Vor kurzem wurde bekannt, dass die Zukunft des ehemaligen »Studio für elektronische Musik« in Köln weiter ungewiss ist: Nach fünf Jahren sind die Verhandlungen zwischen einem anonymen Mäzen in Mödrath und dem WDR gescheitert. Das legendäre Studio bleibt bis auf weiteres in einem Keller eingelagert. Ein elektronisches Trauerspiel in zwei Akten.

Eine Stradivari. Eine Stradivari, die ungespielt in einer Vitrine lagert. Das ist der Vergleich, der immer wieder bemüht wird, wenn man mit Beteiligten über die aktuelle Situation des ehemaligen »Studio für elektronische Musik des WDR« spricht. Wobei der etwas umständliche Name schon Teil des Problems sein mag: Außenstehenden leuchtet es nur bedingt ein, was denn nun das Einzigartige an diesem Studio sein soll. Und überhaupt: Die klotzigen Kästen auf den alten Fotos sollen mit einer eleganten Violine vergleichbar sein?

Ein wenig überrascht wirkte denn auch die deutsche Presse, als 2017 der kalifornische Konzern Google auf seiner Startseite ein quietschbuntes Doodle mit Lautsprechern, Synthesizern und elektronischen Haustieren abbildete und damit den 66. Geburtstag des elektronischen Studios in Köln feierte oder, wie es im Begleittext hieß, »die Vielfalt des Denkens und die Fantasie, die den Grundpfeiler dieses Studios bildeten und neue Möglichkeiten erschlossen, wie und was Musik sein kann.« Will man die Bedeutung des Studios veranschaulichen, ließe sich an dieser Stelle auf das Kultbuch des US-amerikanischen Autors Thomas Pynchon, Die Versteigerung von No. 49 von 1966, verweisen. Darin trifft sich in einem Club bei Los Angeles die hippe Jugend der West Coast, um dem »Radio Köln-Sound« zu lauschen und eine »Sinuswellen-Session« abzuziehen. Kein anderer Ort der Neuen Musik hat es geschafft, zu einem derartigen Mythos des popkulturellen Gedächtnisses zu werden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Kölner Studio für sich beanspruchen kann, »die Mutter aller Studios« zu sein. Gegründet im damaligen NWDR im Jahr 1951 und damit in einer Phase, die bei allen restaurativ-biederen Zügen auch vom Wunsch einer jüngeren Generation nach einem radikalen Neuanfang beflügelt wurde. Nie wieder in seiner Geschichte sollte dem Rundfunk eine vergleichbare gesellschaftliche Rolle zukommen: Mit dem Hintergedanken, durch die Werke, die hier entstehen würden, das eigene Programm aufzuwerten, wurden die modernsten Maschinen angeschafft und Komponisten eingeladen, daran zu arbeiten. Und die wähnten sich am Ziel ihrer Träume: Elektronische Musik, das war damals wirklich das Neueste von Neuem, nie gehörte Klänge, oft als »Sternenmusik« bezeichnet. Denn: Die Zukunft begann hier, im Tiefkeller des WDR.

Karlheinz Stockhausen, 1975 • Foto © Werner Scholz / Archiv der Stockhausen-Stiftung für Musik
Karlheinz Stockhausen, 1975 • Foto © Werner Scholz / Archiv der Stockhausen-Stiftung für Musik

Zwar blieb es zunächst beim bloßen Versprechen – die ersten elektronischen Stücke klangen dann doch in ihren Möglichkeiten enttäuschend limitiert; aber bald war in jeder größeren Stadt, die als Innovationsstandort etwas auf sich hielt, ein elektronisches Studio zu finden, so zum Beispiel in New York (frühe 1950er), Mailand (1955), München (1956) oder Warschau (1957). Warum dann ausgerechnet Köln zum Mythos wurde, lässt sich an einem einzigen Namen festmachen: Karlheinz Stockhausen. Bis heute gilt Stockhausen als Synonym für elektronische Musik. Nahezu von Anfang an, seit 1953, realisierte er im WDR-Studio seine wichtigsten elektronischen Werke. Es waren sein Gesang der Jünglinge (1956) und seine Kontakte (1960), die zeigten, dass Apparate mit so obskuren Namen wie Schwebungs-Summer, Tiefton-Generator oder Terzfilter in den richtigen Händen die Tür zu neuen musikalischen Welten öffneten. Die Folge: Komponisten aus aller Welt wie György Ligeti oder Mauricio Kagel pilgerten nach Köln, um dort Stücke zu schreiben. Stockhausens fast zweistündige Hymnen von 1967 wiederum wurden mit ihrer utopischen Message und der Mischung aus elektronischen und konkreten Klängen zu einem der Kultstücke der Hippies. Die Beatles planten ein gemeinsames Konzert und setzten ihn auf das Cover ihres Albums Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, das die Idee vom Studio als zusätzliches Musikinstrument in einen Pop-Kontext überführte; Irmin Schmidt und Holger Czukay nahmen Unterricht bei Stockhausen und spannen mit CAN, eine der international einflussreichsten deutschen Bands, seine Ideen zur Tonbandmusik weiter; im nahen Düsseldorf schließlich stieß mit Stockhausen-Fan Karl Bartos 1975 ein klassisch ausgebildeter Musiker zu Kraftwerk, der entscheidend den elektronischen Sound der Band prägte.

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Noch zahlreiche weitere unterirdische Verbindungen ließen sich aufzeigen, bis hin zum Besuch Björks 1998 im Kölner elektronischen Studio bei – wie er mittlerweile hieß – »Papa Techno«. Da gehörte zwar im Ausland »Maschinen-Musik« schon lange zum deutschen Image wie Brezeln, Bier oder Beethoven; aber vielen erschienen in Zeiten, in denen man begann, mit immer weiter perfektionierter Software am PC die eigenen Sounds und Beats zu basteln, die Kosten für ein elektronisches Studio von der Größe eines Kontrollraums in einem Atomkraftwerk nicht mehr gerechtfertigt. Zudem hatte sich die Medienlandschaft und damit der Aufgabenbereich des Rundfunks in Deutschland grundlegend geändert. Die neuen Leitmedien, das waren das Fernsehen und wenig später das Internet. In der Gesellschaft galt das Radio ohnehin schon lange nicht mehr als Ort der Innovationen und Beförderer künstlerischer Karrieren, der es früher mal gewesen war. So wurde 2001 das Kölner Studio geschlossen, eine Teilverschrottung und die Verstreuung des Apparat-Ensembles auf unterschiedliche Musikhochschulen im Land konnte auch durch den Druck bekannter Komponisten, die einst dort gearbeitet hatten, gerade noch verhindert werden. Schließlich wurde das Equipment in vom WDR eigens angemietete Kellerräume nach Köln-Ossendorf ausgelagert. Vorläufig. Wie man dachte.

Karlheinz Stockhausen, 1977 • Foto © Werner Scholz / Archiv der Stockhausen-Stiftung für Musik
Karlheinz Stockhausen, 1977 • Foto © Werner Scholz / Archiv der Stockhausen-Stiftung für Musik

Damit endete der erste Akt dieses Dramas, ein Drama voller junger Himmelsstürmer, die irgendwann feststellen mussten, dass die Zukunft ebenso alt geworden war wie sie; ein Drama voller oft seltsamer, aber manchmal umwerfend faszinierender Kompositionen, bei denen außer Frage steht, dass sie die Musikgeschichte revolutionierten. Ein Drama, bei dem der zweite Akt eigentlich vorhersehbar zu sein schien: um einen Ort von dieser Ikonizität würden sich doch sicher viele Institutionen reißen. Zumindest würde er früher oder später Teil einer wie auch immer gearteten Forschungseinrichtung oder eines Museums werden, so wie das Münchener Studio im Deutschen Museum und das Mailänder Studio di fonolgia musicale im Castello Sforzesco. Die Maßnahmen, die nun getroffen wurden, sprachen für diese These: Fachleute aus der Musikwissenschaft sichteten und archivierten die Produktionsmaterialien, die alten analogen Tonbänder der wegweisenden Kompositionen, einer der größten Schätze des Studios, wurden digitalisiert und unter Berücksichtigung ihres fragilen Zustands wohltemperiert eingelagert. Unter der Federführung des Leiters des Kulturradios WDR 3, Karl Karst, startete der Sendeplatz »WDR 3 Open Sounds«, der neben neuen Entwicklungen der avancierten Klangkunst auch vorbildlich die Geschichte des elektronischen Studios aufarbeitete und das Bewusstsein daran wachhielt.

Doch dann begann sich das Drama zur Tragödie und schließlich zur Farce zu wandeln, Ähnlichkeiten mit »Warten auf Godot« nicht ausgeschlossen. Bereits Ende 2001 gab es spruchreife Pläne, das Studio solle wieder funktionsfähig gemacht werden und ins Kölner Museum für Angewandte Kunst wandern, was durch die direkte Nähe zum WDR-Funkhaus wie eine gute Idee klang – und im Sand verlief. Der Förderverein, so hieß es, habe Sorge, die lauten Schwingungen gefährdeten die Porzellansammlung. Ebenso scheiterte einige Jahre später die Überführung an andere Orte in Köln, in das Kunsthaus Rhenania etwa oder in den Media Park. Das Studio hätte dort zwar nicht mehr zentral gelegen, sich aber in unmittelbarer Nähe zu anderen kulturellen Institutionen befunden, allen voran dem Ensemble Musikfabrik. Aufgrund einer drohenden Haushaltssperre wollte sich die Stadt Köln jedoch nicht an langfristige Mietkosten binden.

Toningenieur Volker Müller, einer der ehemaligen Mitarbeiter des Studios, präsentiert, erläutert und beantwortet die Fragen der Besucher in der Lagerhalle Köln-Ossendorf • Foto © WDR/Thomas Brill
Toningenieur Volker Müller, einer der ehemaligen Mitarbeiter des Studios, präsentiert, erläutert und beantwortet die Fragen der Besucher in der Lagerhalle Köln-Ossendorf • Foto © WDR/Thomas Brill

Dennoch blieb es möglich, nach ein bisschen Nachfragen und Telefonieren das Studio zu besuchen. Volker Müller, seit 1971 Techniker im Studio und damit Fachmann und Zeitzeuge in Personalunion, führte regelmäßig Interessierte zu dem tristen Lagergebäude im noch tristeren Außenbezirk der Stadt, wo sich dann eine regelrechte Wunderkammer öffnete. Mit ansteckender Begeisterung demonstrierte Müller an den Bandmaschinen und Generatoren, mit welchen aufwendigen und heute, in Zeiten der Soundlibrarys, nicht mehr vorstellbaren Verfahren einst Klänge hergestellt wurden, die ein nie wieder erreichtes Farbenspektrum besaßen. Den Höhepunkt stellte dann eine Vorführung mehrkanaliger elektronischer Stücke von Band dar. Unter diesen nahezu idealen Umständen begriff auch derjenige, der sonst nichts mit den komplizierten Kompositionen anfangen konnte, was für eine Sensation es selbst in Zeiten von Dolby Surround bedeutet, wenn Musik aus allen Richtungen und durch den Raum zu wandern scheint – ein Erlebnis, das keine Wiedergabe auf CD zu Hause und manchmal nicht einmal ein Konzertbesuch ersetzt, dessen Qualität ganz vom jeweiligen eigentlich auf klassische Orchesterwerke ausgerichteten Saal abhängt.

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So vergingen die Jahre. Stockhausen starb, ebenso György Ligeti und Pierre Boulez, und mit ihnen jene Komponistengeneration, die einst die Neue und elektronische Musik prägte, das Kölner Stadtarchiv stürzte ein, man schüttelte den Kopf, und das Studio des WDR lagerte weiter in Ossendorf, ohne Aussicht darauf, aus dieser besonderen Form des elektronischen Dornröschenschlafes erlöst zu werden. Und Volker Müller, längst pensioniert, hielt weiter die Apparate am Laufen und in Führungen das Gedächtnis an dieses Kapitel der Musikgeschichte lebendig. 2015 dann auf einmal eine Wende, die viele überraschte und schon fast esoterische Züge trug: Auf der Suche nach einem Raum für Wechselausstellungen hatte ein anonymer Mäzen das »Haus Mödrath« bei Kerpen erworben. Was er erst danach erfuhr: In dem auch »Burg Mödrath« genannten Gebäude aus den 1830ern, das einst als Wöchnerinnenheim diente, wurde 1928 Stockhausen geboren. Als der private Investor dann auch noch von der prekären Situation des elektronischen Studios hörte, unterbreitete er dem WDR ein großzügiges Angebot. Wenn der Sender den Transport, den Wiederaufbau und einen Teil der für den Umbau nötigen Baukosten in Mödrath übernehme, würde das Studio unentgeltlich und zeitlich unbefristet in einem Nebengebäude seine neue Heimat finden. Dort solle es nicht nur ausgestellt und weiter erforscht, sondern auch wieder in Betrieb genommen werden. Gedacht sei außerdem an Seminare sowie an Artists in Residence und Forschende, die in Ateliers auf dem großflächigen Gelände wohnen konnten. 2017, zum Zeitpunkt des Google Doodles, schien der Umzug beschlossene Sache. Einziger Wermutstropfen: Das Studio würde sich über 30 Kilometer entfernt von seinem ursprünglichen Ort befinden, noch dazu kaum mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar und damit eigentlich der Idee eines Museums für ein breites Publikum widersprechend.

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Doch am 10. Januar dieses Jahres stellte sich nun – wiederum für alle überraschend – heraus, dass auch dieser Plan gescheitert ist. Unter der Überschrift »›Studio für elektronische Musik‹ ohne Zukunft« hieß es auf der Homepage von Haus Mödrath, der WDR habe nach fünf Jahren die letzte Annahmefrist kommentarlos verstreichen lassen. Der Sender sehe sich nicht in der Lage, das Studio zu betreiben, selbst wenn es mehrere Partner gebe und es »den WDR keinen einzigen Cent kosten würde«. Beim Telefonat klingt der anonyme Mäzen dann genauso verbittert wie sein Posting. »Es fehlt schlicht an Bereitschaft«, lautet sein Fazit. Lange habe man mit unterschiedlichen Institutionen verhandelt, unter anderem mit den Musikhochschulen des Landes, dem Amt für Denkmalpflege und der Stadt Köln, um eine Trägerstruktur zu schaffen, die die Wartung und den Betrieb des Studios übernimmt. Denn »ein totes Maschinenmuseum« hinter Glas wie in Mailand, das wolle niemand bei Apparaten, die immer noch einzigartige Klänge hervorbringen könnten und gerade heute, in Zeiten des Retro, von Spezialisten begehrte Unikate seien, siehe das Beispiel mit der Stradivari. Von Anfang an hoffte man, dass sich durch den Zusammenschluss von Institutionen und weiteren Investoren eine Lösung für die jährlichen laufenden Kosten von 200.000 bis 300.000 Euro finden lassen würde, die der anonyme Mäzen nicht übernehmen konnte und wollte. Nun, nach dem Scheitern aller Verhandlungen, sieht er vor allem den WDR in der Pflicht, für den das alte Studio in seinen Augen nur mehr ein Klotz am Bein sei. Auf schriftliche Anfrage widerspricht der Sender jedoch dieser Darstellung deutlich: »Der WDR hat dem Haus Mödrath keine Absage erteilt. Vielmehr ist es so, dass es trotz zahlreicher Gespräche mit möglichen Partnern bislang nicht gelungen ist, eine funktionierende Trägerschaft und damit eine langfristige Finanzierungsstruktur aufzubauen. Der WDR setzt sich weiterhin dafür ein, das ›Studio für elektronische Musik‹ in eine öffentliche Einrichtung zu übergeben und wird daher weitere Gespräche mit Interessenten führen.« Sprich: Ein konkreter Plan B existiert nicht. Eine weitere Mail übt sich in Optimismus: »Grundsätzlich ist das Studio sowohl für den wissenschaftlichen und dokumentarischen sowie in Grenzen auch für den produktionstechnischen Gebrauch nutzbar.«

Alles also halb so wild? Und was sagt der dazu, der wohl in den vergangenen zwanzig Jahren am meisten Zeit in dem Studio verbracht hat und es kennt wie kein anderer, Volker Müller? Einerseits sei er erleichtert über die Lösung in Mödrath gewesen, andererseits »gehört das Studio doch verdammt nochmal nach Köln!« Unvorstellbar sei es für ihn, sollte das Studio, wie es zuweilen heißt, an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz abgegeben werden. Für Müller ist aber das drängendste Problem ohnehin nicht der Standort. Die halbe Million Euro, die der Umzug und Aufbau für den WDR bedeutet hätten, seien sinnvoller verwendet, wenn man sie in die Instandhaltung der Geräte stecke. Es sei mittlerweile schwierig geworden, Ersatzteile für die alten Apparate zu beschaffen, weil viele der Herstellerfirmen gar nicht mehr existierten. Ein noch größeres Problem stelle aber das Wissen dar, das mit den wenigen, die noch aktiv mit den Geräten gearbeitet hatten, in absehbarer Zeit verloren gehe. So wenig Zukunft hatte die Zukunft von einst wohl noch nie.

Für das legendäre »Studio für elektronische Musik« hat der WDR keinen Platz. Und kein Geld. Thomas von Steinacker mit einem elektronischen Trauerspiel in @vanmusik.

Tatsächlich fragt man sich, was geschehen soll, wenn der mittlerweile über 77-jährige Müller eines nicht allzu fernen Tages sein Engagement für das Studio reduzieren oder aufgeben muss und sich die angespannte finanzielle Situation der öffentlich-rechtlichen Sender weiter zuspitzt. Und auch wenn es zwar viel Heroisches, aber keinen klaren Schuldigen in diesem Trauerspiel zu geben scheint, wundert man sich doch, wie es überhaupt so weit kommen konnte: Während aktuell verblüffend viele neue Museen für Schwindel erregende Millionensummen im Gespräch sind, vom Museum des 20. Jahrhunderts in Berlin bis zum Deutschen Fotoinstitut in Düsseldorf, lagert ein Studio von musikhistorischer Weltgeltung, ein Teil der kulturellen Identität dieses Landes, nun bereits seit Jahrzehnten in einem Vorortkeller?

Um es noch einmal mit Thomas Pynchon zu sagen: Ein Heulen kommt über den Himmel. ¶