Václav Luks wurde 1970 fünfzig Kilometer nordwestlich von Prag – in Mittelböhmen – geboren. Früh erhielt er Klavierunterricht, später kamen Unterweisungen im Hornspiel dazu. 1990 gründete der zwanzigjährige Luks das Barockensemble Collegium 1704, das er bis heute leitet. Als Hornist spielt Luks häufig mit der Akademie für Alte Musik Berlin zusammen, Mitte Januar dirigierte er die Kammerakademie Potsdam. Am Vormittag des abendlichen Konzerts mit Werken von Mozart, Schubert und Voříšek traf ich ihn in einem Café neben dem Nikolaisaal zum Gespräch.
VAN: Ich kann mich noch gut an die Situation erinnern, als meine Mutter mich, als ich sechs Jahre alt war, fragte, ob ich Klavierspielen lernen möchte. Gab es diesen einen Moment auch in Ihrem Leben?
Václav Luks: Der Wunsch oder die Möglichkeit, das Klavierspiel zu erlernen, waren sehr früh da. Aber nicht als Priorität, eher: ›Du kannst das machen – musst es aber nicht.‹ Es war nicht diese eine, einzige, unbedingte Passion. Aber es gab schon einen besonderen Moment, an den ich mich erinnere: Ich war in der vierten Klasse und wir schauten uns eine Fernsehsendung für Schüler*innen an, die einmal in der Woche vormittags ausgestrahlt wurde. Die war normalerweise todlangweilig. Dieses Mal war das Thema aber ›Musik‹ und es wurde Mozarts Kleine Nachtmusik gespielt. Das hat mich begeistert. [Lacht.]
Sie sind Hornist Und stammen aus Böhmen. Warum kommen so viele erfolgreiche Hornist*innen von dort?
Das hat ganz praktische Ursachen. Es lohnt sich, Carl Burney’s der Musik Doctors Tagebuch seiner Musikalischen Reisen aus dem Jahr 1772 zu lesen. Burney reiste durch Böhmen und war von der Musikalität der Menschen dort beeindruckt – auch von der musikalischen Erziehung! Das Land an sich begeisterte ihn hingegen gar nicht; es sei arm und habe keinen Wald! Nach den ganzen Kriegen waren viele Bäume zu Brennholz verarbeitet worden. Schon damals reizte die jungen Leute hier die Möglichkeit, im Ausland eine attraktive Stelle in einem Orchester zu bekommen, um eine bessere Zukunft zu haben. Es ist ein bisschen so wie mit dem Fußball im heutigen Brasilien. Viele Jungs in den Slums träumen von einer großen Karriere bei einem europäischen Topverein. Und damals in Böhmen hatte man die Hoffnung, durch Fleiß und Talent aus den bescheidenen Verhältnissen auszubrechen.

Ist das nicht aber immer auch ein Ausverkauf der entsprechenden Länder und Regionen?
Ja. Aber man muss das so sehen: Das Königreich Böhmen war ein Teil der österreichischen Monarchie. Und bei uns gab es einfach keine wichtigen Musikzentren, in denen man als begabter musischer Mensch lange blieb, schließlich konnte man ja nach Wien gehen. Es gab, um in der Fußballsprache zu bleiben, keine internationalen Spitzenvereine bei uns. Man wollte zu Paris Saint-Germain – beziehungsweise in die Hofkapelle Dresden, dann später zur Kapelle unter Friedrich II. hier in Potsdam, in eines der vielen Opernorchester in Italien oder zur königlichen Kapelle am französischen Hof. Bei uns gab es dafür kleine Kapellen von ganz hoher Qualität, zum Beispiel die des Grafen von Morzin auf Schloss Dolní Lukavice bei Pilsen. Von der schwärmte sogar Vivaldi! Seine Vier Jahreszeiten widmete Vivaldi Graf Wenzel von Morzin – und möglicherweise wurde das berühmteste Werk des Barock dort in Böhmen sogar uraufgeführt! Um aber zum Horn zurückzukommen: In manch anderen Ländern war das Horn tatsächlich als Jagdhorn Gebrauchsinstrument für eher nicht so musikalische Zwecke, für die Jagd eben. In Böhmen wurde das Horn dagegen schnell zu einem wirklich konzertierenden Instrument. Da hatte man einen Vorsprung; vom Ende des 17. Jahrhunderts bis hin zu den komponierenden Hornvirtuosen Anfang des 19. Jahrhunderts, zum Beispiel Jan Václav Stich, der dann italianisiert Giovanni Punto genannt wurde…
Wie kam es denn zu Ihrer ganz persönlichen Liebe zum Horn? Klavier spielten Sie schon…
Bei uns gab es einen Musikwettbewerb für Kinder und Jugendliche in Prag. Bei einem Abschlusskonzert im Saal der Tschechischen Philharmonie – ich war ungefähr zehn Jahre alt – hörte ich ein wunderschönes Hornkonzert von einem Jungen, der nur knapp älter war als ich. Das wollte ich auch können.
Aber der Zugang zum Horn wird einem jungen Menschen, der bereits auf dem ansprachetechnisch unproblematischen Klavier Zuhause ist, durch die Schwierigkeiten dieses Instruments nicht gerade leicht gemacht, oder?
Ja, aber ich hatte eine ganz tolle Horn-Lehrerin! Sie hat mir auch immer so wunderbar vorgespielt und mir gezeigt, wie schön das Instrument klingen kann. Frust habe ich kaum erlebt.
In der Akademie für Alte Musik Berlin spielen Sie immer wieder Naturhorn. Das ist noch einmal riskanter als Ventilhorn. man braucht Nerven. Wie gehen Sie mit Risiko um?
›Es kommt – oder es kommt nicht.‹ Wenn man diese ruhige Haltung entwickelt, dann klappt meistens alles. Ich habe als Hornist früh eine Stelle im Orchester des Nationaltheaters in Prag bekommen. Das war schon Stress. Als das Horn für mich irgendwann nicht mehr Hauptinstrument war, entlastete mich das. Ich bin jetzt nicht mehr vom Horn abhängig – das beruhigt.
Gustav Mahler war ebenfalls Böhme. Hören Sie als historisch informierter Mensch Mahler? – und was ist das ›Böhmische‹ bei ihm?
Natürlich ist jeder Komponist irgendwie beeinflusst durch seine Herkunft. Tschechische Musikforscher haben früher immer versucht, irgendwo ›volkstümliche Elemente‹ zu finden. Es kann sein, dass bei Mahler ab und zu etwas auftaucht, was er als Kind gehört hat. Aber er hat sich bestimmt nie gesagt: ›Ich bringe jetzt böhmische Volksmusik in meiner Symphonie!‹ Das war damals schon alles so hochstilisiert. Mahler ist für mich ein typisches Kunstprodukt der K.-u.-k.-Monarchie: in Böhmen geboren, jüdische Wurzeln – und ein Europäer im besten Sinne. Das ist ja auch das Spannende an der Zeit damals: nationale Identitäten, die Mischungen… In Prag gab es jüdische, deutsche und tschechische Kultur. Alles zur gleichen Zeit. Unglaublich interessante Kulturinseln entstanden. Vor einigen Tagen wurde bei uns in Prag die Staatsoper wiedereröffnet, die als ›Neues deutsches Theater‹ Ende des 19. Jahrhunderts gegründet wurde.
Könnten Sie sich vorstellen, Mahler auf alten Instrumenten oder denen aus seiner Zeit zu spielen?
Das wäre interessant! Ich liebe Mahler. Ich würde mich aber erstmal sehr intensiv damit beschäftigen und es nicht machen, weil es noch niemand anderes gemacht hat, im Sinne von: ›Ich möchte dieses Spielzeug haben!‹ Das sind Projekte, die sehr viel Geld kosten.
Zu entdecken gäbe es bei Mahler noch Einiges. Er ist so unglaublich präzise in der Notation. So differenziert. Heute werden Instrumente ja so hergestellt, dass sie in allen Lagen gleich gut klingen. Das war zu Mahlers Zeit noch anders – und er wusste ganz genau, was wann wo wie klingt. Das wäre ein großes Thema. Selten nehmen sich Orchester heute die Zeit, diese ganzen Farben wirklich entsprechend abzustufen.
Mit welcher Mahler-Symphonie würden Sie anfangen?
Mit der Achten.
Wow, okay…
Ja. Dieses Gigantische, Bombastische auch im Vokalen müsste man mal aufklaren. Ein modernes Symphonieorchester ist häufig einfach sehr laut. Dadurch müssen die Sänger*innen vorne brüllen. Und dadurch gehen viele Möglichkeiten verloren.
Ihre Kolleg*innen vom Concerto Köln machen ja jetzt Wagners Ring auf historischem Instrumentarium. VIelleicht genau aus diesem Grund…
Das wird wunderbar funktionieren. Vor allem, wenn das dann in Konzertsälen erklingt. Denn für den gewünschten Klang hat sich Wagner ja sein eigenes Opernhaus mit überdachtem Orchestergraben in Bayreuth bauen lassen. Doch nicht nur die Akustik des jeweiligen Raumes, sondern vor allem die Instrumente haben einen unglaublichen Einfluss auf die Klangfarbe.
Sind Sie denn grundsätzlich als Dirigent eher ein ›LIveKonzerttyp‹ Oder machen sie lieber Studioaufnahmen?
Die Atmosphäre eines Konzerts ist unersetzlich, die Energie der Livesituation liebe ich am meisten. 2011 haben wir das erste Mal Händels Messiah in Frankreich aufgeführt. Davon gibt es einen Live-Mitschnitt auf YouTube, der fast viereinhalb Millionen Views hat. Auf der ganzen Welt haben sich das Menschen angeschaut. Neulich habe ich in den Kommentaren gelesen, wie jemand schrieb: ›Ich schaue mir das gerade an. Wer noch?‹ Leute aus Asien, Amerika, Europa haben sich daraufhin sofort gemeldet. Dieses Konzert war nicht perfekt, aber die Intensität war großartig. Und jetzt schauen sich das Leute an, die sonst nichts mit klassischer Musik zu tun haben – und schreiben als YouTube-Kommentar: ›Ich habe eine Stunde lang geweint!‹
Wie kam es eigentlich damals zu der Gründung vom Ensemble 1704? Gab es ein prominentes Gründungskonzert mit grossem empfang oder Ähnlichem?
Nein. Das war ganz anders. Damals – in der Punkperiode! [Lacht.] Das fing an unter Mitstudent*innen am Konservatorium in Pilsen. Wir haben davon geträumt, dass wir vielleicht irgendwann einmal Bachs Johannes-Passion aufführen würden. Man kann sich das überhaupt nicht mehr vorstellen, wie schwierig das alles vor der Wende war. In der DDR wurde das barocke Repertoire natürlich immer gepflegt. Bei uns in Tschechien gar nicht! Man kam auch an die Noten nicht gut heran. Also war da am Anfang nur der Idealismus. Wir haben mit Freund*innen zusammen eine Kammermusikgruppe gegründet, nur für uns. Wir haben sehr viel geprobt. Dann haben wir ein Konzert organisiert, das Cembalo geschleppt, das Plakat selbst gemalt … Bald darauf bin ich zum weiteren Studieren nach Basel gezogen. Also war ich nicht mehr in Prag und in Pilsen vor Ort. Aber ab und zu haben wir uns trotzdem getroffen, um Musik zu machen. Das war eine Pionierzeit. Wir haben mit modernen Instrumenten angefangen und versucht, den Klang der alten Instrumente zu imitieren. In Basel ließ mich die Idee der Aufführung der Johannes-Passion nicht los. Und dann habe ich 2005 mein eigenes Ensemble gegründet. In Tschechien wurden diese großen barocken Werke sehr lange Zeit sehr selten gespielt. Und wenn, dann nicht nachhaltig, sondern nur ein einziges Mal in Prag oder so. Unser letztes Konzert dieses Projekts war am 31. März 2005, also an Bachs 320. Geburtstag. In dem Jahr haben wir auch das Vokalensemble 1704 gegründet. Unsere Aufführung der h-Moll-Messe war damals die erste Aufführung auf historischen Instrumenten in Tschechien überhaupt.

Wie akquirieren Sie als Organisator eigentlich das Geld für Ihre Musiker*innen? Man hört ja immer mal wieder von Lohndumping in freien Orchestern…
Es ist eigentlich ganz einfach. Ich möchte nicht mit Musiker*innen zusammenarbeiten, die vielleicht mit weniger Honorar zu bekommen sind, die aber nicht so gut sind. Und noch weniger mit Leuten, die teuer und trotzdem faul sind. [Lacht.] Ich habe lange genug im Kommunismus gelebt. Heute kann ich selber bestimmen, mit wem ich Musik mache.
Gerade um Silvester herum kommen ja immer prominent angekündigte tschechische Orchester nach Berlin, um Beethovens Neunte oder andere Hits in der Philharmonie zu spielen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die fair bezahlt werden…
Das sind Orchester, die eigentlich gar nicht wirklich existieren. Das ist wirklich eine Krankheit. Die führen Worte wie ›Prag‹ oder ›Tschechisch‹ und ›Symphonieorchester‹ oder ›Philharmoniker‹ im Namen, haben aber beispielsweise nichts mit der Tschechischen Philharmonie zu tun. Die Leute verwechseln das dann, wenn sie Karten kaufen und glauben, ein ganz bedeutendes tschechisches Orchester zu hören. Das sind die schlechten Seiten des Geschäfts…
Wenn Ihnen jetzt jemand anbieten würde, Ihr freies Collegium 1704 zu einem staatlichen Orchester zu machen, wie würden Sie reagieren? Natürlich müssten Sie auch Konzertzyklen in Prag spielen und so weiter…
Das machen wir sowieso! Ich würde auf jeden Fall nicht ›Nein‹ sagen. Mir ist es einfach sehr wichtig, im eigenen Land präsent zu sein. Wir haben einen eigenen Konzertzyklus im Rudolfinum in Prag, 20 Prozent unserer Gesamtkosten werden durch staatliche Subventionen abgedeckt. Den Rest bezahlen wir selber. In Dresden haben wir auch eine Konzertreihe, die wir komplett selbst finanzieren – auch ein bisschen aus dem tschechischen Geld. Wir machen viel mehr als es die offiziellen Strukturen eigentlich erlauben würden. Ich würde aber kein Dienst-Orchester haben wollen, das dann Verträge hat und quasi verbeamtet ist. Das würde ich nie machen. Natürlich haben wir Verträge mit den Musiker*innen, aber niemand ist verpflichtet zu irgendetwas. Das beruht auf gegenseitigem Vertrauen. Und das möchte ich behalten. Ich möchte nicht ›Dienst haben‹. ¶