Ich treffe Masaaki Suzuki am späten Nachmittag im Mainz Hyatt Regency Hotel. Der nahegelegene Rhein ist hochwasserbedingt schon beinahe über die Ufer getreten. Tags zuvor hatte Suzuki in der St. Bonifazkirche die Kantaten 4 bis 6 von Bachs Weihnachtsoratorium dirigiert – im Rahmen des Projektes BAROCK VOKAL mit dem Gutenberg Kammerchor Mainz, dem Neumeyer Consort und einigen Nachwuchssolisten. Der Leiter des Bach Collegium Japan, der hervorragend Deutsch spricht, ist entspannt, guter Laune und in Plauderstimmung. Am Abend wird er nach Tokyo zurückfliegen.
Sie sind 1954 in Kobe geboren und aufgewachsen. Wie wird ein Japaner zum Bachfreak?
Ich staune immer, dass ich das gefragt werde, denn Bach ist in Japan schon lange bekannt und war es auch schon in meiner Kindheit. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird in Japan Bach gespielt, wenn auch zunächst meist nur die Instrumentalwerke und die Klaviermusik. Die Matthäuspassion wurde 1937 erstmals in Tokyo aufgeführt. Leider gibt es keine Tonaufnahme davon, aber ich habe mal ein Foto gesehen: Zwei japanische Chöre in traditionellen Kimonos stehen vor einem großen Sinfonieorchester und dahinter ein riesiger Kinderchor mit 200 Kindern – sehr lustig! Dirigent war Klaus Pringsheim, der Zwillingsbruder von Katia Mann, der damals einige Jahre in Japan war, bevor er dann unter dem Druck der politischen Verhältnisse in die USA emigrierte …
Aber wie sind Sie nun persönlich zu Bach gekommen?
Ich spielte schon mit zwölf Jahren bei uns in der Kirche in Kobe die Orgel – ehrlich gesagt, die ›Orgel‹ war damals ein Harmonium. Ich hatte großen Ehrgeiz, die Orgelwerke Bachs zu spielen, wusste aber mangels Anschauung nicht, dass die ›dritte Stimme‹ in den Noten für das Pedal bestimmt war und wunderte mich, dass es doch sehr schwer war, alles auf den Tasten zu erwischen (lacht). Ich kam dann aber schnell dahinter, als ich bei einem belgischen Priester Orgelunterricht bekam. Als Jugendlicher hörte ich immer wieder die Schallplattenaufnahme der h-Moll-Messe mit Karl Richter – besonders faszinierte mich dabei der Trompeter Adolf Scherbaum, denn als Jugendlicher spielte ich auch viel Trompete.
Masaaki Suzuki schließt Mitte der Siebzigerjahre ein Orgel- und Kompositionsstudium an der Tokyo University of Fine Artsand Music (Tōkyō Geijutsu Daigaku) ab und verfeinert dann seine Cembalo- und Orgelstudien bei so unterschiedlichen Lehrern wie Ton Koopman (Cembalo) und Piet Kees (Orgel) am Sweelinck-Konservatorium in Amsterdam. Danach unterrichtet er drei Jahre lang Cembalo an der Staatlichen Musikhochschule in Duisburg. Nach seiner Rückkehr nach Japan wird er selbst Professor für Orgel und Cembalo an der Universität Tokyo. 1990 gründet Suzuki das Bach Collegium Japan, mit dem er von 1995–2013 sämtliche geistliche Kantaten von Johann Sebastian Bach im Konzert aufführt und für das schwedische Label BIS auf CD einspielt. Die Aufnahmen ernteten immer wieder euphorische Kritiken. So schrieb die ZEIT einmal, Suzuki und sein Ensemble kümmern sich so »kompetent und dauerhaft um Bach«, dass »dem Abendland die Spucke wegbleibt«.
Nur etwas mehr als ein Prozent der Japaner sind Christen. Sie gehören zu dieser kleinen Minderheit. Ist Ihr Christsein wichtig für Sie in Bezug auf Ihre Bachinterpretation?
Für mich persönlich ist das sehr wichtig. Und für Japan gilt, dass, auch wenn die Zahl der Christen sehr gering ist, sehr, sehr viele Menschen am Christentum und seiner Kultur interessiert sind. Ich bin immer wieder erstaunt, wenn in Japan zu einem Konzert mit relativ unbekannten Bach-Kantaten über 1000 Menschen kommen. Das Christentum hat in Verbindung mit der europäischen Kultur in Japan auf jeden Fall sehr viel mehr Einfluss als die offizielle Zahl der Christen vermuten lässt. Besonders in den großen Städten finden die großen christlichen Feste wie Ostern oder Weihnachten viel Beachtung.
In Deutschland gibt es viele Gottesdienste, in denen die Bach-Kantaten in den Gottesdienstablauf integriert und zum Gegenstand der Predigt gemacht werden. Jetzt ist sogar ein dickes Buch mit solchen Predigten erschienen. Gibt es so etwas auch in Japan?
Nein, das wäre schön, aber dafür ist die Zahl der Christen und der Kirchen viel zu klein und die sprachliche Hürde zu hoch. Außerdem muss ich sagen, dass es unter unseren Gemeindemitgliedern auch nur eine sehr kleine Minderheit gibt, die sich für Bach interessiert, was ich sehr bedauere. Da erlebe ich in der Universität und bei öffentlichen Konzerten mehr Interesse. Generell muss man aber auch sagen, dass wir Japaner sehr interessiert sind, etwas Neues zu lernen, wir sind fleißig (lacht).
Im vergangenen Jahr stand das Werk eines anderen berühmten Zeitgenossen Bachs sehr im Fokus, nämlich das von Georg Philipp Telemann aufgrund seines 250. Todestags. Sie haben im vergangenen Sommer in Norwegen das Oratorium Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu mit einheimischen Musikern gemacht. Ansonsten sind Sie bisher aber noch nicht mit Telemannprogrammen aufgefallen …
Das stimmt. Ich habe bisher sehr wenig Telemann machen können, auch nicht andere Zeitgenossen Bachs wie Graupner und Stölzel – schade, aber man kann nicht alles machen. Die Sache beim St. Olafs-Festival in Trondheim hat sehr viel Spaß gemacht, es ist wunderbare Musik, aber Telemann ist eben ganz, ganz anders als Bach …
Wie anders?
Ganz anders (lacht). Ein Beispiel: In dem Oratorium Auferstehung und Himmelfahrt Jesu gibt es ein Rezitativ, wo die Emmausgeschichte erzählt wird, der auferstandene Jesus ist auf dem Weg mit zwei Jüngern, die traurig sind, weil er gekreuzigt wurde, aber sie wissen nicht, dass es Jesus ist (Lukas 24, 13-35). Erst singt der Alt die Einleitung, dann beginnt der Bass als Stimme des auferstanden Jesu und erzählt den Jüngern die ganze Heilsgeschichte, ein ziemlich langer Text, sehr seriös, dramatisch, theologisch sehr anspruchsvoll. Was macht Telemann? Er unterlegt das fast die ganze Zeit mit einem Wandermotiv, weil sie ja gehen (singt) womm-pomm, womm-pomm und so weiter – ständig dieser Rhythmus. Das ist sehr – wie soll ich sagen – lustig gelöst, aber es ist eben auch sehr schematisch …
Also zu einfach …
Ein bisschen zu einfach, auch wenn es künstlerisch sehr gut gelöst ist, weil Telemann auch in diesem Wander-Rezitativ immer wieder interessante harmonische Zäsuren einstreut, sehr pittoresk und eine gute Idee, das musikalisch so umzusetzen, dass Jesus die Ganze Zeit mit zwei Männer durch die Gegend läuft.
Bach würde so etwas nie machen, er ist unberechenbarer …
Der Erlanger Universitätsmusikdirektor und Bachkenner Konrad Klek hat in seiner neuen dreibändigen Einführung in Bachs Kantatenwerk häufig – wie selten in solchen populären Überblickswerken – auf die angebliche „Zahlensymbolik” in Bachs Werk Bezug genommen.
Natürlich, das ist wahnsinnig interessant, und man kann sich jahrelang damit beschäftigen. Nehmen Sie allein die erste Fuge im Wohltemperierten Clavier: Sie besteht aus drei mal drei Takten, 21-mal erklingt das Thema und das hat auch 14 Töne und 14 ist ja nun nach dem Zahlenalphabet der Name Bach. Das wird ja wohl kaum Zufall sein, oder? Ich habe kürzlich wieder dazu gehört. Es ist auf jeden Fall faszinierend, darüber zu reden, aber: Es bleibt Kopfmusik, man hört es schlicht nicht.
Wenn Sie Außerirdischen nur einen Ausschnitt aus einem Werk vorspielen könnten, welchen würden Sie wählen, um sie für Bach zu gewinnen?
(Lacht) Das ist schwer, aber wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich etwas aus der h-moll-Messe oder der Matthäuspassion vorspielen, aber das allein wäre schade, denn dann bekäme er die Vielfältigkeit nicht mit. Bachs polyphone Struktur beruht auf seiner harmonischen Struktur, das ist ganz anders als zum Beispiel bei der Musik der Palestrinazeit. Nehmen Sie nur das berühmte Air aus der berühmten Orchestersuite BWV 1068: Es klingt so schön und harmlos, aber es steckt trotzdem eine unglaubliche polyphone Struktur dahinter. Auch in so scheinbar einfachen pädagogischen Stücken wie den Inventionen und Sinfonien für Klavier. Aber es ist schwer, sich zu entscheiden …
Hat sich in gut zwanzig Jahren Gesamtaufnahme der Bachkantaten etwas an Ihrem Musizierstil in Sachen Bach geändert?
Ich werde das häufig gefragt. Mir ist nicht bewusst, dass ich in den zwanzig Jahren von der Grundauffassung her viel geändert habe, aber wir sind alle älter geworden. Am Anfang war es für uns eine große Herausforderung, einen vierstimmigen Choral aufzunehmen, da hilft natürlich immer mehr die Vertrautheit mit Bachs Musik und – im positiven Sinne – Routine. Heute fühle ich mich viel freier in der Interpretation als etwa vor zehn Jahren. Wir wollten auch irgendwie immer alles ›richtig‹ machen. Natürlich wussten wir, dass unsere Realisation nur eine von vielen möglichen ist, aber seitdem ich alles im Kasten habe, genieße ich es, im Konzert mal dies und das neu auszuprobieren.
Trügt der Eindruck, oder stimmt es, dass Sie gestern Abend beim Mainzer Weihnachtsoratorium durchaus sehr rasche Tempi bevorzugen? Andere junge Alte-Musik-Ensembles aus Europa, wie Vox Luminis, entdecken gerade wieder die Langsamkeit in der Barockmusik und der neue Stern Teodor Currentzis zelebrierte die Purcell-Motette Remember not Lord our offences gefühlt in Zeitlupe …
Gestern sind einige Tempi in der Tat etwas schnell geraten … das war nicht immer von mir gewollt (lacht). Eigentlich wollte ich es etwas langsamer machen, gerade in der halligen Akustik der hohen Bonifazkirche, da ist uns zum Beispiel der Eingangschor vom fünften Teil ein bisschen weggerannt! Mir fällt auf, dass viele deutsche Streicher oft sehr schnell spielen wollen. Das ist manchmal ein bisschen schade, andererseits waren Chor und Orchester klasse präpariert und wollten zeigen, was sie können – dann passiert so etwas schon mal (lacht). Es ist aber in der Tat eine Gefahr, sich bei Bach in einen Temporausch zu steigern, weil man dann die harmonische Polyphonie nicht mehr hört – und das ist schade!
Viele Dirigenten, die aus der Alte-Musik-Szene kommen, dirigieren inzwischen auch ›moderne‹ Orchester. Macht es Ihnen etwas aus, Bach mit modernen Orchestern zu dirigieren?
Ich mache Bach nur sehr selten mit modernen Instrumenten, aber natürlich ist es möglich und legitim, und ehrlich gesagt, manche Aspekte der Musik Bachs kann man mit modernen Instrumenten leichter ausdrücken, zum Beispiel lassen sich besser lange Töne halten, manchmal vermisse ich diese Fähigkeit zur Länge bei historischen Streichinstrumenten. Aber sie sind ansonsten viel ›sprechender‹ für die Musik Bachs. Und die menschliche Singstimme mischt sich mit historischen Instrumenten, besonders mit den Holzbläsern, viel besser als mit dem sogenannten modernen Instrumenten. Aber unabhängig von den Instrumenten ist es entscheidend, was für eine Vorstellung man von der Musik hat, und die muss man versuchen durchzusetzen.
Gelingt das auch mit modernen Orchestern?
Das kann gelingen, aber es ist schwierig und zwar aus dem einfachen Grund, dass immer zu wenig Probenzeit da ist. Außerdem finde ich es sehr unbefriedigend, wenn nur bestimmte Instrumente, zum Beispiel Trompeten, in historisierender Bauart zum normalen Sinfonieorchester hinzugefügt werden. Das ist fake! Wie gesagt es ist schade, dass man mit den modernen Orchestern immer so wenig Probenzeit hat, denn man müsste in Sachen Klangqualität viel mehr experimentieren können, da können Kleinigkeiten, zum Beispiel in der Bogenhaltung, schon Wunder wirken …
Seit einiger Zeit wird in Konzerten oft Alte Musik mit Neuer Musik kombiniert nach dem Motto Renaissance oder Barock meets Moderne. Nach meinen Recherchen haben Sie so etwas noch nie gemacht. Finden Sie solche Mischungen blöd?
Nein, überhaupt nicht, das kann ganz wunderbar sein! Dass ich das selbst nicht mache, hat eher praktische Gründe, vielleicht ist es auch eher eine Sache für die nächste Generation (lacht): Mein Sohn Masato mit seinem macht so etwas. Er komponiert selbst und führt seine Werke dann zusammen mit Alter Musik auf. Ich finde das klasse!
Nun haben Sie alle Bachkantaten eingespielt und auch bei seinen Tastenwerken sind Sie schon weit vorangekommen. Haben Sie noch große enzyklopädische Pläne für die Zukunft? Ihr Freund Ton Koopman machte sich gleich nach dem Ende seiner Gesamtaufnahme aller Bachkantaten an eine Gesamtaufnahme aller Kantaten Buxtehudes. Haben Sie Ähnliches vor?
Nein, auf keinen Fall. Eine Gesamtaufnahme der Werke eines Komponisten habe ich wirklich nicht mehr vor – Bach reicht für ein Leben. Aber ich interessiere mich immer mehr für Messkompositionen. Da gibt es so tolle Sachen. Mozarts konnten wir schon aufnehmen und waren damit sehr erfolgreich. Jetzt freue ich mich auf die Missa solemnis von Beethoven – ein tolles Stück, ehrlich: Ich finde es besser als seine Neunte Sinfonie.
Vielleicht doch alle Graupner-Kantaten …
Bloß nicht – das sind viel zu viele. Zweihundert Kantaten, wie bei Bach, das ist genau richtig – schon damit wird man sein Leben lang eigentlich nicht fertig …
Insofern kann für Sie der mutmaßliche fünfte Kantatenjahrgangs Bach ruhig verschollen bleiben …
Ach, einen fünften Jahrgang Bach – den würde ich auf jeden Fall noch verkraften! ¶