Doreen Carwithen kam am 15. November 1922 in Haddenham (Buckinghamshire) zur Welt. Haddenham: Das klingt schon nach Land, Landwirtschaft und Wiesen. Und tatsächlich sieht Haddenham – zwischen London und Birmingham gelegen – auch so aus: grasende Schafe, sanft gluckernde Bäche, watschelnde Enten. Ein englisches Land-Klischee, aber nicht unwahr.
Die Mutter von Doreen Carwithen arbeitete als Musiklehrerin. Und kaum ein Sprössling einer Musiklehrerin entkommt zumindest einem versuchsweise anberaumten Instrumentalunterricht. Und so geschah’s, auch im Falle der jungen Doreen Mary. Das Mädchen erlernte das Spiel an Violine und Klavier und studierte bereits mit 16 Jahren Harmonielehre an der Royal Academy of Music in London – und damit ein Fach, das kompositorische Aspekte fast immer miteinschließt. Ebenfalls an der Royal Academy studierte zu dieser Zeit der fast genau 17 Jahre ältere, aus Northampton stammende William Alwyn (1905–1985). Carwithen und Alwyn heirateten und blieben bis zum Tode Alwyns am 11. September 1985 ein (offenbar glückliches) Ehepaar.
1946 erhielt Carwithen die Möglichkeit, ins Filmmusikbusiness einzusteigen. Fast genau zehn Jahre zuvor war es dem 1935 gerade einmal 22-jährigen Benjamin Britten in London genauso ergangen. Er ergatterte damals einen Job als Filmkomponist bei der Produktionsfirma GPO Film Unit. (Eine hervorragende Experimentierplattform für den jungen Komponisten und Pianisten. Britten musste damals Begleitmusik für Dokumentar- und Werbefilme schreiben, also Musik, deren Länge sich auf wenige Sekunden und höchstens einmal ein paar Minuten belief. Und Teile des von ihm mit Musik bestückten Streifens Men Of The Alps fanden sogar in seinen Soirées musicales op. 9 Verwendung.) Carwithen blieb dem Filmgeschäft ein wenig länger treu und lieferte, ebenfalls nach ersten Kurz- und Dokumentarfilmmusiken, ihre erste Musik für einen abendfüllenden Film im Jahre 1949. In Boys in Brown (Regie: Montgomery Tully) spielte der damals 26-jährige Richard Attenborough einen Jungen, der nach einem Raubüberfall festgenommen und in eine Jugendbesserungsanstalt gebracht wird.
Weitere Arbeiten für den Film kamen dazu, darunter auch für Three Cases of Murder (1955), mit Orson Welles in der Hauptrolle. Nebenbei schuf Carwithen Werke für den normalen Konzertbetrieb, so etwa 1948 die Ouvertüre ODTAA. Der Auftrag für ODTAA kam von Sir Adrian Boult (1889–1983) höchstpersönlich, dem einflussreichsten britischen Dirigenten der damaligen Zeit. Der Titel setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der Erzählung One Damn Thing After Another von Literaturmystiker John Masefield (1878–1967) zusammen. Das Stück wurde, wie anlässlich der ohnehin interessanten Entstehungsgeschichte des Werkes beschrieben wird, zu einem Publikums- und Presseerfolg. Und es ist schon fast tragisch, dass die geplante Aufführung dieses Werkes aus der Feder von Carwithen bei der »Last Night of the Proms 2022« ausfiel; wie überhaupt das ganze für den 11. September 2022 anberaumte (schöne) Programm, das auch ein Werk von Grażyna Bacewicz vorsah. Schließlich war Queen Elizabeth II. am 8. September 2022 verstorben …
Doreen Carwithen konnte an die Anfangserfolge ihrer kompositorischen Erfolge nach den 1940er und 1950er Jahren eher nicht anknüpfen. Das war nicht ihre Schuld; England war schlichtweg zu konservativ, um eine komponierende Frau inmitten ihres Konzertlebens wirklich nachhaltig und langfristig zu »dulden«. So konzentrierte sich Carwithen – wie einige Komponistinnen in den jeweiligen »zweiten Hälften« ihres Lebens – auf die Verwaltung der Musik ihres komponierenden Ehemannes, dessen Archiv sie beispielsweise pflegte. Zumindest arbeitete sie aber noch als Dozentin an der Royal Academy of Music in London – und starb am 5. Februar 2003 mit 80 Jahren in einem kleinen Ort in der Grafschaft Norfolk.
Doreen Carwithen (1922–2003)
Konzert für Klavier und Streicher (1948)
Neben ihren über 30 Filmmusiken schrieb Carwithen ein paar Orchesterwerke, bis heute fast völlig unentdeckt gebliebene Streichquartette und 1948 unter anderem ein Klavierkonzert. Die 26-jährige Komponistin lässt das Klavier gleich markant eingreifen. Das poltert knackig, hohe Streicher nehmen die Staccato-Motivik auf – und schon mischt sich das Klavier wieder herein. Die tonale (aber durchaus leicht angeschrägte) Harmonik ist ausladend, reichhaltig und erinnert an Rachmaninow und Gershwin. In der veritablen »Eingewobenheit« des Klaviersatzes in das umgebende Orchestergeflecht macht das Stück zunächst den Eindruck einer Klavier-Orchester-Symphonie, so verzahnt sind Tutti und Solo. Man ergänzt sich, fährt sich kleinteilig in die Parade. Memorierbar ist eher der zackige Drive, weniger eine bestimmte Melodie oder ein melodisches Versatzstück. Nach gut zwei Minuten ist das Klavier für einige Momente aber tatsächlich alleine beschäftigt. Der attackierende Gestus bleibt. Erst nach dieser ersten Minikadenz des Klaviers säuseln die Geigen etwas sanfter; gewissermaßen konsterniert von den doch harten, nicht unkomplexen Einlassungen des Solo-Instruments. Insgesamt absolut lohnenswerte Musik! ¶