In Deutschland ist Galina Grigorjeva fast völlig unbekannt. Geboren wurde sie am 2. Dezember 1962 in Simferopol, der Hauptstadt der heutigen Autonomen Republik Krim. (Im April 1954 wurde die Stadt an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik angeschlossen – und von 1991 bis zur Annexion der Krim im Frühjahr 2014 gehörte Simferopol zur Ukraine. Seitdem ist die Stadt im Grunde ein Ort unter russischer Führung.)
Offenbar entschied sich Grigorjeva früh für eine Laufbahn als Komponistin. Zumindest suchte sie sich zunächst gezielt den ukrainischen Komponisten Oleksandr Krassotow (1936–2007) am Konservatorium von Odessa als Lehrer aus. Schon die ebenfalls in Simferopol geborene Sara Lewina (1906–1976) hatte dort, in der Metropole am Schwarzen Meer, Komposition studiert. Oleksandr Krassotow muss ein charismatischer Mensch und Lehrer gewesen sein. Er hatte zwischenzeitlich eine Kompositionsprofessur im chinesischen Tianjin inne – und komponierte gewissermaßen ästhetisch im (nicht uninspirierten) »Rahmen« der Klangsprache von Hindemith und Schostakowitsch – angereichert mit »Jazz-Elementen« (die bekanntlich wiederum von Hindemith und Schostakowitsch rege rezipiert worden waren).
Weiter ging es für Grigorjeva am Sankt Petersburger Konservatorium, wo sie nach einem Studium bei Juri Falik (1936–2009) – der nicht uninteressante Streichquartette vorlegte – im Zuge der Beendigung des Kalten Krieges 1991 ihr Studium abschloss. Zu guter Letzt sattelte Grigorjeva noch das Kompositionsstudium bei einem dritten Lehrer oben drauf: Von 1994 bis 1998 studierte sie – nach der Heirat mit einem aus Estland stammenden Mann – im estnischen Tallinn bei Lepo Sumera (1950–2000), der Minimal Music mit Pathos und thematisch-motivischer Arbeit verband und von 1988 bis 1992 Kulturminister Estlands war.
Bis heute lebt Galina Grigorjeva in Tallinn, Estland.
Galina Grigorjeva (* 1962)
Molitva für Violoncello und gemischten Chor (2016)
Grigorjeva schrieb bisher eine Kinderoper (uraufgeführt offenbar 2007 in Tallinn), mehrere Werke für Soloinstrument und Orchester, einige Kammermusikwerke sowie ein größeres Orchesterwerk (On Leaving, 1999), in dem sie sich Texten der russisch-orthodoxen Liturgie widmet. Hinzu kommen zahlreiche Solo-Stücke.
Der Titel Molitva (Gebet) taucht – leicht verwirrend – in Grigorjevas Werkkatalog gleich mehrmals auf. Eine recht komplexe Werkgenese! Im »Ursprung« war Grigorjevas Gebet 2005 ein etwa zehnminütiges Stück für Saxophon und Orgel. Daraus entstand 2009 eine Version für Saxophon und Orchester, 2011 eine Fassung für Violoncello und Orchester, im selben Jahr eine Version für Violoncello und Orgel, ebenfalls wohl 2011 eine Fassung für Cello und Klavier sowie eine Version für Violoncello und Streichquartett, 2012 eine Fassung für Saxophon und Streichquartett, 2013 eine nun textierte Fassung für Männerchor und Cello, 2016 eine Umarbeitung für gemischten Chor und Cello sowie 2017 eine Version für Flöte und Streichorchester – und eine weitere für sechs Celli. 2022 folgte dann noch eine Fassung für Theremin und Streichorchester. Getreu dem Motto: »Es kann nie genug Gebete geben!«
Dass eine populäre Komposition durch die Hinzugabe eines Chores im Nachhinein »sakrilegisiert« wird, ist dabei nichts Neues. Samuel Barbers Adagio for Strings (1938 komponiert, 2004 vom BBC-Publikum zum »traurigsten Musikstück der Welt« gewählt) wurde von Barber selbst 1957 mit dem lateinischen »Agnus-Dei«-Text (auf die doch einstmals rein instrumentalen Noten projiziert) für Chor herausgegeben.
Grigorjeva verwendet als »Textgrundlage« für die Chor-Umarbeitungen ihrer Moltiva allerdings »nur« Vokalisen, also Töne, auf denen schlichte Vokale gesungen werden können. In der Version für Violoncello und gemischten Chor (2016) hören wir zunächst einen Chor-Ton, auf dem sich sehr bald das Cello »zu Wort« meldet; und zwar markant, mahnend. Wie in so manchen Liturgien so mancher Religionen geht es zunächst um einen einzelnen Zentralton, der – insistierend, Gott beharrlich um Hilfe bittend – umkreist, eingekreist wird. Bald resultieren daraus instrumentale (gemäßigte) Schreie, die in den Kirchenraum hineingerufen werden; hier auf Basis einer freitonalen, sakral(er)baulichen Harmonik/Gestik, die wie von Pärt, Górecki und anderen kennen. Später blüht es auch im Chor auf; »die Gemeinde kommt hinzu«, denkt man sich vielleicht. Und diese »hineinkomponierte Gemeindeäußerung« einer ukrainischen Komponistin, könnte aktuell für ganz konkrete Wünsche und Hoffnungen stehen … ¶