Heute, auf den Tag genau vor 43 Jahren – am 27. Januar 1978 – starb die französische Komponistin Marguerite Canal in Toulouse, wo sie am 29. Januar 1890 auf die Welt gekommen war; exakt zwanzig Tage nach der Geburt von Kurt Tucholsky (18901935), drüben im kalten, fernen Berlin.

Canals Mutter war Pianistin; und ihr Vater, der sie neben der Musik auch an die Dichtkunst heranführte, ein musikbegeisterter Ingenieur. So waren die Weichen für eine gute musikalische Ausbildung gestellt. Die Familie zog 1903 nach Paris und die 13-jährige Marguerite wurde Teil der Gesangs- und Klavierklasse des Konservatoriums. Zu diesem Zeitpunkt war der Komponist Théodore Dubois Direktor am Conservatoire de Paris, der aus der reichhaltigen französisch-katholischen Orgeltradition des Landes hervorgegangen war und selbst von 1877 bis 1896 als Titularorganist an der großen Pfarrkirche La Madeleine wirkte;  als Nachfolger von Camille Saint-Saëns (Wirkungszeit: 1858–1877) und als Vorgänger von Gabriel Fauré (Wirkungszeit an der La Madeleine: 1896–1905).

Am Konservatorium studierte Canal unter anderem bei dem Komponisten Paul Vidal (1863–1931), dessen (offenbar eher konservativere) Werke, von denen man kaum Einspielungen findet, heute so gut wie nirgendwo mehr gespielt werden. Canal wurde früh für ihre Leistungen in den Fächern Harmonielehre, Klavier und Kontrapunkt ausgezeichnet. Und 1919 konnte Canal beim begehrten Prix de Rome einen zweiten Preis gewinnen; den Hauptpreis erhielt Jacques Ibert (1890–1962) für seine Kantate Le Poète et la fée. 1920 sprach man dann Canal den ersten Preis für ihre Kantate Don Juan zu; damit war Marguerite Canal die zweite Frau, die – nach Lili Boulanger (1893–1918) im Jahre 1913 – den Hauptpreis gewann.

1917 kam Canal zu der Ehre, als erste Frau Frankreichs ein Orchester zu dirigieren; auch in diesem Studienfach hatte sich Canal also entscheidende Kompetenzen verschafft. 1919, nach ihrem Rompreis-Erfolg, erhielt Canal zudem eine Professur am Konservatorium, wo sie in den folgenden Jahren Solfège – also die althergebrachte Lehre des Singens von Noten auf bestimmte Silben zur Einübung von Partituren – unterrichtete. Der Erfolg beim Prix de Rome ermöglichte Canal offenbar, ihre Arbeiten von 1925 bis 1932 an der Villa Medici in Rom fortzusetzen. 1932 kehrte sie auf ihre Professorinnenstelle in Paris zurück, wo sie bis zu ihrer Pensionierung unterrichtete.

1939 erhielt Canal den Titel einer Ritterin der Ehrenlegion. Sie starb zwei Tage vor ihrem 88. Geburtstag am 27. Januar 1978 in Toulouse.

Marguerite Canal (1890–1978)Sonate für Violine und Klavier, 2. Satz: Sourd et haletant (1922)

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Canals Oper Tlass Atka – nach dem Roman Burning Daylight (Lockruf des Goldes) von Jack London blieb leider unvollendet. Neben ein paar programmatischen Stücken für Orchester komponierte Canal einige Kammermusikwerke, wenige Stücke für Klavier sowie vor allem Lieder auf Texte von Landsmännern wie Paul Verlaine und Charles Baudelaire. 1922 entstand Canals Sonate für Violine und Klavier. Hören wir in den zweiten Satz hinein.

Spannungsvoll springend und dennoch gleichsam französisch entspannt staccatiert das Klavier in subtil wechselnden und rhythmisch durchbrochenen Akkord-Repetitionen los. Mit kleinen Seufzern legt sich die schnell einsetzende Violine über den zappelnden Teppich; Fragezeichen scheinen agogisch formuliert zu werden (»Wo bist du?«). Melodielinien ziehen ein. Es kommt zum kommunikativen Austausch beider Instrumente; stets grundiert von den klopfenden Klavier-Akkorden.

Nach nicht einmal eineinhalb Minuten bricht es aus dieser ohnehin berührend menschlich inszenierten, nachvollziehbaren, bannenden Musik emotional heraus; als würde jemand von einem Gedanken überwältigt, dessen Wirkungsmacht komplett unterschätzt wurde. Doch das Individuum fordert selbst zur Selbstdisziplin auf – und kehrt, ein ziemlich lustiger Augenblick, wieder in den vorherigen, umtriebigen Alltag zurück. Als wäre nichts geschehen. Kleinere harmonische Verwegenheiten verweisen auf einen Einfluss der Musik von Claude Debussy, doch schwingt auch eine genussvolle Portion französisch-sonorer Spätromantik à la Fauré mit.

Äußerst lohnenswerte Musik, die eine viel prominentere Rolle in dem feinen französischen, spätromantisch-impressionistischen Repertoire für Violine und Klavier spielen sollte. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.