Der Tripel-Allianz-Krieg (Guerra de la Triple Alianza) dauerte von 1865 bis 1870. Paraguay kämpfte gegen den Staatenbund Argentinien-Brasilien-Uruguay. Der damals in Europa fast völlig ignorierte Krieg endete mit einer kompletten Niederlage Paraguays. Auf der Seite des Kriegsverlierers beklagte man den Verlust von 300.000 Menschenleben (auf Gegnerseite 125.000) – es war der tödlichste Krieg der lateinamerikanischen Geschichte. Trotz dieses Krieges erlebte das beteiligte Brasilien in den Folgejahren einen wirtschaftlichen Aufschwung, besaß das Land doch das Monopol auf Kautschuk, einem beliebten Produkt dieser Zeit. Das Monopol spülte aufgrund hoher Exportzahlen beträchtliche Summen in die brasilianische Staatskasse.

In diese Zeiten des Krieges und der Neuorientierung Brasiliens hinein wurde am 23. Februar 1867 – in Rio Grande do Sul, ganz im Südosten des Landes gelegen – Amy Horrocks geboren. Autorin Silke Wenzel bemerkt in ihrem Artikel, dass über Horrocks’ Herkunft und ihre gesamte musikalische Frühausbildung nicht viel bekannt sei. An dieser Stelle wurde allerdings schon eine andere brasilianische Komponistin porträtiert: Chiquinha Gonzaga, die exakt zwanzig Jahre früher als Horrocks (deren Name eben ganz und gar nicht »brasilianisch« tönt) zur Welt kam. Gonzaga war Tochter eines hohen Militärs, der später gar zum Ministerpräsidenten emporstieg. Einen ähnlich elitären elterlichen Hintergrund wird es sehr wahrscheinlich auch bei Amy Horrocks gegeben haben. Die Namen von Mutter Hannah Horrocks (geborene Allen, 1833–1913) und Vater Francis James Horrocks (1829–1913) tauchen jedoch immer nur im Kontext von Erwähnungen ihrer Tochter Amy auf. Hannah und Francis Horrocks stammten, so viel steht fest, aus England. Bei starben innerhalb von nur fünf Tagen an einer verheerenden Influenza-Erkrankung: Mutter Hannah am 22. April, Vater Francis am 27. April 1913.

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Amy Horrocks wandelte bald auf den Spuren ihrer englischen Vorfahren: Von 1882 bis wohl 1890 studierte sie Klavier und Komposition an der Royal Academy of London. Während des Studiums fiel sie als besonderes Talent auf und heimste mehrere Preise ein. Weitere Preise und Auszeichnungen folgten bis 1895 – und so wurde Horrocks bald eine der typischen Pianistinnen ihrer Zeit, die es sich leisten konnten, mehr und mehr Eigenkompositionen auf die Programmzettel eigener Recitals zu setzen. Ihr Klavierquartett op. 11 aus dem Jahr 1889 erregte bei der »Musical Times« wohlwollendes Aufsehen: »Das Programm schloss auch […] einige sehr interessante Variationen über ein Thema in F-Dur für Klavier, Violine, Viola und Violoncello mit ein, ein Werk von Amy Horrocks. Das Wissen um die Möglichkeiten der verschiedenen Instrumente und die Art und Weise, wie sie eingesetzt werden, stellen der Komponistin ein überaus günstiges Zeugnis aus, was Geschmack und Musikalität betrifft.« Entsprechend erfolgreich ging es mit der Laufbahn Horrocks weiter. Als Pianistin war sie dabei stets im romantischen Repertoire – mit Chopin, Brahms und so weiter im Gepäck – zu Hause.

Möglicherweise heiratete Horrocks 1903 einen griechischen Geschäftsmann und zog mit diesem nach Frankreich, wo zwei gemeinsame Kinder geboren worden sein sollen. Andere Quellen sprechen dafür, dass Horrocks als Musiklehrerin und Komponistin die meiste Zeit in London lebte. Laut ein paar im Netz gesammelten Zitaten geriet Horrocks womöglich in eine Schaffenskrise – und notierte: »Ich hoffe, niemand meiner Kinder wird Musik als seine Profession wählen (…). Deren Mama sollte ihnen eine Warnung sein. Abgesehen von Primadonnen, Wunderkindern und einigen wenigen momentan angesagten Komponisten, wird kaum jemand schlechter bezahlt als wir Komponistinnen und Komponisten; und kaum ein Beruf geht dabei mehr auf Kosten der Gesundheit.«

Auch über das Jahr ihres Ablebens gibt es keine ganz genauen Angaben. Amy Horrocks starb entweder 1919 oder 1920, demnach wäre sie nur 52 beziehungsweise 53 Jahre alt geworden.


Amy Horrocks (1867–1919)
The Bird and the Rose (1894)

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Amy Horrocks komponierte beispielsweise The Lady of Shalott für Sprecher und Klaviertrio (1899) – ein Werk, das damals sogar bei Boosey erschien. Neben drei Kantaten und äußerst vielen Liedern entstanden offenbar ein programmatisches Orchesterwerk (Undine, 1894) sowie acht Kammermusik- und vier Klavierwerke.

Eines ihrer vielen Lieder stammt wahrscheinlich aus dem Jahr 1894: The Bird and the Rose (hier die Noten). Der Dichter des zugrundeliegenden Textes, Robert Hichens (1864–1950), beschreibt lukullisch-symbolisch eine Rose: einst im Wüstenland blühend und (natürlich) vor Einsamkeit seufzend. Ein Vogel kommt des Weges geflogen und fragt nach dem Leid der Rose. Der Vogel nimmt die Rose mit auf seine Reise – doch nach dem Flug ist die Rose verblüht. Die Botschaft ist klar: Manchmal möge die reine Anschauung ausreichen, die »Realisierung« diverser (amouröser) Vorhaben tut nicht immer gut.

In einem gemütlich-erzählerischen Andante geht es in dem Lied häufig von Harmonie zu Harmonie, mit ein paar wenigen verbindenden Linien, ganz im Stile lieblicher Volkskunstlieder des 19. Jahrhunderts, die auch – nur mit biblischem Text – Eingang in diverse Gesangbücher (frei)kirchlicher Gruppierungen (vornehmlich in den USA und in Kanada) fanden. Dezente Chromatik ist hier in den Mittelstimmen am Werke und der Text erscheint fast immer Silbe für Silbe auf jeweils einem eigenen Notenwert. Erst als die direkte Rede des fragenden Vogels Einzug hält, kommt in die Musik mehr Bewegung hinein, sanft den Text ausdeutend. Synkopierte Akkorde vibrieren in der wohligen Mitte des Klaviers. Und am Ende dieses schönen Liedes steht ein vorhaltsfreudiger Schluss voller Heimeligkeit. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.