Am 10. Juli 1843 wurde die Eisenbahnstrecke von Wolfenbüttel bis nach Oschersleben in Betrieb genommen. So fand man Anschluss an die Zugstrecke von Magdeburg nach Halberstadt. Langsam schloss sich die west-östliche Eisenbahn-Achse und schon ab dem 15. Oktober 1847 konnte man durchgehend von Berlin nach Köln reisen. Bis heute scheint die Deutsche Bahn manches Mal von den damaligen Verhältnissen inspiriert, schließlich brauchte man für die rund 600 Kilometer von Berlin nach Köln mit der Eisenbahn 1847 etwa 18 Stunden.

In diesem für die deutsche Eisenbahngeschichte wichtigen Jahr erblickte Agnes Zimmermann das Licht der Welt. Von ihrer Mutter ist nur der Name (Gertrud, geb. Kleinenbroich) und das Geburtsjahr (1823) überliefert. Der Vater der am 5. Juli 1847 in Köln geborenen Agnes war Johann Zimmermann, der als Tiefenbahnangestellter arbeitete (siehe den Artikel von Claudia Schweitzer) und die (dreiköpfig bleibende) Familie 1852 oder 1853 bewegte, Köln in Richtung London zu verlassen. In den Jahren 1857 bis 1864 studierte Zimmermann die Fächer Klavier bei Cipriani Potter (1792–1871) und Ernst Pauer (1826–1905) sowie Komposition bei den Traditionalisten Charles Steggall (1826–1905) und George Macfarren (1813–1887).

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Bereits als 16-Jährige trat Agnes Zimmermann als Solistin des fünften Beethovenschen Klavierkonzerts öffentlich auf und wurde zu einer begehrten Pianistin in London. Ihr Repertoire beinhaltete – neben den Kompositionen Beethovens – Werke von Felix Mendelssohn, Franz Liszt und anderen prominenten Hochromantikern. Nebenbei ließ sich die als »werktreu« geltende Interpretin neue Werke von englischen Komponisten schreiben und bearbeitete mit Vorliebe barocke Kompositionen für ihr eigenes Instrument. Bald reiste Zimmermann auch für Recitals in andere Metropolen Englands und Schottlands sowie nach Belgien. Besonders erwähnenswert sind ihre Freundschaften zum Geiger, Komponisten und Dirigenten Joseph Joachim (1831–1907) und zur allumfassenden Clara Schumann. Mit Schumann bildete Zimmermann sogar ein Klavierduo: Gemeinsam trat man auf und spielte wahrscheinlich unter anderem Robert Schumanns Werk Andante und Variationen op. 46. Auch als Teil anderer Kammermusikformationen war Zimmermann bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielfach zu hören. Ihre eigenen – gerne barockisierenden – Kompositionen erfreuten sich ebenso besonderer Beliebtheit. Zudem betätigte sich Zimmermann nebenher noch als Herausgeberin.

Merkwürdig, wie einerseits der Bereich des Privaten im Leben Agnes Zimmermanns als (angeblich eher »unerforschte«) Nebensache (Schweitzer: »Wenn auch wenig über das Privatleben Zimmermanns an die Öffentlichkeit drang …«) und andererseits wohl brennend interessierende Hauptsache diskutiert wird. In Sophie Fullers und Lloyd Whitesells Queer Episodes in Music and Modern Identity (Urbana-Champaign 2008) erfahren wir, dass Zimmermann eine Beziehung zu der britischen Feministin Louisa Goldsmid (1819–1908) unterhielt: »Die leidenschaftlichen Freundschaften zwischen vielen Frauen im 18. und 19. Jahrhundert sind hervorragend dokumentiert, und die Debatte darüber, inwieweit diese Freundschaften erotisch konnotiert waren, geht in viele verschiedene Richtungen. Möglicherweise haben die Freundinnen und Agnes und Louisa ihre Zuneigung körperlich nur durch freundschaftliche Umarmungen und Küsschen ausgedrückt und die Möglichkeit, sich wirklich als frauenliebende (im Gegensatz eben zu Frauen männerliebenden) Frauen zu definieren, als undenkbar beiseitegeschoben.« Ebenso denkbar sei jedoch, dass sich die beiden auch erotisch offen zueinander bekannten, ihr diesbezügliches Zusammenleben aber vor der sehr konservativen Öffentlichkeit Englands verheimlichten.

Agnes Zimmermann verstarb im Alter von 78 Jahren am 14. November 1925 in London.


Agnes Zimmermann (1847–1925)
Sonate für Violine und Klavier Nr. 3 g-Moll op. 23 (1879)

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Zimmermann komponierte Kammermusikwerke, Klavier-Solo-Stücke und Lieder. Ihre 1873 veröffentlichte Suite für Violine, Violoncello und Klavier op. 19 trägt – ganz im Sinne der Barockbegeisterung der Komponistin – fast durchgehend barocke Satztitel. Doch leider gibt es von Zimmermanns Klaviertrio-Suite bisher nur eine nicht ganz sendefähige (und durch eine nicht ganz glückliche Umbesetzung etwas entstellte) sowie eine von (guten) Sample-Instrumenten gespielte Aufnahme. Gott sei Dank haben Mathilde Milwidsky (Violine) und Sam Haywood (Klavier) 2020 eine starke Einspielung der Violinsonaten Zimmermanns auf den Markt gebracht.

Sehr verhalten, nachdenklich versunken schickt das Klavier ein paar Klänge der Violine voraus. Die Violine agiert weitaus leidenschaftlicher. Hier die eine – nicht so enthusiasmierte – Partnerin; hier der andere Part, entfesselt und glühend. Dem Klavier fällt nach einer Minute doch noch ein, wie stark die Gefühle in ihm wallen. Es entsteht eine hochromantische Kammermusik voller Emotionen, die aber – wie in den zeitgleich komponierten Werken von Brahms – intellektuell gebündelt erscheinen; mittels imitatorischer Einlassungen und harmonisch-motivischer Fragerunden in Sachen »Wohin?«. Eine tolle Ergänzung des spätromantischen Geigenrepertoires! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.