In dieser Rubrik kommentieren wir in jeder Ausgabe eine Nachricht, die uns in der vergangenen Woche beschäftigt, betrübt oder erfreut hat.
Zum ersten Mal hörte ich als Erasmus-Student von Taruskin. Die Professorin hob seine außergewöhnliche, geradezu einschüchternde Leistung hervor, als einzelne Person eine sechsbändige Musikgeschichte verfasst zu haben (Oxford History of Western Music, 2005) – dies sei außer ihm eigentlich niemand sonst zuzutrauen gewesen. Davon abgesehen äußerte sie sich abschätzig über den Habitus und die selbstbezogene Argumentationsweise des Mannes, der wie kaum ein anderer das Fach Musikwissenschaft, zumal im angloamerikanischen Raum, polarisiert und politisiert hatte. Immerhin, im ›alten‹ Europa konnte es passieren, dass man zu Beginn des Jahrtausends noch nichts von Taruskin gehört hatte; so war es auch bei mir, nachdem ich doch bereits zwölf Semester an Musikhochschulen studiert hatte. Nun allerdings war mein Interesse geweckt. Wer war dieser Mensch, vor dessen Schaffen jene, die ihn erwähnten, selbst bei schärfster Ablehnung zumindest innerlich den Hut zogen, und dessen bloße Erwähnung in der Fachwelt Extremreaktionen von einer Bandbreite hervorrufen konnte, wie ich es dahin nur von seinem Namensvetter Wagner kannte?
Kurz darauf begann ich mich intensiv mit russischer Musik zu beschäftigen, ein Gebiet, auf dem es an Taruskin kein Vorbeikommen gibt. Seine Veröffentlichungen widmeten sich jedoch weniger dem Moskauer Umfeld des 19. und 20. Jahrhunderts, das mich interessierte, sondern vorrangig der zumeist als fortschrittlicher wahrgenommenen Sankt Petersburger Schule. Taruskins zentrale Publikationen zu russischer Musik sind Monographien über Mussorgskij (1993) und Strawinskij (1996), dessen Umgang mit slawischen Volksmelodien er demystifizierte, sowie die Essay-Bände Defining Russia Musically (1997), On Russian Music (2008) sowie Russian Music at Home and Abroad (2016).
Aus diesem beeindruckenden Spektrum von Personen- und Werkbetrachtungen blieb mir vor allem eine Stelle im Gedächtnis haften: »Nikolai Medtner, the poor man’s Rachmaninov«. Seriously?, dachte ich bei mir – eine der prägenden Größen der Musikforschung ist sich nicht zu schade für ein derart flapsiges, geringschätziges Bonmot? Ich war fast gekränkt und hatte mir mehr erhofft: mehr Diskurs, mehr Argumentation, mehr Kontextualisierung. Erst später begriff ich, dass genau solche Passagen charakteristisch für Taruskins Schreiben waren. Ein wesentliches Merkmal seines Stils war der polemische Tonfall, ein bevorzugtes Werkzeug die aphoristische Zuspitzung, die auch alliterierende catchy titles (»Of Mice and Mendelssohn«) einschloss und vor plakativen Ein-Wort-Sätzen nicht halt machte – diese konnten sogar lediglich aus einer Interjektion bestehen (»Thud.«) Als virtuoser Stilist setzte er sich bisweilen auch dem Vorwurf aus, eigene Ergebnisse zu reproduzieren: als »scholar [who] repeats himself […] loudly and unapologetically«, beschrieb ihn Kofi Agawu.
Ich stellte außerdem fest, dass Taruskin beileibe nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Journalist wirkte und in früheren Jahren zudem als aktiver Musiker in Erscheinung getreten war. Er war ein scholar und practitioner zugleich, der in allen seinen Tätigkeitsbereichen öffentlichkeitswirksam agierte – und dies im besten Sinne, denn er verstand es, einer marginalisierten, gesellschaftlich vermeintlich irrelevanten Disziplin neues Leben einzuhauchen. Die new musicology, eine Bewegung, in deren Zuge die nordamerikanische Musikforschung seit den 1980er Jahren zunehmend auf kulturwissenschaftliche Diskurse, post-colonial studies und queer theory Bezug nahm, hätte ohne seine Stimme anders ausgesehen. Immer wieder wies er auf die Willkür der traditionellen Musikgeschichtsschreibung hin, durch welche die großen Namen des ›klassischen Kanons‹ in fragwürdiger und elitärer Weise zu Säulenheiligen erhoben worden waren. Dass er dabei offenbar nicht anders konnte als anzuecken, immer wieder den advocatus diaboli gab, lag in seiner streitbaren Natur, die ihn ein ums andere Mal veranlasste, sich selbst förmlich als Prophet der Kontroversen und des Widerspruchs zu inszenieren. Insbesondere gab Taruskin sich kritisch gegenüber der Bewegung der historischen Aufführungspraxis, deren Einsichten und (in seinen Augen nur scheinbare) Authentizität er in Frage stellte und als rein geschmacksgeleitet bezeichnete – ohne dabei allerdings ihre Ergebnisse zu verdammen.
Für Taruskin war Musik niemals neutral, sondern als expressives und hermeneutisches Medium stets folgenbehaftet; ein Kunstwerk war nach seiner Auffassung kein bloßes Objekt, sondern ein sozialer und politischer Diskursgegenstand, der nützen oder schaden konnte. Bei aller Flexibilität der wissenschaftlichen und kunsttheoretischen Strömungen, die er in seine Forschung einbezog, blieb er in einem Punkt doch konservativ: Die Beschäftigung mit nicht-westlichen Musikkulturen oder Impulsen aus der Ethnomusikologie war seine Sache nicht, und Impulse aus der critical race theory blieben in der »world according to Taruskin«, so Susan McClary, im Wesentlichen ausgespart.
Taruskin war ein jack of all trades, ein Rastloser, jemand, dem das Notwendige nicht ausreichte. In New York in ein liberal-jüdisches Elternhaus mit russischen Wurzeln geboren, lehrte er ab 1975 an der Columbia University und ab 1986 als Professor an der University of California, Berkeley. Als Gambist, Chorleiter und Herausgeber von Noten lag ihm besonders die Musik der Renaissance am Herzen. Über Jahrzehnte schrieb er für die New York Times; dieser Tätigkeit entsprangen viele seiner Artikel, die später zu Forschungsbeiträgen verdichtet wurden und das Material für seine umfangreichen Sammelbände bildeten. Die sich in seinem Schaffen durchdringende, sich gegenseitig beeinflussende Verbindung von wissenschaftlicher und an ein Laienpublikum gerichteter Publizistik war es, die ihn als »the most important writer on classical music, either in academia or in journalism«, wie ihn Alex Ross bezeichnete, erscheinen ließen. Angesichts der jüngeren politischen Entwicklungen ist es umso mehr zu bedauern, dass er zu den aktuellen Debatten um die Bedeutung und den Umgang mit russischer Musik nicht mehr wird Stellung nehmen können.
Am 1. Juli 2022 ist Richard Taruskin einer Krebserkrankung erlegen. Seine scharfe Feder und sein bedingungsloses Eintreten für die gesellschaftliche Relevanz von Musik werden fehlen – mir selbst, vielen anderen, und vielleicht gerade auch denjenigen, die sich ihm nicht anschließen konnten. ¶