Am vergangenen Samstag wäre die französische Komponistin Jeanine Rueff 100 Jahre alt geworden. Die am 5. Februar 1922 in Paris Geborene taucht in den einschlägigen Komponistinnen-Lexika nicht oder nur sehr marginal auf. Nur ganz wenige Autorinnen und Autoren gehen überhaupt auf ihre Kindheit und Jugend ein. Auf einer französischen Komponistinnen-Seite findet man zumindest den Hinweis, dass Rueffs Vater offenbar als Paukist arbeitete – ein professioneller Musiker also. Ihr musikalisches Talent muss zweifelsohne beträchtlich gewesen sein, sonst wäre sie nicht als junge Frau als Studentin am Pariser Konservatorium (Harmonielehre, Kontrapunkt, Fuge und Komposition) aufgenommen worden.

Am Conservatoire de Paris waren Rueffs Lehrer unter anderem der Komponist und spätere Messiaen-Schüler Jean Gallon (1878–1959). Keines von Gallons eigenen Werken überdauerte die Zeit, dabei muss sein Einfluss auf diverse Organistinnen und Organisten, die in Frankreich sehr häufig auch Komponistinnen und Komponisten waren, beträchtlich gewesen sein. Jedenfalls widmete die komponierende Orgel-Legende Maurice Duruflé (1902–1986) seinem einstigen Lehrer Gallon noch zu Lebzeiten seine Hommage à Jean Gallon (1953), die im Netz als die möglicherweise »schönste Orgelmusik der Welt« angepriesen wird. Im Fach »Fuge« wurde Rueff von Jean Gallons jüngerem Bruder Noël Gallon (1891–1966) unterrichtet.

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Spielten die gelehrten »Nebenfächer« am institutionell zutiefst konservativen – dafür reihenweise progressive Komponistinnen und Komponisten hervorbringenden – Pariser Konservatorium durchweg noch eine wichtige Rolle, so dürfte Rueffs »Hauptfachlehrer« in Komposition – Henri Büsser (1872–1973) – von besonderer Bedeutung für ihre Entwicklung gewesen sein. Büsser, der am 30. Dezember 1973 kurz vor seinem 102. Geburtstag verstarb, stammte aus Toulouse und hatte in Paris bei César Franck, Charles-Marie Widor, Ernest Guiraud, Charles Gounod sowie Jules Massenet – und somit bei so gut wie allen bedeutenden Komponisten Frankreichs dieser Zeit – studiert. Hört man sich Büssers Allegro Appassionato für Viola und Klavier an, so ist man erst anlässlich der ganz offensichtlich ungebrochenen Beethoven-Rezeption in Frankreich überrascht, rollt das Stück doch im Klavier los wie der letzte Satz von Beethovens Klaviersonate cis-Moll op. 31 Nr. 2. (Setzt die Bratsche ein, so geht der Weg jedoch ohrenscheinlich woanders hin.)

Mit 26 Jahren gewann Rueff 1948 den zweiten Rom-Preis, einer damals immer noch bedeutenden Auszeichnung. 1945 war bereits ihr Klavierquintett mit einem anderen französischen Kompositionspreis ausgezeichnet worden. Den wohl mit Abstand größten Teil des Lebensunterhalts verdiente Jeanine Rueff allerdings zunächst mit ihrem Klavierspiel. In den 1950er Jahren war sie Angestellte am Conservatoire de Paris, genauer: Korrepetitorin der Instrumentalklasse des bekannten Saxophonisten Marcel Mule (1901–2001) sowie Klavierbegleiterin der Klarinetten-Studierenden von Ulysse Delécluse (1907–1995). Die Neigung zu Saxophon und Klarinette führte auch früh zur Komposition von Werken mit entsprechender Besetzung, in einer Zeit, in der das Saxophon immer noch als »Neuerung« Aufmerksamkeit auf sich zog. Eine Entwicklung, die im Bereich der »E-Musik« im Grunde noch bis zum Beginn der 1970er Jahre währte. In diesem Jahr (1970) nämlich komponierte Edisson Denissow (1929–1996) seine Sonate für Alt-Saxophon und Klavier, die vielen kritischen Einschätzungen zufolge lange als das einzig ernstzunehmende Saxophon-Stück der Avantgarde galt und bis heute als Pflichtstück bei Saxophon-Wettbewerben so gut wie nie ausgelassen wird.

Über Rueffs Affinität zum Saxophon hinaus finden wir wenig Material zu ihrer Biographie, was über allgemeine Daten und Einschätzungen hinausgeht. Offenbar war es jedoch am Conservatoire de Paris Usus, einer Frau, die beim Grand Prix de Rome einen der Preise erhalten hatte, eine Anstellung als Solfège-Lehrerin zu verschaffen. Zu diesen »Ehren« war jedenfalls schon Marguerite Canal (1890–1978) ab dem Jahr 1919 gekommen. Und so unterrichtete auch Jeanine Rueff dieses Fach, in dem die alte Lehre des Singens von Noten auf bestimmte Silben vermittelt wird. In Hennessees Women in Music wird Rueff als »French composer, opera composer, pianist, accompanist, music educator, writer on music« bezeichnet, in Dees‘ Piano Music by Women Composers als »pianist, lecturer, composer […], accompanist, solfège teacher«. 

Jeanine Rueff starb im September 1999 im Alter von 77 Jahren in Paris.


Jeanine Rueff (1922–1999)
Sonate für Saxophon solo, 1. Satz: Allegro (veröffentlicht 2002)

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Dees erwähnt immerhin noch, dass Rueff Werke für Orchester, Kammermusikbesetzungen (insbesondere unter Einbeziehung von Holzbläsern) sowie Ballette und Opern komponiert habe. Partituren lassen sich schwer beschaffen. Zwar weisen verschiedene Noten-Bezahl-Portale einige Werke von Rueff auf, sind aber fast immer komplett »unavailable«.

Die Sonate für Saxophon solo beginnt mit einem atonalen Motto, das zweigeteilt erscheint und sich bei der Wiederholung sogleich rhythmisch leicht variiert wiederfindet. Diese Komposition wirkt einerseits jazzig, andererseits deutlich der E-Musik-Avantgarde zugewandt. Anhand wiederkehrenden Tonmaterials nehmen wir eine Art motivisch-verbindlichen »Strom des Bewusstseins« wahr. Doch »zerfällt« das Ton-Material-Konstrukt von Jeanine Rueffs nicht einfach, gibt sich also nicht dem Konzept eines immer weiter aufspannenden Pausen-Netzwerks hin, wie man es aus zahlreichen Solo-Instrumentalwerken der Darmstädter Schule kennt. Zwar gibt es leichte – interessante – Zerdehnungen, doch setzt sich die angetriebene Bewegung bald immer wieder fort, bleibt virtuos, »am Ball«. Gekonnte Instrumentalmusik, der man sich – dann auch richtig gut gespielt – noch intensiver widmen möchte. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.