Bei Pasolini, 1968, lebte die Familie des Mailänder Großindustriellen in einer kühlen, hellen, stillen, weiten Villa mit Garten, geschützt von einem übermannshohen Zaun. Das eiserne Tor, das sich nur zweimal öffnet und schließt, lässt Unheil hinein. 2023, an der Deutschen Oper Berlin, haust eben diese Familie hinter den sechs Schiebefenstern eines rabenschwarzen Adventskalenders in einem Puppenhaus (ohne Nasszelle), das in allen Zimmern ausgestattet ist mit einer jägergrünen, kleingemusterten Tapete. Das sieht eng, schäbig, billig aus. So exemplarisch billig, dass man, wenn mal wieder so ein Fenster aufploppt, sofort an einen holländischen Puff oder an die Fernsehkulisse für eine Comedyshow denkt. »Käsekästchen«, sagte dazu treffend der Kritikerkollege im Morgenradio. Manchmal sind alle Kästchen zu. Manchmal stehen mehrere offen. Dann kann man zugucken, wie, zum Beispiel, der Vater ins Schlafzimmer des Sohnes geht, was beiden nicht gut bekommt. Ist die Kapitalistenklasse in den letzten 55 Jahren so heruntergekommen, dass man sie bedauern muss? Oder hat sie sich so grundstürzend gewandelt, dass sie nur noch als Witzfigur vorgeführt werden kann?

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Auch in vielen anderen Details ist die Story, die Pier Paolo Pasolini in seinem strengen, stillen Kultfilm Film Teorema verhandelt hat, nicht ganz identisch mit dem reich ausgestatteten, malerisch-munteren Showpiece, welches der italienische Komponist Giorgio Battistelli in seiner jüngsten abendfüllenden Oper Il Teorema di Pasolini vorführt. Die Deutsche Oper, die das Werk in Auftrag gab, hatte, was die Realisierung der Uraufführung anbelangt, weder Kosten noch Mühen gescheut. Gut so! So sollte es immer sein, wenn es um zeitgenössische Musik geht. Doch einerseits folgt die Oper anderen Regeln im Zeit- und Raummanagement als der Film. Andererseits hat Pasolinis Plot inzwischen ein historisches Verfallsdatum. 

Ablesbar, beispielsweise, an der Sache mit dem Sex. Teorema wurde seinerzeit als Provokation aufgefasst, weil Pasolini ein rätselhaftes Gruppen-Coming-Out vorführt, das in eine schier biblische  Katastrophe mündet. Zugleich featured der Film einen bisexuellen Helden, den Pasolini selbst einmal den »Engel der Vernichtung« nannte. Freundlich lächelnd, fast passiv, setzt dieser Engel, der das Tor zweimal passiert, die sexuelle Befreiung der kompletten Familie ins Werk: Vater, Mutter, Sohn, Tochter und sogar die Haushälterin erliegen seinem Liebreiz. Als er sie verlässt, brechen die Familienbande und jede:r der im biblischen Sinne »Erkannten« schliddert schnurstracks in den Untergang. Die Haushälterin wird fromm. Sie tut Buße, isst Brennesselsuppe und fährt gen Himmel auf. Die Tochter verliert den Verstand, die Mutter sucht sich prostituierende Jungen auf dem Straßenstrich, der Sohn verwandelt sich in einen glücklosen Maler Klecksel und der Vater verschenkt seine Fabrik an die Arbeiterschaft und geht nackt in die Wüste. Doch der eigentliche Sexakt wird in dieser politischen Parabel nicht gezeigt. Diskret schaut das Auge der Kamera weg, wenn es dazu kommt. Es zeigt nur die Sehnsucht nach Lust und Nähe, in einer Mischung aus Staunen und Scham, wie sie sich spiegelt in den Augen der Protagonisten, in Großaufnahmen. Man sieht die abgelegten Kleider herumliegen, altmodische Schiesser-Slips, am Boden oder auf dem Sofa. Aber man sieht kaum nackte Haut.

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Heute, nach der sexuellen Revolution, ist von Wüste keine Spur, denn wir sind sexuell befreit. Es sei denn, man betrachtet die Allgegenwart von Pornographie im Netz als eine Verwüstung und die Gewaltakte, vor denen jede Netflixserie im Vorspann warnt, als öde. Selbst auf der Opernbühne fallen alle Hüllen, sogar in Händelopern sind Sex and Crime zur handelsüblichen Währung geworden. Da wirkt es fast prüde, dass das junge, frische, irische Theaterkollektiv Dead Centre, das zuletzt am Akademietheater in Wien Furore gemacht hatte und bislang erst ein einziges Mal eine Oper inszenierte – und zwar spektakulär: Bählamms Fest, von Olga Neuwirth, in der Jahrhunderthalle Bochum – bei dieser Oper so vorsichtig umgeht mit diesem zentralen Thema. Eigentlich passiert gar nichts, sieht man ab von einer versuchten Vergewaltigung im Ehebett.

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Battistelli dagegen spart nicht mit sinnlichen Attacken. Das geht los mit einem heftigen Knall, einem vom Sampler manipulierten Paukenschlag mit elegantem Glissando. Für einen Avantgardekomponisten war Battistelli, der unter anderem bei Stockhausen und Kagel studiert hatte, sein Leben lang relativ erfolgreich. Ein passionierter Geschichtenerzähler, begabt mit einer individuellen polystilistischen Musiksprache, die dem Hörer entgegen kommt, wollte er, anders als seine Altersgenossen, nicht im Elfenbeinturm das Rad neu erfinden, vielmehr das Publikum erreichen. 

Man kann getrost anerkennen: Das ist ihm gelungen! Inzwischen ist Battistelli 71 geworden, er hat mit Il Teorema di Pasolini jetzt sein dreiundzwanzigstes Stück fürs Musiktheater abgeliefert. Bereits Anfang der Neunziger hatte er sich schon einmal mit diesem Stoff befasst, in einem experimentellen Melodram ohne Sänger, komponiert für die Münchner Musiktheater-Biennale. Zuletzt hatte Battistelli mitten in der Coronazeit für das römische Opernhaus eine Shakespearevertonung vorgelegt: Julius Caesar.  Melodien sind rar in seiner individuellen Musiksprache, Rhythmen dagegen – auch Jazzformeln – werden zur starken Droge in der »Pasolini«-Partitur, die einen gekonnt dramaturgischen Bogen aufbaut. Malerisch instrumentierte Orchesterzwischenspiele gliedern das Geschehen, auch der Warnschuss vom Anfang kehrt, wie ein Ausrufezeichen, gelegentlich wieder. 

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Unter der Leitung von Daniel Cohen wachsen Orchester und Ensemble zusammen zu einem Team, das mit musikantischer Energie nach vorne geht. Effektvoll oszillieren die Sängerpartien zwischen gesprochener Sprache, Sprechgesang und Rezitativischem, mit markanten Espressivo-Ausbrüchen. Die Sänger kommen mit diesen Anforderungen blendend zurecht. Davide Damiani ist ein sonorer Vater Paolo und Ángeles Blancas Gulín eine ergreifend hysterische Mutter Lucia, wohingegen die Altistin Monica Bacelli der Haushälterin Emilia einige aufregend fahle Farben verleiht. Auch die beiden Jugendlichen – Meechot Marrero als Tochter Odette, Andrei Danilov als Sohn Pietro – machen einen hervorragenden Job. Dass sich alle sechs Sänger anfangs, noch bevor der erste Ton erklingt, auf der Vorderbühne herumtreiben, versteckt in unisexweissen Schutzanzügen, gehört, wie sich herausstellt, zum zentralen Tool im Regiekonzept von Dead Centre.

Sie stellen ein Wissenschaftlerteam dar, das vom Labor aus, umgeben von medizinisch-technischem Gerät, die Familie beobachtet, filmt und wie ein Experiment gründlich evaluiert. Blutdruckwerte und Herzfrequenzen werden gemessen und zieren menetekelartig, als vergrößerte Videoaufnahmen und knallbunte Wärmebild-Erhebungen die schwarze Adventskalenderwand. Die Familie dagegen, eingeknastet in ihren jägergrün tapezierten Einraumwohnungen, wird von stummen Schauspielern gemimt. Mit diesem Doppelgänger-Kick verweist Dead Centre auf die Münchner Urfassung Battistellis zurück. Was das soll, erschließt sich freilich erst, als sich der ephebenhaft schöne Jüngling so plötzlich verabschiedet, wie er gekommen ist. In diesem Augenblick kippt die Story. Der flexibel weiche Baritonsänger Nikolay Borchev streift seinen Schutzanzug ab, er verlässt das Labor und steigt hinter die Kalenderwand, um sich mit seinem Double zu treffen. Langsam breitet sich das Chaos aus. Auch die übrigen Sänger mischen sich nach und nach unter die Schauspieler. Und nicht nur das Personal entgleist. Auch die Bilder geraten aus den Fugen. Alle sechs Stübchen des Puppenhauses sind offen und in Action. Die Tapeten gehen aus dem Leim, in der Küche erglüht feurig der Backofen, Esszimmerstuhlbeine wachsen nahtlos durch die Decke und verschmelzen prachtvoll surreal mit den Baumstämmen des Waldes, in dem zuvor Schäferstündchen angepeilt wurden, nicht gerade standesgemäß, aber pittoresk: im erdbeermundroten Fiat 500.

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Battistelli hat für diesen zweiten, finsteren Teil der Parabel eine fast zu schöne, dynamisch aufbrandende Weltuntergangsmusik komponiert, mit mehrstimmigen Ensembles, die sich steigern bis zum letzten Bild, das in der Wüste spielt, vor einem leeren, schwarzen Wolkenhimmel: der Vater, der sich selbst enteignet und seine Familie verloren hat, geht, seiner Identität verlustig, als splitterfasernackter Einsiedler von dannen. Ganz nackt ist er freilich nicht. Dead-Centre-Ausstatterin Nina Wetzel hat dem Sänger einen der bei Pasolini herumliegenden Slips zugestanden. Und die Oper, die mit einem Knall begann, endet, wie der Film, mit dem finalen Urschrei. Pasolini hat damit Edvard Munch zitiert. Battistelli zitiert Pasolinis Filmschluss. Dumm daran ist nur, dass ein Schrei auf der Opernbühne das Normalste von der Welt ist. Er schneidet nicht den Lebensfaden ab. Er reißt keine Abgründe auf. Keine Katharsis in Sicht. Bei der Premiere folgte grenzenloser, minutenlanger Jubel, garniert mit Pfiffen und Schreien von einem auffallend jungen Publikum, aus der Fankurve. ¶

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.