestra (1951) den spröden Symphonie-Eintritt. Die Celli befinden sich im Hörvordergrund, doch die anderen Linien schwingen präsent mit. Der tiefe Klarinettenton im dritten Takt ist hörbar nicht Pianissimo – wie vom Komponisten vorgeschrieben. Nein, denn auf diesem Ton hat Dvořák einen Akzent vermerkt – und Kubelík arbeitet diesen besonderen instrumentatorischen wie dramaturgischen Moment pointiert heraus. Hier wird ein kleines Ausrufezeichen gemacht und angedeutet: »Es ist zunächst eine Geschichte des Widerstreits, in die wir euch hiermit handreichend reinholen möchten.« Mit ziemlicher rhythmischer Genauigkeit wird die Pause im neunten Takt zelebriert. Das anschließende Fortissimo wird profund und mutig dargeboten, doch ohne falsche Beschönigung.

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Herbert von Karajan und die Berliner Philharmoniker (1966) spielen den Symphoniebeginn nicht ganz unähnlich. Nur der Klarinetten-Akzent leuchtet bei Kubelík viel gemalter auf, setzt einen kleinen Stachel in die verheilende Wunde. Die routinierten Holzbläser der Philharmoniker spulen ab Takt 6 etwas seltsam Lustloses und Ausstrahlungsarmes ab; das ist weder Piano noch irgendwie rund phrasiert. Das Forzato in Takt 7 findet nicht statt, das darauffolgende Diminuendo sowieso nicht – und das Ende dieser Passage wird unsensibel hingeklatscht wie in vordigitalen Zeiten das Behördenformular auf den abgegrabbelten Rezeptionstisch im Bürgeramt Neukölln. »So, hier hamwa ditte!«

Schnell wird bei Karajan klar, dass bei dieser Dvořák-Aufnahme 1966 nie das Ansinnen war, gemeinsam wirklich gute Musik zu machen. (Viel besser hätte ich mal die Aufnahme mit Ferenc Fricsay (1960) genommen!). Karajan ließ das Orchester mit den modernsten Kameras der Zeit filmen – und vor allem sich und sein pomadiges Haar. Heraus kamen die ersten E-Musikvideos. Im Stile Riefenstahls. Gruselig. »Triumph des (zu lauten) Trillerns«. Die neuesten Errungenschaften der Technik, die Bildebene, das sich selbst so unfassbar Geil-Finden. Karajans Musiker sitzen in Reih’ und Glied; die protosoldatischen Herdentiere – und das einzelne (an einem Napoleon-Komplex leidende) genialische Individuum dringt unglaublich tief in die Musik ein. (Nicht.) Da wird die besagte Generalpause von Takt 9 komplett weggeatmet. Karajan übergeht einfach einen Schlag. Warum? Weil er in diesem Takt aufhört, zu dirigieren. Ist ja auch Pause. Nicht fähig, bis »vier« zu zählen geht es dann also nach drei (!) Schlägen weiter; denn so eine Plötzlichkeit in der Bewegung sieht halt so viel expressiver und heroischer aus als das hier nötige Durschlagen oder zumindest stille Nachempfinden der Pause innerhalb eines 4/8-Taktes. Doch es bleibt dabei: Partitur-Pausen dürfen nicht verkürzt werden. Niemals.

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Mariss Jansons und das Concertgebouw-Orchester Amsterdam (Live, 2004) gehen viel sensibler zu Werke. Ganz sanft, voller Innigkeit erklingen die ersten vorsichtigen Gesten. Der nur leicht angewuppte Klarinettenakzent ist komplett eingebettet in die kratzende Schnurrflauschigkeit der Amsterdamer:innen. (Der fast genau vor einem Jahr gestorbene Jansons war kein Radikaler, sondern jemand, den dirigentisch die sonor zusammenhängende Gesamtqualität von Akkorden und Linien orchestral interessierte.)

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Jos van Immerseel und Anima Eterna (2015) bringen natur(horn)gemäß auf alten Instrumenten eine ganz andere Klanglichkeit ins Spiel. Da wird nicht auf jede tiefe Streichernote rumgedrückt bis vermeintlich »Expressivität« herausquillt. Da vertraut man auf Horizontales – und klingt hier dennoch berührend schmachtend verbrämt; so, wie es schön ist und vielleicht sein muss. Dvořák ist nicht der existenzielle Dramatiker, der uns mit seiner Wucht für immer hinwegfegen will. Drama: ja – aber stets im Dienste der Lebensfreude hintenraus! So pointieren Immerseel und sein Orchester die Staccati in Takt 3 zurückhaltend und dennoch als das, was sie sind: Staccati. Das bleibt in fast allen anderen konservativen Aufnahmen dieses Stückes aus. Die Akzent-Klarinette hätte man sich gerade an dieser Stelle vielleicht ausdrucksvoller, »störender« gewünscht. Hier erscheint sie eingeebnet in das orchestral (noch) spärliche Umfeld.

Doch endlich eine Interpretation, die den heiklen Symphonie-Beginn fast sklavisch nach Metrum vorstellt! Das geht sich total aus. Allein die wirklich yogalange Atempause von Takt 5 reicht dabei umso mehr hinüber zu den fragilen Holzbläser-Moll-Abschreitungen mit plötzlichem übermäßigen Sforzato-Störfall. Die Fortissimo-Einbrüche der Takte hernach dreschen völlig angemessen brutal auf uns ein. Prägnant und ohne Schöngeistigkeit an falscher Stelle.

Nach weiteren Wucherungen und Versuchen, den richtigen Pfad einzuschlagen kommt es endlich, finally: das »amerikanische« Hauptthema, das ebenso (weil: synkopiert) »böhmisch« genannt werden könnte – oder gar vom Csárdás, Verbunkos (mit dem auffälligen Rhythmus-Phänomen: »kurz, dann lang«, aber mit Akzent auf der ersten, kurzen Note!) herleitbar wäre; sagen wir: Das e-Moll-Horn-Thema rhythmisch böhmisch-amerikanischerMachart (nach Art einer perfekt gelungenen ungarischen Gulaschkanone; Serviervorschlag eines abendländischen National-Symphonik-Rauchschinkens) gehört allen globalen Menschenkindern; dieses e-Moll-Thema steigt stolz (und nur durch wenige Pianissimo-Pizzicati der Cello- und Bassgruppe sowie von tremolierenden Reststreichern sekundiert) aus dem goldenen Kelche von zwei Hörnern empor; aus dem Mezzoforte ins Forte – und wieder zurück. Die Einleitung braucht gut zwei Minuten. Jetzt aber könnten wir spüren: Da ist jemand überzeugt – und es ertönt eben jenes heroische wie überhaupt nicht plump-tumbe Hauptthema des ersten Satzes. Das Abenteuer beginnt. Ein Ritt durch die (vermutete) Prärie – mit viel Weitblick und großen, erhebenden Momenten des Menschseins und der Naturerfahrung.

Doch diese Erfahrung der anderen, der »neuen« Welt steht noch bevor. Virtuell, jetzt. Noch sind wir in unserem Nachvollzug der ganzen Reise nicht in Amerika angekommen. Am 17. September 1892 besteigen Antonín Dvořák und seine Familie in Bremen einen Dampfer mit dem schönen Namen »Saale«. Nach neun Tagen Reise fährt das Schiff am 26. September 1892 in New York ein, genauer: kommt in Staten Island an, also an der vor New York im Mündungstrichter des Hudson River gelegenen Insel.

Einen Monat nach Ankunft in New York berichtet Dvořák an seinen Freund Emil Kozánek, Doktor der Rechtswissenschaften, aus New York nach Mähren: »Lieber Freund, ich versprach, Ihnen zu schreiben – und tue es mit Vergnügen. Wenn ich in die ›alte Heimat‹ (wie man hier sagt) schreibe, scheint es mir, als sähe ich jeden bekannten Freund, an den ich gerade denke, vor mir… und blicke ihm in die Augen. Und so auch heute. Ich sehe Sie, wie Sie an einem schönen Herbstmorgen (es ist prächtiges Wetter hier!) im Kroměřížer Park spazieren gehen und traurig nach den Bäumen blicken, die allmählich Laub verlieren. Ja, was kann man da machen? Auch Gottes Natur braucht ihr Diminuendo und Morendo, um wiederaufzuleben, um sich zu großem Crescendo zu erheben – und wieder ihre Stärke und Höhe in mächtigem Fortissimo zu erlangen. Wohin bin ich denn da abgekommen, was erzähle ich Ihnen da? Ich soll Ihnen doch von unserer Reise schreiben, von unserem Empfang in Amerika und vielleicht von Dingen, die mich betreffen? Also hören Sie zu. Unsere Schiffsreise war schön, bis auf einen Tag (alle an Bord waren krank, nur ich nicht) – und so sind wir also bis auf eine ganz kleine Quarantäne glücklich im gelobten Land angekommen. Die Aussicht von ›Sandy Hook‹ (Hafenstadt) – auf New York mit dem Anblick der großartigen Statue der ›Liberty‹ (allein in ihrem Kopf haben 60 Personen Platz und es finden dort große Bankette statt) – diese Aussicht ist berauschend! Und dazu diese Unmasse von Schiffen aus allen Erdteilen! Ja, wie ich sage: zauberhaft! Dienstag, den 27. September [1892] sind wir also glücklich bis hinein in die Stadt gekommen (Hoboken, wo alle Schiffe ankommen und abfahren) und dort am Bahnhof erwartete uns der Sekretär unseres Konservatoriums Herr Stanton – und was mich besonders freute – eine tschechische Abordnung. Wir begrüßten einander und sprachen ein paar Worte – und schon erwartete uns ein Wagen und bald darauf waren wir mitten in New York. Wir sind jetzt im Hotel Clarendon (das ist an der Ecke der 18. Oststraße, Ecke 4th Avenue). Die Stadt selbst ist großartig, schöne Gebäude und prächtige Straßen und überall große Sauberkeit. Teuer ist es hier! Was bei uns ein Gulden ist, ist hier ein Dollar. Hier im Hotel zahlen wir 55 Dollar wöchentlich für drei Zimmer, allerdings in dem Hauptteil der Stadt ›Union Square‹. Am Sonntag den 9. Oktober [1892] gab es mir zu Ehren ein großes tschechisches Konzert. 3000 Leute waren im Saal – und der Jubel und die Begeisterung wollte kein Ende nehmen. Es wurden tschechische und englische Reden gehalten und ich Unglücksrabe musste mich von der Bühne herab bedanken; in der Hand hatte ich einen Silberkranz. Sie können sich denken, wie mir zu Mute war. Übrigens werden Sie später aus der Zeitung darüber erfahren. Was die amerikanischen Zeitungen über mich schreiben ist schrecklich – alle sehen in mir einen ›Erlöser der Musik‹ und ich weiß nicht, was noch alles! Alle wissenschaftlichen und politischen Blätter schrieben und schreiben unaufhörlich von mir. Ich muss enden, da ich keinen Platz mehr habe. Hundertausendmal küsst Sie: Ihr Antonín Dvořák«.

New York City, Ende des 19. Jahrhunderts also. Genau in diesen Jahren veränderte sich die Stadt massiv. 1880 hatte man den Broadway so hell erleuchtet, dass New York bis heute traditionell vom Weltraum aus leicht erkennbar ist. Die ersten großen Elektrizitätswerke entstanden. Jens Malter Fischer schreibt in seinem Buch über Gustav Mahler, der ein paar Jahre nach Dvořák den Gang über den Teich wagte: »Die ersten New Yorker Familien (angeblich bestanden sie aus den vierhundert Menschen, die jeweils im Januar von Mrs. [Caroline Schermerhorn] Astor [kurz: »the Mrs. Astor« genannt] zu einem riesigen Ball geladen wurden) hatten nicht erst in der Gründerzeit ihr Geld gemacht, fanden aber jetzt erst eine auch kulturell definierte Gelegenheit, ihr Vermögen ostentativ auszugeben.« (Gustav Mahler. Der fremde Vertraute, München 2003, S. 698 f.) 1883 wurde die Metropolitan Opera eröffnet, 1891 die Carnegie Hall. Und 1893 baute Dvořák seine Neunte – mit dem genialen (genial einfachen) Hauptthema des ersten Symphonieparts, das in jedem Satz erinnernd/dramatisch/hereinbrechend an bestimmten Stellen wiederkehrt. Die Attraktivität der großen Erzählung. Bescheidenheit wollte sich Dvořák nicht mehr leisten.

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Bei Kubelík blüht das Horn-Motto herrlich auf. Perfekt, wie die tänzerisch bewegten Klarinetten und Fagotte anschließend – genau nach Vorschrift – ein Register leiser erwidern. Die darauffolgende Oboe ruht sich kein bisschen darauf aus, auch einmal das Thema blasen zu dürfen; hier steht nichts selbstgefällig auf der Stelle – und guckt sich von außen an. Und trotz der alten Aufnahmetechnik kommen die geschmackvollen Crescendi des Orchesters aus Chicago gut ins Ohr. Da wird man gemeinsam an manchen Stellen sogar etwas schneller, um sich an »Zauberstellen« von Piccoloflöte und Co. entsprechende Mini-Insel-Verharrungen erlauben zu dürfen.

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Karajan und die Berliner knirschen auf den Themen, Überleitungen und Zwischenerfindungen Dvořáks herum wie auf einem Schnitzel, das dem billigen Bratfett-Ungeheuer geopfert und zuvor vom Schnitzelhammer totgeklopft wird. Metallisch klingen hier die Tremoli, offensiv und maschinell die Fortissimi. Hier wird exerziert, nicht musiziert; man marschiert mit stählernem Blick, Panzern und Jagdgeschwadern aus der Luft nach Amerika ein. Alles erscheint determiniert, alles muss preußisch funktionieren. Die Töne sind weder schön, noch lebendig; die Themengestaltungen weder klangvoll noch irgendwie ergreifend. Bollerig stampfen Pauken und tiefe Streicher die Auftakt-Geschehnisse nieder. Knapp werden solistischen Holzbläsern kleinste Klangräume eröffnet, doch stets so, dass die Solisten sich abhetzen müssen, den stringenten Tempovorstellungen des Mini-Maestros zu entsprechen. Das ächzt, das schreit, das brüllt mich an; mit so jemanden habe ich keine Lust auf ein ernsthaftes Gespräch. Da will immer jemand das erste und letzte Wort haben. Ätzend.

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Wie bewegt und menschlich es im Vergleich doch dazu bei Jansons und dem Koninklijk Concertgebouworkest zugeht! Ganz verhangen antworten die Holzbläser:innen auf das Horn-Motto; alles noch fein »aufsparend«! Die Crescendi sind voller Steigerungswolllust und spielerischer Emphase; da ist sogar etwas Kuddelmuddel am Werke – nicht einmal auf Perfektion spielen die also! Die niederländischen Celli-Kontrabass-Wuppungen sitzen bongig und ploppen spaßvoll auf die »Eins«.

Diese Dvořák-Symphonie darf man nicht zu häufig hören! Die Erfindungen des Komponisten sind mutig im Sinne der Reduktion auf einen Kern, sind ein Geständnis: »Ja, ich kann Melodien. Aber die sind nicht intellektuell. Weil mich das einen Scheiß interessiert!« Jansons und das Concertgebouw-Orchester merkt man das Lächeln beim Musizieren an, die Lust an der nussigen Einfachheit der instrumentatorischen Finessen Dvořáks; da schnalzt es bei Holzbläser-Trillern so kindlich befreit… Warum können Orchester nicht immer so voller Lebenslust Musik machen? (Hach.)

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Immerseel und sein Ensemble nehmen die symphonische Angelegenheit wesentlich ernster. Die Instrumente buchstabieren vielleicht etwas sehr überdeutlich; und die Forte-Tutti-Klänge ballern; doch die Holzbläser-Soli gelingen gut in der Art des Wechsels von Atemlosigkeit und Rubato-Freiraum. Und selbstverfreilich gibt es die ganze Zeit diese typischen Angebote der historisch informierten Klangkörper: Das sitzt, das tönt gar erfrischend – weil man sich einfach zu häufig mit zu viel romantischer Fertigsauce aus der Alu-Packung zufriedengab. Aber das frisch zubereitete Mahl schmeckt dabei ganz schön frostig. (Frozen Dvořák.) Die menschliche Lebendigkeit von Jansons und Co. züngelt jedoch einfach runder und überzeugender in den Hörschlund der (an)gemessenen Völlerei.


2. Satz: Largo

Der zweite Satz (Largo) lässt zunächst warme, in ihrem Wechsel fast verwegen schillernde Bläserakkorde erklingen. Wie anfangs des ersten Satzes fällt Dvořák nicht gleich kompositorisch mit der Tür ins Haus, sondern erzeugt Spannung, nimmt die Zuhörenden mit auf eine Reise, an die sie sich bitte selbst beteiligen mögen. (Selfies mit der Freiheitsstatue sind also ausdrücklich erlaubt.) Und so erklingt die berühmte hymnisch-feierliche Melodie erst nach einigen Momenten; gespielt vom Englischhorn, das hier – zusammen mit den Passagen des dritten Satzes der Symphonie fantastique von Hector Berlioz (1830) und dem (etwas schrecklichen) Adagio von Joaquín Rodrigos Concierto de Aranjuez (1939) – sein wohl berühmtestes Solo der Musikgeschichte zelebrieren darf.

Dvořák schreibt in einem Brief an Emil Kozanek: »…jetzt beende ich eine neue Symphonie e-Moll. Sie bereitet mir viel Freude und wird sich von meinen früheren Symphonien ganz wesentlich unterscheiden. Nun, den Einfluss von Amerika muss ein jeder, der Gespür hat, herausfühlen…«

Wie klingt jetzt aber dieser »Einfluss«? Wie kann man das hören? – Dvořák hatte in seiner Zeit in Amerika auch Kontakt mit der religiösen Musik, den Spirituals der Afroamerikaner:innen. Hymnisches, Harmonisches, ehrlich Herzerwärmendes; Christliches! Und tatsächlich klingt bei der berühmten Melodie des zweiten Satzes der Neunten irgendetwas davon mit – zum Beispiel etwas von dem Song Oh Glory!

Doch bei diesen hörbaren Einflüssen bleibt es nicht hinsichtlich des Largos. Da geht noch mehr (rein)! Denn bei seinen Trips aufs Land traf Dvořák außerdem auf Vertreter:innen der Native Americans. Die Sommerwochen in den USA verbrachte der Komponist nämlich häufig in Spilville in Iowa. Noch am Vorabend der Uraufführung seiner neunten Symphonie stand Dvořák dem New York Herald für ein Interview zur Verfügung – und dort gab er zu Protokoll: »Der zweite Satz meiner Symphonie unterscheidet sich von sonstigen langsamen Symphoniesätzen. In Wahrheit ist dieses Largo eine Vorstudie, ein Entwurf für ein längeres Werk [Anm. das nie fertig wurde], vielleicht für eine Kantate oder eine Oper, die ich schreiben möchte – und die auf dem Gedicht Das Lied von Hiawatha basiert. Ich hatte dabei schon lange die Idee, dieses Gedicht zu verwenden. Vor über dreißig Jahren kam ich mit einer tschechischen Übersetzung dieses Epos’ in Kontakt. Es regte meine Fantasie schon damals sehr an – und dieser starke Eindruck, diese Inspiration wurde durch die Zeit hier in Amerika noch einmal verstärkt.«

Das Lied von Hiawatha ist ein Gedicht des amerikanischen Schriftstellers Henry Wadsworth Longfellow (1807–1882) aus dem Jahr 1855 und berichtet vom Leben des amerikanischen Ureinwohners Hiawatha, Häuptling der Onodaga oder der Mohawk in Nordamerika. Hiawatha wurde wahrscheinlich in der Mitte des 16. Jahrhunderts geboren. Erzählungen zufolge soll er den Irokesenbund gegründet und angeführt haben; ein großer Mann des Friedens. Mit dem zweiten Satz vertont Dvořák möglicherweise die Trauer Hiawathas über den Tod seiner geliebten Frau und Weggefährtin Minnehaha – letztlich aber das dankbare Zurückschauen auf ihre Liebe und das gemeinsame Leben in der Natur.

Aus den vielen, vielen Strophen des Gedichtes (Übersetzung: Heinrich Schultz) habe ich versucht, diejenigen herauszusuchen, die der Musik des zweiten Symphoniesatzes »entsprechen« könnten. Man lese also jenen Verse – und höre gleichzeitig die Musik…

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Kann es Schöneres geben als die Landschaftsansicht von Kubelík und dem von ihm dirigierten Chicago Symphony Orchestra? Wie das Englischhorn aufblüht – und wieder vergeht. Wie es sich genüsslich bei einem Crescendo streckt und wieder in den Klang der anderen zurückzieht, um darin am Phrasenende gänzlich zu verschwinden. Hier möchte man verweilen; und still um Minnehaha (oder um andere Vorangegangene) trauern.

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Bei Karajan und den Philharmonikern stehen schon die Anfangsakkorde ziemlich kalt für sich nebeneinander. Das Englischhorn bläst viel zu laut. Die Begleittöne werden wie bei einem Portato einzeln verschleppt. Hier wird Expression vorgespielt, aber nicht gelebt. Dafür schwillt es beim ersten größeren Crescendo gleich unangenehm an. Die Holzbläser intonieren sicher, aber beginnen auch bald zu schreien. Dvořák klingt nach einem sich langsam nach vorne ächzenden Beethoven. Und das kann es einfach nicht sein. Legen wir diese Aufnahme diskret zur Seite.

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Jansons lässt sein Orchester die verwegen schimmernden Anfangsakkorde ganz marmorfarben leise dröhnen. Mit Substanz und Grundierung. Es klingt wie Bruckners Siebte; absolut tief und erdig. Gut so. Und schon an den das Englischhorn-Solo vorbereitenden Maßnahmen der PPP-Streicher wird deutlich, wie »liebevolles Musizieren« geht. Wenn alle ihre Saite in der wärmsten Tonart, die wir haben (Des-Dur), so streicheln, dann entsteht Liebe, Zärtlichkeit und beseelte Dankbarkeit. Dazu gehört eine gewisse Haltung, der Mut zum leise-Spielen, der innere Nachvollzug von Sanftheit im Zusammenwirken mit dem Vertrauen, das einem von einem bescheidenen Menschen geschenkt wird. Unvergleichlich schön.

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Immerseel und Anima Eterna gehen auch im Angesicht des Largos recht trocken verputzt zur Sache. Klar, endlich hört man mal von der Pauke in Takt 4 mehr als nur ein Wummern. Aber ist denn wirklich mehr als ein Wummern »gewünscht«? Fast witzig, wie man beim Englischhorn-Solo barockartig in den Streichern kurz einen »Bauch« in den Klang gibt; barocke Kurz-Crescendi, angewandt auf Dvořák. Why not?


3. Satz: Scherzo. Molto vivace

Im dritten Satz rückt sich Dvořáks böhmische Heimat bald tänzerisch ins Bild; fast wie in der Musik von Kollege Mahler (geboren in Böhmen). Und wir wissen: Je weiter man weg von Zuhause ist, desto unerwartet patriotisch wird man plötzlich…

Am 16. Dezember 1893 spielen die New York Phiharmonics in der Carnegie Hall die Uraufführung von Dvořáks Symphonie unter der Leitung von Dirigent Anton Seidl. Einen Tag später schreibt der New York Herald: »Der berühmte tschechische Komponist Antonín Dvořák war gewiss schwer zufriedenzustellen, aber die Begeisterung entzückte ihn doch ganz besonders, die seine neue Symphonie bei dem überaus zahlreich erschienen Publikum in der Carnegie Hall hervorgerufen hatte. Nach dem zweiten Satz seiner Symphonie wurden ihm laute Huldigungen dargebracht. Von allen Seiten erschallte stürmischer Beifall. Jeder der Anwesenden blickte nach der Richtung, nach welcher der Dirigent Anton Seidl schaute. Er war ersichtlich, wohin sich alle Blicke richteten. Endlich wurde ein Mann von mittlerer Körpergröße und aufrechter Gestalt wie eine Tanne der Wälder, deren Musik er so überwältigend beschreibt, von den Zuhörern bemerkt! Durch den ganzen Saal klang der Ruf: ›Dvořák! Dvořák!‹ Und während sich der Komponist verneigt, haben wir Gelegenheit, diesen Tondichter zu beobachten, der so die Herzen des zahlreichen Publikums zu bewegen weiß. Er hat eine dunkle Hautfarbe, dunkle Haare, vorn schütter. Sein kurzer, dunkler Bart beginnt grau zu werden. Seine dunklen großen Augen haben einen festen Blick. Sein Antlitz ist aufrichtig, gütig und sein Ausdruck verrät einen offenen, arglosen Charakter. Das ist der Mann, dem das Publikum Beifall zollte. Doktor Dvořák gab mit seinen Händen, die vor Rührung bebten, Herrn Seidl, dem Orchester und den Zuhörern seine Anerkennung zu verstehen, worauf er im Hintergrund verschwand und die Symphonie ihren Fortgang nahm.«

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Kubelík lässt sein Orchester von Anfang an richtig Fahrt aufnehmen. Ganz schön spannend und schneidend! Wie kleine Nadelstiche sitzen die Holzbläser-Staccati! Fast sich überwerfend klöppeln die Streicher dazwischen. Hier wird echtes Drama entfacht. Nix mit »Dvořák = immer schön«! Der Übergang zum Poco sostenuto (»etwas langsamer«) gelingt prächtig, denn die Spannung flaut nicht plötzlich ab; wer auf Action steht, der schaltet hier nämlich sonst möglicherweise in den Stand-by-Modus: »Ach, jetzt kommt etwas Harmloses«. Die Linien und die Aufgekratztheit dieser Interpretation verhindern diesen Nicht-Aufmerksamkeits-Trigger. Zudem sind herausgearbeitete Details zu beobachten, wie das gar nicht mal von Dvořák unbedingt deutlich benannte »Echo« der thematischen Holzbläser-Zusammenfassung ab Takt 84: einmal »Forte« (mit Aufschweller hernach), dann (bei Kubelík jedenfalls) angesichts der Wiederholung »fast Forte«. Subtil.

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Mariss Jansons und das Concertgebouw-Orchester gehen wesentlich fleischhaltiger zur Sache. Das springt dabei seitens der Holzbläser nicht so schön, reibt sich aber in den Streichern herrlich ruppig überall auf, wo Dvořák absichtlich Kieselsteine streut. Und: Schon ein wenig schade, dass die – hemiolisch widersprechenden – Hörner ab Takt 42 hier nicht so aufregend dazwischentröten wie in der Kubelík-Aufnahme. Chicago triumphiert im dritten Satz über Amsterdam; denn für das Poco sostenuto streckt das Orchester unter der Anleitung von Jansons tempomäßig für mein Empfinden viel zu sehr alle Viere von sich. Das zieht Fäden! Und offenbar haben Pioniere wie Kubelík die besagte »Echo-Stelle« mit ihren Dirigaten geprägt, denn auch Jansons lässt die Holzbläser deutlich einen dynamischen Schritt zurücktreten. Das gerät bei Jansons allerdings etwas zu cheesy. Und die zu lauten Forzati der Streicher übertönen sogar fast das »untere Ende« der eigentlich hier gespotlighteten Flöten und Oboen (sprich: den Phrasen-Abschluss von Takt 85 zu Takt 86).

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Wieder lässt sich bei Immerseel und Anima Eterna die Pauke besonders gut heraushören; auch poltert sie gerne einmal – was bei anderen Aufnahmen unterbelichtet erscheint – völlig adäquat in die Fresse. Ansonsten bewegt sich die historisch informierte Orchestermaschine ordentlich, aber wieder seltsam kalt. Jähheit vermittelt fast nur die Pauke; der Schwung ist zu sehr konstruiert, unelegant; zu wenig böhmisch-amerikanisch gegrillt; eher Beef Jerky, ungewürzt und ohne Spaß.


4. Satz: Allegro con fuoco

Unverhohlen lustvoll Schrecken verbreitet dann der Beginn des letzten Satzes (Allegro con fuoco). Immer vom Ton h ausgehend stemmen sich die Streicher in die Höhe, um den Eintritt des feierlich-ehern vom Horn geblasenen Themas vorzubereiten. (Und, ja, sicher hat sich John Williams dieser Idee für die Musik von Jaws 1975 bei Dvořák bedient.) Doch der Schein eines rein der Virtuosität geschuldeten Sturmfinales trügt. Bald beginnt sich Dvořák an alle (!) vorherigen Sätze zu erinnern und streut dementsprechend Motive und Themen vorangegangener Symphonie-Ereignisse ein. Es sind besondere Momente, in denen sich der Kreis schließt; Momente voller Größe, in denen klar wird: Wir Hörer:innen waren Zeug:innen eines fantastischen Romans!

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Den letzten Satz höre man sich von Kubelík, Jansons und (mit Einschränkung) von van Immerseel dirigiert selbst an. Nur ein lustiges Detail: In Dvořáks neunter Symphonie kommt es zu einer unter »Kenner:innen« berühmten und im Konzert stets heiß erwarteten Szenerie: dem einzigen (!) Beckenschlag innerhalb des ganzen Werkes! Während in Bruckners Siebter das ebenfalls dort völlig singuläre Becken-Ereignis am absoluten, dynamischen und themendurchflochtenen Kulminationspunkt stattfindet (worüber sich gerne Schlagzeuger selbst auf YouTube lustig machen), steht der herrlich seltsame Mezzoforte-Beckenschlag bei Dvořák an einer Stelle des Übergangs – und wird von Dirigent:in zu Dirigent:in unterschiedlich inszeniert; meist wird das Becken nur mit einem Holzschlägel kurz gestrichen. Bei Kubelík klingt das allerdings fast wie ein dramatisches Tamtam, bei Jansons viel gelassener, heller, spitzer – und bei Immerseel maximal hell, gischig, spritzig.

Doch wie gelangt die Geschichte mit Dvořák und Amerika eigentlich zu ihrem Ende? 1894 kommt das Konservatorium in New York – aufgrund einer Wirtschaftskrise – in große Zahlungsschwierigkeiten. Dvořák verlässt New York daraufhin im April 1895, reiste nach Prag zurück und unterrichtet dort weiter als Professor am Konservatorium. 1901 wird seine Oper Rusalka mit großartigem Erfolg in Prag uraufgeführt. 1904 muss Dvořák die Uraufführung seiner Oper Armida am 25. März des Jahres verlassen, weil ihn Schmerzen plagen. Am 1. Mai 1904 stirbt Dvořák mit 63 Jahren an einem Gehirnschlag. Seine Symphonie Aus der Neuen Welt bleibt. Bis heute. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.