Wie beginnen viele Klavierlehrerinnen und Klavierlehrer ihren Unterricht für ein fünf, sechs oder sieben Jahre altes Kind? Meistens geht es erst einmal um die Ton-Namen. Und es gilt, in ersten kleinen Aufgaben, beispielsweise alle »e«-Töne auf der Klaviatur auszumachen. Das ist ein lustiges, auch schon haptisches Spiel für das Kind; über die ganze Tastatur kreucht und fleucht es – stetig »e« suchend – dahin. Als nächster Schritt (also: nach Kenntnis aller Ton-Namen) steht bald oft das erste Spiel nah zusammenstehender Töne an. Es wird technisch: Dieser Finger für jene Note, jener Finger für diese. Dann kommen die schwarzen Tasten dazu. Übungen und kleine Stückchen werden immer komplexer. Es geht um »c«, »e« und »g« – als Einzelnoten. Um das selbständige Feststellen von C-Dur geht es viel zu selten. Mit dem Erlernen des Spiels am Klavier wird in Deutschland fast nie auch – was eigentlich naheliegt und das ganze (musikalische) Leben einfacher, kreativer, konstruktiver macht – Harmonielehre mit vermittelt. Dabei besteht 95 Prozent der später gespielten Literatur aus Dur-Moll-Musik. Und allein das Auswendiglernen im Zeichen des Zuordnens von Harmonieschritten geht viel schneller und eleganter voran. Man weiß, wohin man will – und kann dieses »wohin« überdies noch benennen.

Silke Wenzel erzählt in ihrem Artikel über die am 17. April 1811 in London geborene Ann Mounsey eindrücklich, wie der gerühmte (aus Braunschweig stammende) Komponist und Geiger Louis Spohr (1784–1859) das Londoner Klavierlehrinstitut von Johann Bernhard Logier (1777–1846) besuchte. Logier ließ junge Menschen das Klavier immer im Verbund mit Harmonielehre erlernen. Und Spohr – London 1820 eine Reise abstattend – zeigte sich angenehm überrascht über die Sinnhaftigkeit dieser Lehrmethode und suchte mittels einer musiktheoretischen Übungsaufgabe nach dem oder der Besten des damaligen Musikschuljahrgangs. Die gerade einmal neunjährige Ann Mounsey überragte sogar wesentlich ältere Schülerinnen und Schüler und fiel somit schon früh positiv auf. Nicht nur bei Spohr.

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Mounsey (ihr Vater war Lebensmittelhändler und Amateurgeiger) arbeitete später ganze 55 Jahre lang als Kirchenmusikerin in London, wie Wenzel ebenfalls berichtet. Schon mit 17 Jahren wurde sie auf ihre Londoner Organistinnenstelle berufen. Mit 26 Jahren erhielt sie dann gewissermaßen »die Stelle ihres Lebens«: Fast 50 Jahre wirkte Mounsey als Organistin an der 1308 erbauten Londoner Kirche Saint Vedast Foster Lane (zwischen dem heutigen Barbican Centre und dem Borough Market gelegen). Neben ihrer Tätigkeit als Kirchenmusikerin unterrichtete Mounsey Klavier, Orgel und Harmonielehrer, wurde 1834 Mitglied der Londoner Philharmonic Society, genau wie 1839 in  der Royal Society of Musicians. In den 1840er Jahren organisierte und leitete Ann Mounsey eine Konzertreihe in London und setzte immer wieder auch eigene Werke aufs Programm. Außerdem dirigierte sie wohl auch selbst.

Im April 1853 heiratete Mounsey den Schriftsteller und Geiger William Bartholomew (1793–1867), der unter anderem das Libretto von Felix Mendelssohns Oratorium Elias ins Englisch übersetzt hatte. Mounsey Bartholomew komponierte selbst viele geistliche Werke, ein Oratorium, Kantaten, geistliche Oden und Lieder. Aber auch ganz weltliche Tänze. Als praktizierende und komponierende Künstlerin wurde sie von Presse und Öffentlichkeit fast immer gelobt, konnte sich über mangelnde Rezeption ihres Wirkens also nicht beklagen. Vor allem widmete sich Mounsey immer wieder komponierend dem Klavier, ihrem – neben der Orgel – ureigenen Instrument. Ann Mounsey Bartholomew starb, nach Jahren des Ruhestands, am 24. Juni 1891 in London. Sie wurde 80 Jahre alt.


Ann Mounsey (1811–1891)
Der Erlkönig (ca. 1838)

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Circa 1838, also ungefähr mit 27 Jahren, vertonte Ann Mounsey jenen Goethe-Text, mit dessen Version von 1815 Franz Schubert einen legendären (damaligen!) Misserfolg beim (offenbar etwas arroganten) Schöpfer des Textes erleben musste. Doch der Erlkönig wurde auch von vielen anderen vertont. Relativ »bekannt« – trotzdem natürlich unter der späteren Schubertschen Rezeptionsprominenz »leidend« – ist beispielsweise die Erlkönig-Variante von Carl Loewe (1824). Erst jüngst hat man schließlich auch die souveräne und schön grollige Vertonung von Emilie Mayer (1870) mit einer Aufnahme gewürdigt.

Rund zehn Jahre nach Schuberts Tod – nach Loewe, vor Mayer – nahm sich auch Ann Mounsey des tödlich-kränklichen Kindertotenliedsreiterpoems Goethes an. Wie bei Emilie Mayer grollt es auch in Mounseys Partitur mächtig/nächtlich im Klavier. Bei Mounsey bleibt der Reiter jedoch weniger »auf der Stelle« stehen. Akkorde der rechten Hand wühlen sich durch das windige Walddickicht. Ein überraschend langes Klaviervorspiel. Aufregend! Auch die Gestaltung der Gesangsstimme gelingt furios gleißend gut. Wie ein dramatischer Abgang in einer Klaviersonate Beethovens fallen als Intermezzo Passagen von oben herab. Markante Basstöne fahren dazwischen. Klagend kreist uns die Gesangsstimme bisweilen engschrittig ein – und guckt und fragt uns direkt ins Gesicht: »Na, spürst du, wie nass, wie kalt, wie existenziell gefährlich es auf diesem Pferderücken zugeht?« In dem »Verführungspart« schließlich gondeln süßlichste Glocken im Klavier umher. Eine souveräne, einfallsreiche, spannende Vertonung des Erlkönigs! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.