Musik ist voller Geheimnisse, fraglos. Schon manche Abkürzungen, wie sie beispielsweise in (Proben-)Diskussionen unter Musikschaffenden völlig alltäglich sind, dünken Nicht-Musiker:innen manches Mal wie Hieroglyphen. Natürlich kann man für sich die Bedeutung von »cresc.«, »rit.« oder »con sord.« einfach jeweils via Suchmaschine aufklären, doch: Nerd-Talk bleibt Nerd-Talk – und damit eher nicht »niedrigschwellig«. In dem Falle einer Komponistin, die »um 1715« gelebt haben muss, erscheint unsere hier oft so oder ähnlich niedergeschriebene »Über diese Tonschöpferin ist kaum etwas bekannt!«-Entschuldigung in noch undurchdringlicherem Lichte: Für diese Frau hat man sich auch so etwas wie eine »Abkürzung« ausgedacht. Die Musikwelt nennt sie »Mrs Philarmonica«.

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Die Existenz der offenbar verheirateten und (weil im Londoner Verlag Richard Meares zwölf viersätzige Sonaten für zwei Oberstimmen mit einer Basso-continuo-Begleitung gedruckt wurden) gesellschaftlich angesehenen Komponistin ist dabei nicht zu leugnen. Es hat diese Frau gegeben! Geheimnis– aber auch ehrenvoll nannte man sie eben »Mrs Philarmonia«. Das klang wahrscheinlich einfach schön, verlieh der »anonymen« Künstlerin überdies ein vornehmes/vermarktbares »Gesicht« und verwies gleichzeitig auf eine musikalisch profunde Bildung, die – das »Philharmonische«, also die (von altgriechischer Universalbildung gespeiste) Liebe zum Klang/zur Musik/zur Musiktheorie im Namen/Herzen tragend – durch die Qualität der zwölf Triosonaten einfach vorausgesetzt werden kann.

Mehr weiß man bis zum heutigen Tag tatsächlich nicht! Sicher kann man spekulierend annehmen, dass sie aus England stammte; der Herkunftsort des genannten Verlags ist schließlich London. Warum sie nicht mit echtem Namen »auftrat«: Auch hier könnte man diverse Mutmaßungen anstellen. Doch hören wir einfach in die Musik hinein.


Mrs Philarmonica (ca. 1715)
12 Triosonaten für zwei Violinen und Basso continuo. Sonate No. 2, 4. Satz: Presto (1715)

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Der Abschlusssatz der zweiten Sonate stellt ein schönes, memorierbares, fast tanzbares Motto vor. Im kontrapunktischen Einklang mit den anderen trumpft die oberste Stimme wunderbar frohgemut auf. Moll-Schleifen nehmen uns mit auf die weiche, achtsame Seite des Gefühlsspektrums. (Das anfängliche Motto hatte sich schnell einer Variation hingegeben; es wird nicht langweilig!) Wir sind gleichsam auch Zeuginnen und Zeugen eines flinken Gesprächs, in dem in dichtester Folge »Meinungen« und »Gegenmeinungen« formulieren werden. Die fröhliche Seite kommt immer zuerst, dann der »Einwand«, alles vielleicht dann doch nicht so kindlich und leichtherzig zu betrachten. Doch schließlich obsiegt die (Lebens-)Lust. Was für eine tolle Musik! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.