Meine Begeisterung für die Musik der ukrainischen Komponistin Olena Ilnytska entstand unerwartet. Zuerst war es eine virtuelle Bekanntschaft: Ich habe abends Aufnahmen ihrer Musik auf YouTube gehört und durch ihre Noten geblättert. Ihre musikalische Welt ist vielfältig gefühlvoll, philosophisch, gekonnt instrumentiert, verständlich und trotz der technischen Komplexität assoziationsreich – Chopin, Mahler, Bach, Ligeti, Xenakis, Terterian und Silvestrov sind nur manche der Komponist:innen, deren Einflüsse für Ilnytska hörbar wichtig sind. Wir treffen uns für dieses Interview in München.

VAN: In Ihrer Nocturne Nr. 1 für Klavier ist das hohe Register klanglich sehr präsent. Was gab Ihnen den Anstoß, dieses Stück zu komponieren?

Olena Ilnytska: Wenn Sie mit zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten sprechen und sagen, dass Ihr Werk von Chopin beeinflusst ist, werden sie Sie nicht verstehen. Man glaubt, dass Chopin zu klassisch ist, dass ein moderner Komponist nichts von ihm zu lernen hat. Ich glaube vielmehr, dass Chopin ein entfernter Vorläufer der Spektralmusik ist. Warum klingen Chopins Klaviertexturen so fantastisch? Weil Chopin mit Obertönen arbeitet. Natürlich hat er das, wie ich annehme, intuitiv getan, während die spektrale Komposition eine rational mit Obertönen arbeitet. Ich kann sagen, dass Chopin mich zu meinen Nocturnes für Klavier inspiriert hat.

In der Nocturne Nr. 2 verwende ich sogar ein Zitat aus seiner Nocturne op. 62 Nr. 1, nämlich den ersten Akkord. Ich versuche, in diesen Akkord einzudringen, als ob ich den Mikrokosmos durch ein Mikroskop betrachten würde, um die kleinsten Partikel unter der Vergrößerung zu sehen.

Ihre Sarabande für Violoncello solo führt einen Dialog mit Bach…

Ganz am Ende erklingt das Thema der Sarabande aus der Cellosuite in d-Moll. Meine Sarabande wurde 2009 speziell für ein Projekt mit Zoltán Almáshi geschrieben. Er hatte die Idee, ein Konzert zu veranstalten, bei dem er im ersten Satz Bachs Cellosuite Nr. 2 und im zweiten Satz eine ›zusammengesetzte‹ Suite aufführen würde, bei der jeder Satz von einem anderen Komponisten stammen sollte. Das Präludium stammt von Anna Leonova, die Bourrée von Sergei Pilyutikov und ich schrieb die Sarabande.

Wie sind Sie mit der Genre-Tradition dieser Sarabande umgegangen?

Für einen unvorbereiteten Hörer ist es wahrscheinlich völlig unklar, warum es sich um eine Sarabande handelt, aber das Werk weist alle Gattungsmerkmale dieses Tanzes auf. Dazu gehören die Größe, die rhythmische Formel und der alte zweiteilige Satz, auch wenn das Zitat am Ende des Stücks dies ein wenig zunichtemacht. Dazu kommen der Anfangsimpuls, wie in Bachs Sarabande in d-Moll, und das Zitat, mit dem das Stück endet. Es war mir auch wichtig, die Stimmung der Sarabande wiederzugeben – die Traurigkeit der mikrotonalen absteigenden Bewegungen, die ständigen Seufzer …

Das Tragische, im Tanz ausgedrückt?

Ich glaube nicht, dass meine Sarabande tragisch ist, sondern eher philosophisch.

Sie sind offensichtlich vom Instrument selbst fasziniert. Sie haben auch ein Cellokonzert geschrieben…

Ich bin Pianistin, aber ich habe eine besondere Schwäche für das Cello. Ich habe sogar Cellounterricht genommen, aber erst vor kurzem.

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Ihr Konzert hat mich durch seine Aktualität beeindruckt, obwohl Sie es schon 2010 komponiert haben.

Wahrscheinlich, weil das Thema der Konfrontation zwischen Gut und Böse immer aktuell ist. Das Thema von Gut und Böse war vor dem Krieg nicht das Thema meiner Arbeit; die Bildsprache meiner Stücke war nicht tragisch, ich wurde eher von einigen objektiven philosophischen oder kosmologischen Themen angezogen.

Für mich hat das Cello nicht nur einen tiefen Klang, es hat auch eine philosophische Tiefe. Mit meiner unvollständigen theologischen Ausbildung kann ich das spüren. Ich war drei Jahre lang bei den Dominikanern an der Thomas-Aquinas-Akademie in Kyiv. Ich habe Philosophie, Theologie und Metaphysik gründlich studiert, und diese Ausbildung hat meine musikalische Wahrnehmung beeinflusst. Das Cellokonzert ist ursprünglich aus einer rein musikalischen Idee heraus entstanden, aber während des Schreibens begann ich aus irgendeinem Grund, über ein platonisches Bild nachzudenken, nämlich die Lehre von der Seele aus dem Phaedrus-Dialog. In diesem Dialog wird die Seele mit einem Streitwagen verglichen, der von zwei Pferden gezogen wird. Natürlich ist in Platons Dialog alles viel komplizierter, dies ist nur ein Bild, aber es bestimmt die Stimmung meines Cellokonzerts.

Was die ursprüngliche musikalische Idee angeht, sollte der Cellopart ein Duduk nachahmen. Zu dieser Zeit interessierte ich mich sehr für die georgische Kultur. Ich studierte die georgische Sprache und tanzte im georgischen Ensemble Iberieli. Jede Woche hörte ich bei den Proben georgische Musik, und so konnte ich nicht umhin, als sie in einigen meiner Werke zu verwenden. In diesem Cellokonzert geht es nicht um den Krieg, obwohl ich den Angriff Russlands auf Georgien im Jahr 2008 sehr aufmerksam verfolgt habe. Übrigens sagte mein georgischer Lehrer im August 2008 zu mir: ›Was meinst du? Die Krim ist als nächstes dran.‹

Vor dem Krieg habe ich kosmologische Musik geschrieben. Seit meiner Kindheit war ich von der Astronomie fasziniert. Ich habe die Planeten und Sterne studiert und wusste eine Menge über sie. Meine Abschlusssymphonie ist ebenfalls kosmogonisch. Für mich ist die Musik die höchste und tiefste, vollkommene und vollständige Kunst. Alle anderen Künste haben gewisse Grenzen, die Musik ist jedoch grenzenlos. Gleichzeitig kann jeder Mensch die Musik aufgrund seiner Intelligenz, seiner Erfahrung, seiner Weltanschauung und seines Wissens wahrnehmen.

Ihr erstes großes Werk, Image Symphonique, beginnt, so beschreiben Sie es in einem Interview mit The Claquers, mit den ›Fluktuationen des physikalischen Vakuums‹, die sich am Ende zu einem ›singulären Punkt‹ verdichten. Was bedeutet dieser ›singuläre Punkt‹ in musikalischer Hinsicht?

Nach der Urknalltheorie ist eine kosmologische Singularität der Ausgangszustand von Materie und Energie, der durch unendliche Temperatur und unendliche Dichte gekennzeichnet ist. Um dies mit musikalischen Mitteln darzustellen, habe ich ein klanglich dichtes musikalisches Gewebe geschaffen, das sich durch Mikropolyphonie bewegt. Jetzt ist diese Theorie etwas veraltet, aber das Stück wurde vor fast 25 Jahren geschrieben und ich war von diesen Ideen beeindruckt.

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In Ihrer Choralsinfonie To Victory gibt es viele spezifische visuelle Assoziationen mit dem Krieg im ›hier und jetzt‹, Zitate aus den ukrainischen Liedern Komm raus, du Sonne und Plyve kacha kommen vor. Hängt das Stück mit dem Werk ukrainischer Komponisten:innen zusammen?

Als ich dieses Stück geschrieben habe, habe ich wirklich nicht über stilistische Einflüsse nachgedacht. Ich hatte ein klares Konzept, ein Programm. Diese Musik schien aus mir herauszukommen. Ich kann sagen, dass ich es ›unter Tränen‹ geschrieben habe. Was die stilistischen Einflüsse angeht: Ich höre an einigen Stellen Silvestrov, und manchmal, gegen Ende, höre ich Stankovych, aber das geschah nicht bewusst. Tatsächlich war ich bewusst mehr von Mahler inspiriert, und die Tatsache, dass man an einigen Stellen die Einflüsse anderer Komponisten hören kann, zeigt, meiner Meinung nach, dass wir Musik schreiben, die aus derselben Quelle schöpft.

Woran erinnern Sie sich aus Zeit der Entstehung der Sinfonie?

Als der Krieg ausbrach, war ich in Kyiv und wurde nach Frankreich evakuiert. Wir spielten viele Konzerte mit Musikerinnen und Musikern. Ich habe sie begleitet, aber ich konnte keine Musik schreiben. Dafür passten die Bedingungen nicht: Ich habe viel gespielt, aber ich konnte mich nicht auf das Komponieren konzentrieren. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich in einem Kokon befand, dass mein Gehirn unter dem Stress des Krieges zu einer Eichel geworden war.

Alla Zagaykevych half mir in dieser Zeit sehr. Ich lernte ihren Freund Gino Favotti kennen, der in Paris elektronische Musik unterrichtet. Er sorgte dafür, dass ich die Erlaubnis bekam, in einem Studio zu arbeiten. In diesem Studio schrieb ich ein elektronisches Stück, Univers vivant, das später in einem Konzert in Paris und dann in Kiew und Lviv aufgeführt wurde. Dadurch kehrte ich in mein kreatives Leben zurück und begann, über das Schreiben eines Kammermusikstücks namens Agnus Dei nachzudenken.

Im November 2022 trat der Dirigent Roman Revakovych unerwartet an mich heran und schlug mir vor, ein Stück für Vokalsextett und Sinfonieorchester für den Abschluss des Festivals Tage der ukrainischen Musik in Warschau zu schreiben. Er schlug auch vor, dass ich eines der ukrainischen Instrumente für das Orchester wählen sollte. Ich entschied mich für die Zimbeln. Ich war sehr aufgeregt, begann mit der Arbeit und wusste von Anfang an, dass mein zentrales Thema das Thema von Plyve Kacha sein würde. Für jeden Ukrainer ist die Semantik dieses Liedes klar, da braucht man nichts zu erklären.

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Ich habe alle unsere Revolutionen auf dem Maidan erlebt – live, nicht im Fernsehen. Ich weiß, wie es ist, zusammen zu sein, in einer Masse von Millionen von Menschen zu sein, in der Kälte oder im Regen, Tränengas einzuatmen. Für mich ist Plyve Kacha nicht nur ein Lied, nicht nur traurige Musik. Es ist ein großer Teil meines Lebens, des Lebens meines Volkes, ein Teil unserer gemeinsamen großen Tragödie. Bei den Proben und während der Aufführung konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten, auch wenn es sich nicht gehört, bei der Aufführung des eigenen Werks zu weinen.

Warum haben Sie auch das Lied Komm raus, du Sonne ausgewählt?

Seit dem Georgienkrieg war klar, dass uns dieses Schicksal nicht erspart bleiben würde. Zumindest für mich war der Angriff Russlands keine Überraschung. Aber ich konnte mir, wie die meisten Menschen, nicht vorstellen, dass der Feind so brutal sein würde. Natürlich wusste ich, dass die Russen zu so etwas fähig waren, denn ich hatte von meiner Großmutter aus erster Hand erfahren, was der NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der UdSSR, Anm. der Red.) beim Einmarsch in Galizien 1939 getan hatte. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein solches Grauen im 21. Jahrhundert in der Mitte Europas geschehen könnte.

Ausländer werden nicht verstehen, warum das Lied Komm raus, du Sonne in diesem Werk vorkommt, aber für Ukrainer, denke ich, ist das klar. Dieses Lied ist der Traum eines Kindes. Der Frühling, eine Entbindungsklinik, ein Theater, davor ein Schild mit der Aufschrift ›KINDER‹ und eine Bombe, die absichtlich dorthin geworfen wird. Das ist ein Bild der Tragödie von Mariupol. Vom Anfang bis zur Mitte des Werks zieht sich das Thema des Kindes, sein Dialog mit der Mutter, seine Bitte um ein Schlaflied und das Schlaflied selbst wie ein roter Faden durch. Es ist das Thema einer gestohlenen, zerstörten Kindheit.

Ich habe ein weiteres verzerrtes Zitat aus dem russischen Lied Kalinka My erkannt.

Eigentlich sollte dieses Thema nicht zu hören sein – es ist da, aber es wird durch mikropolyphone Mittel verschleiert. Leider ist es in der Aufnahme stärker zu hören als in der Live-Aufführung. Nur der Rhythmus dieses frivolen, banalen Liedes hätte deutlicher zu hören sein müssen. So wollte ich meine Wut auf die Moskauer verewigen. Wenn Sie die Partitur im Detail analysieren, werden Sie weitere Zitate finden, darunter auch Gesänge aus unserer Nationalhymne. Ich habe versucht, eine Partitur zu schaffen, die so viele verschiedene Bedeutungen wie möglich enthält, so wie auch das musikalische Gewebe in der Barockmusik, insbesondere bei Bach, von rhetorischen Figuren durchdrungen ist. Ich möchte, dass die Bedeutung dieses Werks im Laufe der Zeit erhalten bleibt. Es geht nicht nur um irgendeinen Krieg, nicht nur um Gut und Böse, es geht um den Krieg der Ukraine gegen die russischen Invasoren. Alle musikalischen Mittel sprechen das direkt an.

Viele ukrainische Komponistinnen und Komponisten haben Musik über diesen Krieg geschrieben. Musik von Schlachten, Sirenen, Tod, Gebet, Trauer und Tränen. Gegen Ende von To Victory bricht in jedem Klang, in jedem Instrument das Licht durch.

Krieg bedeutet Verluste, Leid, und natürlich kann man weinen – das sollte man auch. Weinen hilft manchmal, den schmerzhaften Gemütszustand zu lindern. Aber Weinen wird nicht helfen, den Feind zu besiegen. Das Ziel unseres Kampfes ist nicht das Leiden, sondern der Sieg und ein glückliches Leben in unserem Land.

Es gibt Künstler, die ihre Werke auf der Grundlage dessen schaffen, was sie im Leben sehen und beobachten. Ihre Werke spiegeln die Welt um sie herum wider, manchmal auch ihre schlimmsten Seiten. Ich habe eine andere Vision. Ich glaube, dass das, was ich schaffe, das ist, wie die Welt sein wird. Deshalb beende ich meine Werke nie tragisch. Das ist wahrscheinlich eine Manifestation eines rudimentären magischen Denkens in mir. Ich schreibe Musik über die Welt, von der ich möchte, dass sie existiert, in der ich leben möchte. Ich hoffe, dieses Stück ist mein Beitrag zum Sieg.

Zu Ihren letzten Werken, die Sie während des Krieges geschrieben haben, gehört Agnus Dei. Dieses Werk ist aber nicht für die Liturgie bestimmt, oder?

Nein, natürlich nicht. Dieses katholische Gebet, ein Teil der Messe, ist sehr kurz. Es besteht nur aus ein paar Worten, aber es hat eine sehr tiefe Bedeutung. Jedes Wort ist deshalb sehr wichtig. In meiner Arbeit versuche ich, verschiedene Bedeutungen in dem Text zu finden und mit ihnen zu arbeiten. Die Idee für das Werk entstand im Sommer 2022, aber ich schrieb es ein Jahr später. Im gesamten Stück ist die erste Phrase, die sich über einen Ton erstreckt, dreimal ein Refrain. Es ist wie der Zustand der Betäubung, den viele von uns während des Krieges erleben. Es ist das, was die Leute meinen, wenn sie sagen, ›Ich halte durch‹. Egal wie schlecht es uns geht, halten wir durch, aber irgendwann, oft in einem Moment der Einsamkeit, bricht das Leiden heraus. Es gibt auch sehr emotionale Momente in dem Werk, die mit den Worten ›peccata Mundi‹, Sünden der Welt, zu tun haben. Am Anfang ist es wie eine Angst, das Böse zu benennen, und später ist es ein heftiger Widerstand gegen das Böse und dann sogar eine Banalisierung des Bösen.

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Sehr oft werden heilige Texte als etwas wahrgenommen, das zur Unterwerfung, Demut und Gelassenheit ermutigt – als etwas, dass das Gegenteil von Kampf ist. Aber wahrhaft christliche Demut besteht nicht darin, ›demütig‹ zu weinen und zu warten, sondern zu gehen und zu tun, was getan werden muss. Auch der emotionale Dialog mit Gott ist kein Widerspruch zum Christentum. Im Agnus Dei geht es um Opfer, aber nicht um die Art von Opfer, die weinen, leiden und nicht verstehen, warum; sondern um freiwillige Opfer für die Menschheit. Wir alle verstehen, dass dieser Krieg nicht nur unser Krieg ist, sondern ein zivilisatorischer Krieg, und es ist nicht die Schuld der Ukraine. Die ganze Welt ist dafür verantwortlich. Das ist es, was ich in diesem Stück sagen wollte. Der Schluss des Stücks ist optimistisch. ›Dona nobis pacem‹. Wir alle sehnen uns nach Frieden und wir glauben, dass er kommen wird. ¶

… ist Musikwissenschaftlerin und Musikkritikerin. Sie studierte Musikwissenschaft, Musikpädagogik, Philosophie, Theologie und Klavier an der Hochschule für Musik Lwiw und promovierte und habilitierte an der Nationalen Peter-Tschajkowskij-Musikakademie der Ukraine der im Fach Musikwissenschaft. Aktuell arbeitet sie als Professorin für Historische Musikwissenschaft an der Nationalen Musikakademie Lwiw und an der Ukrainischen Freien Universität München. Zudem lehrt sie an der LMU und an der Hochschule...