Wer Wagneropern zäh finde, der habe noch nicht Fatih Akins Biopic über den Rapper Xatar gesehen, behauptete ein Bekannter. Aber dem kann ich (das gleich mal vorweg) nicht zustimmen: Der Film Rheingold ist eine cineastisch recht zufriedenstellende Angelegenheit. Nur aus wagnerinteressierter Perspektive scheint nicht viel herauszuholen – zumindest auf den ersten Blick. Doch zufällig befinde ich mich gerade als Bonner auf Zeit dicht an den Zentralorten der gegensätzlichen Mythen Nibelungen und Xatar, nämlich dem guten alten Rhein und der Schmalspur-Gangstahood Brüser Berg, dem Stadtviertel, in dem Xatar aufwuchs. Und so konnten meine Rheingold-Gedanken beim Besuch von Fatih Akins Erfolgsstreifen weiter und größer ausfließen als nur in öde buchhalterische Motivabgleichung.

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Wie Akin das kurvenreiche Leben des kurdischstämmigen Deutschrappers (inklusive viereinhalb abgesessener Knastjahre) verfilmt hat, folgt Xatars vermutlich nicht ganz stilisierungsfreier Selbsterzählung, erschienen im Riva-Verlag, der ansonsten jede Menge Koch- und Fitnessbücher verlegt. Allein in dieser entschlossenen Lebenslauf-Inszenierung könnte man ja bereits eine gewisse Parallele zum alten Erzaufschneider Richard W. sehen, der als einst steckbrieflich gesuchter Revolutionsgangster seinen eigenen Marketingmythos schmiedete und fette Karriere machte.


Rheingold in Kinopolis

Wie dem auch sei, es hat jedenfalls seinen Reiz, sich Rheingold ausgerechnet in der Kinopolis anzuschauen, einer monströsen Trutzburg aus Beton und Parkhaus gleich am Bahnhof von Bad Godesberg. Dieser Bonner Vorort stellt heutzutage eine recht eigenwillige Mischung dar, einerseits Richtung Rhein alteingesessenes Villenviertel, andererseits im Zentrum fest in arabisch-türkischer und sonstiger nahöstlicher Hand. Im Kinosaal scheine ich nicht nur der einzige Zuschauer ohne äußerlich erkennbaren »Migrationshintergrund« zu sein, sondern auch der einzige über dreißig. Weit über dreißig, Wotan sei’s geklagt, altersmäßig könnten alle anderen Zuschauerinnen und Zuschauer hier meine Kinder sein. Doch keiner scheint mir zu misstrauen, niemand schaut mich schief an. Nicht einmal, als ich – echte Bildungskartoffel, die ich nun mal bin – als einziger beim Abspann sitzenbleibe bis zum Schluss.

Vermutlich bin ich aber eben auch der einzige im Saal, der Xatars Song Mama war der Mann im Haus mit der Rappervita im Schnelldurchlauf und einem sehr memorablen, biographisch grundierten Loop noch nicht kannte. Dafür könnte ich allerdings ebenso der einzige hier sein, der Wagners Rheingold schon zur Gänze gehört hat, erst recht live im Opernhaus. Als nämlich im Film zum ersten Mal die Oper Bonn zu sehen ist, die wie die Gibichungenhalle direkt am Rhein liegt und in Xatars Leben eine gewisse Rolle spielte, flüstert mein Sitznachbar seinen Freunden zu: »Alter, da war ich noch nie drin.« Mit Mühe verkneife ich mir den unerbetenen Boomersplain, der junge Mann möge sich doch – so wie ich mich heldisch hierher! – ruhig einmal hineinwagen.

Währenddessen knirscht es um mich herum im Dunkeln. Das ist aber nicht Nibelheims Erdgebälk oder der Zahn der Zeit, sondern jede Menge Popcorn, das im Multiplex bekanntlich in ebensolchen erschreckenden Kübeln ausgegeben wird wie die literweisen Softdrinks, dabei ähnlich überteuert wie das Schlückchen Prosecco in der Oper. Gegen dieses Popcornknirschen und das Nachos-Matschen sind Konzerthusten und Bonbonpapierrascheln allemal harmlos; dafür aber, auch das muss endlich einmal gesagt werden, sitzt man im Multiplex erheblich bequemer als in jedem Opernhaus.

 Der junge Xatar erhält Klavierunterricht • Foto © © 2022 bombero international / Warner Bros. Ent. / Gordon Timpen

Auch wenn das Rheingoldvorspiel im Film zwei oder dreimal angespielt wird, ist dieser Bezug (neben der banalen Glitzerkram-Assoziation, deren Hiphop-Plausibilität ja auf der Hand liegt) nicht wagnerisch gedacht, sondern steht als Chiffre für Oper schlechthin. Und die ist ihrerseits eine Chiffre, nämlich eine gesellschaftliche. Eine soziologische Dimension, die übrigens in der aktuellen, schmählich oberflächlichen Ausstellung Die Oper ist tot! – Es lebe die Oper in der Bonner Bundeskunsthalle komplett ignoriert wird. Im Film hingegen betritt Giware Hajabi, wie der Mensch hinter »Xatar« eigentlich heißt, mehrfach die Bonner Oper: als Kind in Begleitung seines  Vaters auf der Galerie und später sogar mit privilegiertem Blick hinter die Bühne, als erwachsener Mann dann nur mehr, während drinnen die Musik spielt, draußen an der Garderobe. Dort arbeitet nämlich seine alte Liebe Shirin, die jetzt Medizinstudentin ist und von ihm, der zum drogenhandelnden Outlaw wurde, verständlicherweise nichts mehr wissen will. Vorerst zumindest. Übrigens dürfte es ja vielen Menschen in Deutschland ähnlich gehen wie diesem Giware: Als Schüler wird man vom Musik- und Deutschlehrer in Oper und Theater geführt, darf vielleicht sogar einen Blick hinter die Kulissen werfen; als Erwachsener aber geht man niemals wieder hinein.


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Filmische Schwächen und Stärken

Neben der gelegentlich etwas holperigen Dramaturgie (die immerhin ihren inneren Grund und auch eine gewisse Rechtfertigung findet in dem holperigen Lebensweg, der da nachgezeichnet wird) kann man in der psychologischen Zeichnung der Figuren eine Schwäche des Films sehen. Das gilt besonders für die weiblichen Hauptfiguren, ebenjene Shirin sowie die Mutter des Protagonisten. Emotional intensive, konfrontierende Szenen zwischen Liebendem und Geliebter oder zwischen Sohn und Mutter fehlen hier schmerzlich. Natürlich bemüht der Film sich um einen respektvollen Blick auf Frauen. Aber die Dimension dessen, was diesen Frauen von Männern zugemutet wird, bleibt doch unterbeleuchtet und unterkomplex. Es handelt sich ja um Frauen in einer Männerwelt von durchaus ähnlicher toxischer Maskulinität wie die Welt der Götter, Riesen und Zwerge im Ring des Nibelungen. Und was die Darstellung solcher Verwerfungen, emotionaler Brüche und auch weiblicher Gegenwehr angeht: War da nicht erstaunlicherweise der alte Tunichtgut Wagner, etwa mit der Figur der Fricka, um einiges weiter?

Aber auch die filmischen Stärken von Fatih Akin zeigen sich, ohne dass man gleich den übergroßen Maßstab von Scorsese oder Coppola anlegen müsste. Schon im beeindruckenden Eröffnungsbild offenbart sich, was Akin und sein Kameramann Rainer Klausmann können: Da steht eine Schafherde in der syrischen Weite, die von einem einfahrenden Militärlaster im Bild quasi verflüssigt und verschoben wird. Deutlich wird immer wieder auch der Schrecken, in den hinein die Hauptfigur im Jahr 1981 geboren wurde. Der aufkochende Mullahterror im Iran, wo Giwares kurdische Eltern als Musiker gemischt klassischen und traditionell persischen Stils lebten. Die Flucht inmitten des Ersten Golfkrieges, inklusive eines Gefängnisaufenthaltes im Irak, der zu den ersten Erinnerungen des Jungen gehört, wie er als Erwachsener am Ende des Films seiner Tochter erzählt. Der Schrecken kehrt wieder im syrischen Gefängnis 2010, das schon vor Beginn des Bürgerkriegs eine Folterhölle ist, in die der flüchtige Kriminelle nach einem aus dem Ruder gelaufenen Goldraub idiotischerweise flüchtete, um der deutschen Justiz zu entkommen. Ebenso versteht Akin gekonnt die Register der Komik zu ziehen, etwa in den schieflaufenden Drogengeschäften seines Protagonisten. Der gerät mit seinen Freunden schließlich durch einen läppischen Auffahrunfall und durchgeweichte Kartons, aus denen die Koksflaschen klirrend auf den nassen Bürgersteig fallen, mächtig-gewaltig in die Bredouille, aus der diese Meisterräuberbande sich nur mit einem großen Plan befreien zu können glaubt: einem haarsträubenden Zahngold-Coup in Pforzheim.

Zu den größten filmischen Stärken gehört für mich auch die ausgiebige Zeit, die Akin sich etwa für die ersten zornig-hilflosen Boxversuche des Teenagers Giware nimmt. Und ebenso die rührend stotterigen Versuche des jungen Mannes, sein erratisches Leben in Worte zu bringen, ins Sprechen – in Kunst. Deren Kraft als geformter Selbstausdruck, als Sinngebung, als lebenserhaltende Maßnahme für Geist und Gefühl wird später deutlich, wenn Giware-Xatar und seine Freunde in ihren Gefängniszellen heimlich und der Akustik wegen in Wolldecken gehüllt ihr erstes Album aufnehmen. Und ihre Zellengenossen mithören und getröstet sind.

Allein die Wagner- und Rheingold-Ebene will nicht recht ins Tragen kommen. Vielleicht ist das auch ganz gut so, der Meister aller Meister soll ja nicht den Baba aller Babas (Xatar) überschatten. Am Anfang hat der kleine Giware in einer Opernprobe einige Takte Rheingold gehört, und am triumphalen Ende kann der Film es sich in einer bizarren Volte nicht verkneifen, auf Höhe des Drachenfels in den Rhein hinabzutauchen und dort unten nasse Felsen und Nixen und einen großen Goldfelsen zu filmen. Im Godesberger Multiplex macht sich bei dieser inszenatorischen Rheinschnapsidee lauthals befremdete Heiterkeit breit, das Lachen übertönt das Popcornknirschen, und man könnte glatt glauben, man wäre in eine dieser berüchtigten »MET im Kino«-Übertragungen aus New York geraten. Böse Otto-Schenk-Vibes! Nur ein paar Sekunden. Aber eine Einladung zur gefälligen Wagnerregie zumindest an der Berliner Staatsoper Unter den Linden (wo ja schon Wim Wenders und Terry Gilliam randurften) sollte für Fatih Akin jetzt auf jeden Fall drin sein. Hoffentlich schlägt er sie aus.

Foto © © 2022 bombero international / Warner Bros. Ent. / Gordon Timpen

Keetenheuve und Xatar, nach unten und nach oben

Immerhin plätschern meine Gedanken nach dem konsequent durchsessenen Abspann noch eine Weile den verschiedensten Versuchen nach, die Chiffre „Rheingold“ semantisch fruchtbar zu machen. Denn seien wir ehrlich, der Begriff Rheingold ist ja ein metaphorisches Allzweckmittel, ein blingpling-glitzriges literarisches Universalmöbel, das sich nach Belieben überallhin rücken lässt. Weinhäuser und Lounge-Bars hießen und heißen so, Sektkellereien und Breweries, eine Apfelsorte und ein Brettspiel, Romane und Dokumentarfilme, Schwimmbagger und Züge. Bei Letzterem kommt mir schließlich eine „Rheingold“-Referenz in den Sinn, über die die Literaturgeschichte mittlerweile ziemlich hinweggegangen ist und die doch hier in Bonn auch ganz nah liegt: Wolfgang Koeppens Roman Das Treibhaus von 1953, eine erbarmungslose Betrachtung des als moralisch schwülfeucht gelesenen Politklimas in den ersten Jahren der Bundeshauptstadt. Zu Romanbeginn fährt der desillusionierte sozialdemokratische Abgeordnete Keetenheuve im Nibelungenexpress zum Dienst nach Bonn, und der Gesang der Rheintöchter verwandelt sich unterwegs ins eiserne Rattern der Bahn: Wagalaweia, rollten die Räder. So geht es seitenlang immer wieder. Wagalaweia, heulte die Lokomotive. Beim Lesen verschmilzt das Rheingoldvorspiel in meinem Kopf mit dem dritten Satz von Tschaikowskys Pathétique, dieser rasenden Eisenbahnfahrt in Wahnsinn und Verzweiflung. Nach der Ankunft am Hauptbahnhof Bonn dauert es noch zweihundert Seiten, bis Keetenheuve unausweichlich in den Tod im Rhein springt. Nach unten.

Fatih Akins Rheingold setzt inhaltlich diesem Fatalismus und auch den Aporien von Wagners Ring scheinbar einen anderen Standpunkt diametral entgegen: „Man muss sein Leben selbst schreiben“, redet der Vater seinem Sohn, der mit dreißig im Knast gelandet ist, ins Gewissen. Danach drehen die Dinge sich, und mit dem eigentlichen Karrierebeginn endet der Film: Aus dem verirrten Giware wird Xatar, ein Siegfried, der sich selbst erschaffen hat und überlebt. Auf dem steinigen Weg nach oben gibt’s keine Abkürzung, wird er rappen. Im Grunde ist das eine seltsame Mischung aus per-aspera-ad-astra-Schicksalssinfonie und Karrieremotivationssprech. Der steinige Weg führt dabei auch nicht in erster Linie in Versöhnung oder inneren Frieden, sondern – ja, eben nach oben, symbolisiert durch schicke Villa samt Pool und Mercedes-G-Klasse-Kastenpanzer, mit dem das Einzelkind per Elterntaxi von der Schule abgeholt wird. Diese Äußerlichkeit hat auch etwas Bedrückendes. Und so scheint mir am Ende, dass Koeppens bemitleidenswerter Keetenheuve und Akins durchaus sympathischer Xatar heimlich verwandte Botschafter Deutschlands sind, zwei auf je eigene Weise durchaus traurige Gesichter, die durch Listen der Kunst, eher willkürlich als zwingend, mit Wagners stets flüchtigem Rheingold-Mythos verbunden sind. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com