Man muss das Lied von der grauen Taube nicht kennen, um gleich zu merken, dass die Sache nicht gut ausgeht. Die ersten Töne dieser späten Oper von Peter Tschaikowsky sind tieftraurig, nach russischer Art: eine von dunkel lodernden Holzbläsern getragene, in sich kreisende Melodie. Mitten ins Herz trifft das, weich und warm und beunruhigend, bevor die Ouvertüre rasch und knackig Fahrt aufnimmt, punktgenau präsentiert von dem jungen russischen Dirigenten Valentin Uryupin und dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester. Das Motiv kehrt später noch mal wieder, harfenumspielt. Mitten im Chor-Trubel einer über alle Stränge schlagenden Festivität taucht es auf, als Erkennungsmelodie der Titelfigur. Kirchenglocken von draußen tönen herein. Dann singt die schöne, junge Nastasja, die so beliebt ist beim Volk, dass böse Zungen behaupten, sie sei eine »Tscharodeika« (also eine Zauberin) ein Lied für ihre guten Freunde (von denen sie »Kuma« genannt wird, das bedeutet: Gevatterin). Kuma singt von der schönen Heimat und der Freiheit, sie zu verlassen. Es wird still, alle hören zu: »Wie der Aar sich frei auf zur Sonne schwingt, sehnt die Seele sich fort.«

Asmik Grigorian (Nastasja; rechts am Wolfskopf) und Ensemble • Foto © Barbara Aumüller

Schön wär’s. Im vierten Akt wird Nastasja auf der Flucht gefasst und getötet, was in der Frankfurter Neuinszenierung des Stücks besonders gründlich geschieht, nämlich dreifach: vergiftet (von der Fürstin), erdolcht (vom Sohn des Fürsten) und geschändet (vom Fürsten). Liegt auf der Couch im Salon der Oligarchenfamilie, wo der »Aar« inzwischen ausgestopft an der Wand hängt, sie selbst nichts weiter als eine Jagdtrophäe, ein blutiges Stück Fleisch. Dass der Oligarch, an sich kein übler Typ, auch Gattin und Sohn massakriert hat und selbst Hand an sich legt, sorgt zwar für ein starkes Schlussbild. Hilft aber nicht weiter. Das Böse hat System, es ist damit nicht aus der Welt. 

Alle sieben vollendeten Opern Tschaikowskys sind soziale Tragödien, bis auf das unmittelbar vor Tscharodeika überarbeitete Weihnachtsmärchen Tscherewitschki (Das Pantöffelchen). Stets identifiziert sich der Komponist leidenschaftlich mit den Opfern. Und allemal malt er schwarz-weiß, zieht die Musik scharfe, klare Trennungslinien zwischen Gut und Böse. Man mag das naiv nennen. Doch gerade aus der Absolutheit ihrer Aussage bezieht die Oper Tscharodeika ihre enorme emphatische Energie. Es handelt sich ursprünglich um ein Märchen für Erwachsene, eine Parabel: »Nishegorodsker Legende« heißt das Stück im Untertitel, nach einem Libretto von Ippolit Schpaschinski. Sie spielt weit weg, im fünfzehnten Jahrhundert, spiegelt aber sehr nah die Verhältnisse im zaristischen Russland um 1880. Kirche und Staat bilden eine unheilige Allianz in Sachen Repression. Wer die Macht hat, der hat das Recht, dem ausgebeuteten Volk bleibt nur: Kopf einziehen, hoffen, saufen. 

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Die alltäglichen Todsünden heißen Armut, Hochmut, Wollust, Neid, Völlerei, Jähzorn. Was man sonst Macht des Schicksals nennt, ist in dieser trostlosen Unterdrückungsgesellschaft menschengemacht. Kuma-Nastasja indes (und Tschaikowsky) haben da einen anderen Vorschlag. In ihrem großen Duett im dritten Akt, als es der Zauberin wunderbarerweise gelingt, in Minutenfrist ihren Gegner zu entwaffnen und Feind in Freund zu verwandeln, erklärt sie ihr Rezept: »Gegenüber dem Bösen, mein Engel, habe ich nur eine einzige Antwort: meine Liebe.«

Tschaikowsky wiederum liebte diese Figur. Er beschreibt sie in einem seiner Briefe an den Bruder Modest, im Februar 1886, wie folgt: »In den Tiefen ihrer Seele schlummert eine tiefe und schöne moralische Kraft. Diese Kraft ist die Liebe. Nastasja ist ein starker Charakter.« Für sie hat er die hinreißendsten, lyrisch leuchtendsten, in der Instrumentierung weichsten Musiken komponiert. Es ist, als habe er sie der Sopranistin Asmik Grigorian direkt auf den Leib geschrieben. Die Grigorian macht viel. Aber sie macht auch jeden ihrer Jobs so perfekt und so selbstverständlich anrührend, wie keine sonst zur Zeit. Man sollte sie unbedingt heuer wieder zur Sängerin des Jahres ernennen.

Asmik Grigorian (Nastasja) • Foto © Barbara Aumüller

Grigorian steht im Fokus, sobald sie auftritt. Ihre Stimme leuchtet sonnig auch im Pianissimo, prangt mit  klarem Stahl in der Höhe, malt flexibel alle Nuancen aus. Und sie verfügt über eine natürliche, sängerdarstellerische Aura, die ihr Glaubwürdigkeit verschafft in jeder noch so unglaublichen Situation. Die Rolle der Nastasja hatte Grigorian zuvor schon einmal gesungen, 2014, am Theater an der Wien. Wie verlautet, war sie es, die den Intendanten Bernd Loebe darum gebeten hatte, dieses immer noch viel zu selten gespielte Stück jetzt in Frankfurt zu machen. Danke dafür! 

Fürst und Fürstin von Nischni Nowgorod dagegen sind Rollendebüts, Iain MacNeil und Claudia Mahnke gehören zum Frankfurter Ensemble. Beide liefern hochdifferenzierte Rollenporträts ab, man glaubt ihnen die fortschreitende Dekadenz: ihm, mit seinem schön beweglichen, wohlgerundeten  Bariton; ihr mit großem Volumen und der famos blitzenden Mezzo-Attacke. Mahnke spielt erst ein verwöhntes, hysterisches Frauchen und verwandelt sich dann in eine bigotte Megäre, kalt lächelnd motiviert zum Mord aus Eifersucht.

V.l.n.r. Claudia Mahnke (Die Fürstin) und Asmik Grigorian (Nastasja) • Foto © Barbara Aumüller

Der Fürst dagegen ist zunächst nichts weiter als ein Apparatschik, leicht manipulierbar von seinem intriganten Ratgeber, aber auch durchaus empfänglich für die Argumente Nastasjas, die mit ihm selbstbewusst ein Wodka-Wettsaufen veranstaltet. Erst, als sie nicht seine Maitresse werden will, lässt er den Tyrannen raushängen. Wird tobsüchtig, dann gewalttätig, verliert schließlich den Verstand. Grandios gestaltet seine von allen Furien verfolgte, finale Wahnsinnsszene. 

Die vierte hochdramatische Hauptrolle hat Fürstensohn Juri, der ein vergoldetes Muttersöhnchenleben führt und trotz Boxtraining zu schwach ist, um ein guter Mensch werden zu können. Er wird höchst achtbar von dem jungen Tenor Alexander Mikhailov verkörpert. Auch all die vielen realistisch eingefädelten Nebenrollen, die Beamten, Leibjäger, Spione, Kammerfrauen, Kaufleute und Söhne von Kaufleuten, sind ganz hervorragend besetzt. Der Chor der Oper Frankfurt, trainiert von Tilman Michael, zeigt sich in Bestform. Für eine atemraubende Revue beim Fest sorgen, gleich nach Freiheitsballade und  Wodkaexzess, fünf Tänzer, die in rabenschwarzen Tüll-Tutus über Tisch und Bänke springen und beim Handstand-Überschlag ihre revolutionsroten Unterhosen vorzeigen, bösartigerweise bedruckt mit einem feschen Hammer-und-Sichel-Emblem.

In der Bildmitte sitzend Asmik Grigorian (Nastasja) und Iain MacNeil (Der Fürst) sowie Ensemble und Tänzer • Foto © Barbara Aumüller

Der russische Regisseur Vasily Barkhatov hat nämlich, mitsamt seinem russisch-deutsch-israelischen Team, die Handlung dieser russischen Oper konsequent in die Gegenwart verlegt. Das ist ein Statement, ebenso wie der Umstand, dass über dem Bühnenportal vor Beginn der Vorstellung die ukrainischen Farben eingeblendet sind. Es wäre vielleicht nicht unbedingt nötig gewesen, während der Ouvertüre in Bilderfolgen zu zeigen, woher diese Zauberin kommt. Auch beim Video von aktuellen Moskauer Demonstrationen später knirscht es etwas im dramaturgischen Gebälk. Doch ansonsten geht Barkhatovs Übermalung der Story mit neuem Narrativ gut auf.

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Nastasja-Kuma hat einiges hinter sich, ist hier keine Kneipenwirtin am Rande der Prostitution, vielmehr eine oppositionelle Künstlerin. Gehörte selbst einmal zu den oberen Zehntausend, inklusive Heirat, Gewalt in der Ehe, Fehlgeburt. Als Witwe und reiche Erbin kauft sie sich ein Atelier und eine Galerie in der Provinz, »800 Quadratmeter für die Kunst«, wo sie wohnt, malt, bildhauert und andere Künstler unterstützt. Als sich der Vorhang hebt, findet gerade eine Vernissage statt. Ihre jüngsten Werke sind düster: viel Dunkelgrün, viel russischer Wald. Außerdem stehen in dem avantgardistischen Atelier aus Sichtbeton auch noch ein Neon-Baba-Jaga-Haus sowie eine Wolfsskulptur herum. Mitten im Fest des Künstlervölkchens werden dann, fast beiläufig, die Unglücksweichen gestellt.

Asmik Grigorian (Nastasja) • Foto © Barbara Aumüller

Der sauertöpfische Fürstenberater Mamyrow (Frederic Jost), der von seinem Herrn gedemütigt wird, hat bei Barkhatov eine Doppelrolle zu erfüllen, er steht für das Böse an sich: ist kein Beamter, vielmehr ein schwarzbassiger orthodoxer Pope. Und übernimmt, als solcher, später auch die Partie des Giftmischers Kudma. In der neureichen, klassizistisch ausgestatteten Residenz, wo die platinblonde Fürstin in einer barbierosa Fitness-Kluft zwischen Ikonen-Vitrine und senfgelber Sitzgarnitur Gymnastik betreibt, Suppe aufträgt oder dem Alkohol zuspricht, geht dieser Mistkerl dann als Familienmitglied munter ein und aus. Schnelle Bildwechsel, während der Intermezzi, verdichten die Geschichte. Da lernt, zum Beispiel, der Fürst im Atelier das Diskutieren, daheim auf dem Sofa aber kuschelt er mit dem Familienschäferhund. 

Links: Asmik Grigorian (Nastasja) und Iain MacNeil (Der Fürst) / Rechts: Iain MacNeil (Der Fürst) und Claudia Mahnke (Die Fürstin) • Foto © Barbara Aumüller

»Wie süß«, sagt die Dame neben mir. Sie teilt auch sonst gerne mit, was sie so denkt, zur Freude der Umsitzenden. Mutters Suppe mag der Fürst nicht. Wie lustig. Sohn Juri verzehrt  kiloweise Nahrungsergänzungsmittel. Vereint sich dann mit der trunkenen Mutter zu einem innig-symbiotischen Gebetsduett, kniend vor der Ikone, und lässt sich vor ihren Rachekarren spannen.

Ich mag es sehr, wenn ein Regisseur sein Publikum nicht unterschätzt. Aber ob an diesem Premierenabend wirklich alle mitgekriegt haben, wie weit der Spaß in Barkhatovs Version geht? Er setzte einen harten Schnitt, genau an besagter Stelle im dritten Akt, als Nastasja ihrem Mörder mit der Waffe der Liebe antworten will. Dieser gutmütige, aber nicht sonderlich kluge Jüngling ändert danach seine Meinung so schnell, als würde man einen Schalter umlegen. Und dann  geht die Welt aus den Fugen. Das wohlgeordnete Bühnenbild löst sich auf im vierten Aufzug, erst wandern die Möbel von A nach B, dann irren die Figuren backstage herum, die Drehbühne rotiert. Es spukt, es gewittert, dem weißen Nachthemd von Nastasja wächst eine immer länger werdende, leichentuchartige Schleppe. Die Geschichte zerfällt in surreale Bilder, die lösen sich ab vom musikalischen Geschehen: ein Albtraum.

Asmik Grigorian (Nastasja) • Foto © Barbara Aumüller

Wie sich herausstellt, ist es der Traum Nastasjas. Im vorletzten Bild schneidet Barkhatov den Anschluss. Die Drehbühne steht plötzlich wieder still, im Künstleratelier steht wieder ihr Bett, sie liegt unter der Decke und schläft, wie zuvor schon einmal im dritten Akt. Juri kommt und ersticht sie. Sieht diesem Trottel ähnlich. ¶

Eleonore Büning

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.