Unweit der Grenze zu Russland liegt die kasachische Stadt Aqtöbe. Hier wohnen heute fast eine halbe Millionen Menschen. In einem Dorf in der Nähe kam am 2. Dezember 1927 Gasisa Schubanowa zur Welt. Sie war, so liest man, eine hervorragende Schülerin und schloss die Schule mit Auszeichnung ab. Ihr Vater war professioneller Musiker, dessen Musikbegeisterung – insbesondere wohl im Bereich Folklore – auf die Tochter überging. Als Komponist legte Achmet Schubanow (1906–1968) eine symphonische Dichtung, zwei Opern, Werke für kasachische Volksinstrumente, eine Filmmusik sowie eine Reihe von – volltönigen, vollmundigen – Klavierwerken vor. Zu seinem 100. Geburtstag erschien 2006 eine Gedenk-Briefmarke. Diese Ehre wurde seiner Tochter – noch – nicht zuteil.

Mit 18 Jahren (1945) besuchte Gasisa Schubanowa das Gnessin-Institut in Moskau, die zweite Musikhochschule Moskaus (neben dem Konservatorium). Hier war ihr Kompositionslehrer Juri Schaporin (1887–1966), der – wie Schubanowas Vater – seine Liebe zur Volksmusik der Ukraine und Russlands offen auslebte (auch in seinen Werken). Bald engagierte sich Schubanowa im Kasachischen Komponistenverband; einem Zusammenschluss, der wie die anderen nationalen Kompositionsverbände – insbesondere der der »östlichen« Länder – großen politischen wie kompositionsauftragspolitischen Einfluss hatte. (Vor 1990 konnten beispielsweise Komponistinnen und Komponisten der DDR die Politik im Kleinen mit Sätzen wie »Wenn nicht wir vom Komponistenverband das in die Hand nehmen, dann geschieht es außerhalb des Verbandes!« immer wieder »erpressen«, zu gewissen Zugeständnissen verführen, wenn es beispielsweise um die Planung von Aufführungen »kritischer Werke« in der DDR ging.)

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Schubanowas eigene Verwurzelung in der Tradition »kasachischer Themen« drückt sich beispielsweise in ihrem symphonischen Poem Aksak Kulan (1953–1954) aus. Das Orchesterwerk (übersetzt: Lahmer Kulan) dreht sich – noch ganz sich in der Vertonung »nationaler Stoffe« des 19. Jahrhunderts wähnend – um den ältesten Sohn Dschingis Khans Dzhutschi. Einer kasachischen Legende nach jagte Dzhutschi wildene Kulaner (asiatische Esel). Doch ausgerechnet ein lahmender Kulaner griff Dzhutschi an; dieser flog von seinem Pferd, brach sich den Hals – und starb. Hernach hatten alle Menschen Angst, genau diese – wenig ruhmreiche – Wahrheit Dschingis Khan zu erzählen. Doch Dischings Khan spürte, dass etwas nicht stimmte und verbat seinem Volk, diese Geschichte auch nur zu erwähnen. (Leider gibt es keine Aufnahme von Aksak Kulan.)

Ab 1957 unterrichtete Schubanowa nun selbst – und zwar am Kasachischen Nationalkonservatorium. Von 1975 bis 1987 war sie dort Rektorin. Gasisa Schubanowa starb am 13. Dezember 1993 im Alter von 66 Jahren in Alma-Ata.


Gasisa Schubanowa (1927–1993)
Streichquartett No. 1 (1952)

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Wie ihr Vater komponierte Gasisa Schubanowa zwei Opern. Außerdem erschienen zwei Ballettmusiken, die besagte symphonische Dichtung, ein Violinkonzert, ein Oratorium sowie weitere Vokalwerke, Schauspiel- und Filmmusiken, Lieder und mehrere Kammermusikwerke auf dem Notenmarkt; darunter Streichquartette. Vor dem – mit Epic untertitelten – zweiten Quartett (1973) gab Schubanowa ihr erstes Streichquartett im Alter von 25 Jahren heraus.

Schon der Beginn fesselt beim Zuhören. Wir haben es mit einem Werk von 1952 zu tun. Die Minimal Music war im Grunde noch nicht »erfunden« (höchstens irgendwie – halb witzig, halb ernst gemeint – durch Bruckner und andere »vorgezeichnet«) – und doch umfangen uns die tackernden, tickenden, Zeit vergehen lassenden Begleit-Achtel von zweiter Geige und Bratsche immersiv; wie in einem frühen Minimal-Music-Werk der 1960er Jahre. Nicht?

Das nach ein paar Takten einsetzende Cello-Thema holt uns gewissermaßen in die Zeit zurück. Ein solches Thema gemahnt an die musikalische Romantik; und ist in der Minimal Music »undenkbar«. Interessant aber, wie Schubanowa jegliche gefühlige Wohlfühlromantik mittels rhythmischer Spielchen im Cello untergräbt. Bald übernimmt die zweite Geige die Melodie, derweil nun die anderen Instrumente im Dreierverbund die bewegte Achtelbegleitung fortführen. Man denkt stellenweise an die frei gehandhabte Tonalität von Schostakowitsch und Prokofjew. Tonale Verortung: ja, aber im Sinne eines freien Strebens in diverse Richtung; je nach Gusto des Komponierenden …

Angesichts gewisser Dunkelheiten bleibt die Achtelbegleitung nach ungefähr eineinhalb Minuten »weg« – und ist doch noch in Rudimenten vorhanden. Das Fortschreiten des Uhrzeigers: Er begleitet uns in allen Momenten des Lebens. Oder? ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.