Es gilt »das Konzert des Jahres« zu retten, drunter macht es das Escape Game der Elbphilharmonie nicht. »Der legendäre Geiger Paganono kehrt noch einmal auf die Bühne zurück. Musikfans aus der ganzen Welt kommen nach Hamburg, um dieses ganz besondere Konzert mitzuerleben.« So der Wunschtraum der Elbphilharmonie beziehungsweise der Ausgangspunkt ihres neuen und kostenlosen online Escape Games. Sieht aber schlecht aus für das Konzert des Jahres. Paganonos Geige ist auf dem Flug nach Hamburg kaputt gegangen, die »Projektleiterin der Elbphilharmonie« Nuria muss sie asap zur Reparatur bringen und man selbst soll einspringen, um eine Liste weitestgehend sinnfreier Aufgaben abzuarbeiten, mit denen Nuria sich ansonsten den Tag vertrieben hätte. Fehler in der Orchesteraufstellung zu finden, mag man als To-do gerade noch akzeptieren, selbst wenn hier die Posaune in der ersten Reihe neben Fagott und Pauke sitzen soll und eine Sologeige, um die es ja in der Story eigentlich geht, überhaupt nicht verzeichnet ist. Die gerahmten Bilder in Paganonos Garderobe in die Reihenfolge zu bringen, in der die musikalischen Werke, die sie symbolisieren, entstanden sind, ist schon recht hanebüchen. Dass ansonsten alles Mögliche im Haus über Zahlencodes aktiviert werden muss (der Fahrstuhl – okay, aber jede einzelne über das Lichtpult zu steuernde Beleuchtungseinheit?) ist völlig abstrus. Noch fragwürdiger ist allerdings, warum Nuria zwar Zeit hat, per Smartphone ellenlange Nachrichten und Emojis zu schicken, aber nicht mal eben ein paar im Haus offenbar relevante vierstellige Codes runtertippen kann. Um diese herauszufinden, muss man Hinweiszetteln folgen, die – warum auch immer – im Gebäude herumliegen oder an der Wand kleben. Dabei gilt es, viel in schönen Hochglanzbildern herumzuscrollen. Sehr viel zu scrollen. Mein Mitspieler wird wütend und verlangt die Hoheit über die Maus.

YouTube video

Die Rätsel selbst sind für Erwachsene zu einfach, für Kinder zu schwer und für Teenager zu uncool. Man muss nicht um die Ecke denken (wie zum Beispiel in Exit-Games vom Kosmos Verlag, bei denen man auch mal schlau kombinieren und darauf aufbauend die Spielverpackung in ein Wasserglas tunken muss, um den nächsten Hinweis zu bekommen), was unterhaltsam ist. Oder sich selbst einen sinnvollen Weg durch die gegebenen Hinweise bahnen (wie beim Spieleentwickler Hidden Games, bei dem man sich als Polizistin, die zu einem Schützenfest-Mord in Kleinborstelheim ermittelt, erstmal einen Reim auf einen Wust anonym geschickter Unterlagen machen muss – unter anderem auch auf die Frage, wer die Dokumente versendet hat und warum), was die zu lösenden Rätsel in einen zumindest halbwegs realistisch erscheinenden Kontext einbettet.

ANZEIGE

All das ist schade, denn die grundsätzliche Idee, das Haus über eine interaktive Rätsel-Geschichte vorzustellen, ist eigentlich sehr schön. Wenn die Story nur ein kleines bisschen glaubwürdiger oder wenigstens charmanter wäre. Wie wäre es zum Beispiel, wenn man den Künstler, um den es hier die ganze Zeit geht, zumindest etwas kennenlernen würde – selbst wenn sein Leben nur fiktiv ist? Wenn die Absurdität der Aufgaben innerhalb der Geschichte irgendwie aufgefangen würde: Paganono ist über den ganzen Ruhm völlig abgehoben und nur noch bereit, ein Konzert zu spielen, wenn sich vorher aus dem Publikum jemand bereit erklärt, seine sieben Rätsel zu lösen. Oder: Man arbeitet als persönliche Assistenz von Nuria den ersten Tag an der Elbphilharmonie, sie ist aber krank und man muss sich nur mit ihrem rätselhaften Notizbuch am Haus zurechtfinden. Irgendetwas in der Art. Aktuell bleibt vor allem der eigene Spielcharakter eine völlig Leerstelle. Wessen Rolle übernimmt man? Warum ist man an diesem Pannentag überhaupt in der Elbphilharmonie? Und warum sonst offensichtlich niemand halbwegs kompetentes? Erst durch eine gute Backgroundstory (oder zumindest eine irgendwie vorhandene) und vor allem eine spannende Rolle, in die man selbst schlüpft, steigt man in so ein Spiel richtig ein. In der Elbphilharmonie bleibt es beim schnöden Abarbeiten sinnloser und mit Musik oder dem Musiker:innenalltag in wenig Zusammenhang stehender Aufgaben. 

Für die ganzen Mühen wird man dann noch nicht mal mit einem (gemimten) Paganono und dem (nachgestellten) »Konzert des Jahres« belohnt, sondern vom Mitschnitt eines Konzerts des NDR Elbphilharmonie Orchesters mit Alan Gilbert. Auch schön, eigentlich. Nur: Wozu das ganze Scrollen, wenn Paganono am Ende seine reparierte Geige links liegen lässt und sich auf dem Fischmarkt oder sonstwo rumtreibt, in jedem Fall aber nicht als Solist auf der Bühne der Elbphilharmonie steht? ¶

Merle Krafeld

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com