Nora Schmid hat turbulente Tage hinter sich: Vor drei Tagen hat sie in Graz das Programm der kommenden Spielzeit präsentiert, eine Woche zuvor wurde sie in Dresden als neue Intendantin der Sächsischen Staatsoper ab 2024 vorgestellt. Dem ging eine überraschende kulturpolitische Entscheidung voraus: Die sächsische Kulturministerin Barbara Klepsch (CDU) hatte Anfang Mai angekündigt, sowohl den Vertrag von Noch-Intendant Peter Theiler als auch den vom Chefdirigenten der Sächsischen Staatskapelle, Christian Thielemann, im Sommer 2024 auslaufen zu lassen. In Dresden war Schmid, die 1978 in Bern geboren wurde, bereits von 2011 bis 2015 an tätig, zunächst als Chefdramaturgin, dann als persönliche Referentin der damaligen Intendantin Ulrike Hessler. Nach deren Tod im Juli 2012 gehörte Schmid interimistisch zum Leitungsteam der Semperoper, bis sie 2015 nach Graz ging. Hartmut Welscher hat sie per Videotelefonie in ihrem dortigen Intendantinnenbüro erreicht.

Was war in den letzten zehn Tagen die Reaktion, die Sie am meisten gefreut hat?

Ich habe an den Reaktionen der Kolleginnen und Kollegen hier in Graz gemerkt, dass sich viele mit mir freuen. Vor der Pressekonferenz stelle ich das neue Spielzeitprogramm immer allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor, gemeinsam mit dem Künstlerischen Leitungsteam. Nach diesem komplizierten Jahr mit vielen Rückschlägen für uns alle gab es ein gemeinsames Gefühl des Aufbruchs, eine positive Grundstimmung, die mich unglaublich gefreut und motiviert hat.

Und welche Reaktion hat Sie am meisten geärgert?

Da gab es glaube ich keine, ich habe gerade einen guten Fluss. [lacht]

Auch nicht das, was in der aktuellen Ausgabe der Zeit steht? Dort heißt es unter Berufung auf ›informierte Kreise‹, dass Sie in Graz ›in erster Linie geräuschlos gewirkt und wenig riskiert‹ hätten.

Über sowas ärgere ich mich nicht, weil es ein Kommentar von Journalist:innen ist, die gar nie hier waren. ›Geräuschlos‹ stimmt ja nur insofern, als dass wir kein Haus sind, das Konflikte nach außen trägt. Wir haben immer wieder sehr viel Aufmerksamkeit bekommen für unsere Programme, gerade wenn wir abseits der Repertoirepfade unterwegs waren. 

›Geräuschlos‹ scheint hier despektierlich gemeint. Warum eigentlich?

Für mich heißt geräuschlos eher, dass man sich selber nicht immer in den Mittelpunkt stellt. Ich verstehe mich als Impulsgeberin, als Ermöglicherin, als im Hintergrund Wirkende, damit die Bedingungen hier am Haus gut sind, damit sich die Künstlerinnen und Künstler entfalten können, damit wir gemeinsam etwas wagen. Das, was laut ist, ist ja nicht unbedingt immer das, was gut ist.

Ist das die Schuld der Medien, dass sie den Lauten, den Intendanten-und-Dirigenten-Alphamännern, die ihre Konflikte auch öffentlich austragen, zu viel Aufmerksamkeit schenken?

Es liegt in dem Fall auch ein bisschen an der geographischen Lage. Graz ist vielleicht nicht im Fokus gewisser Journalisten des Feuilletons in Deutschland, weil wir im Süden Österreichs einfach etwas im Abseits sind. Aber es gab ja immer auch Journalisten, die betont haben, dass das spannendste Musiktheater Österreichs in Graz stattfindet. 

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In der Diskussion um die Nichtverlängerung von Christian Thielemann wurden viele heroische Bilder wie Genie, Titan oder ›der unverstandene Held‹ in Stellung gebracht. Sind diese Bilder noch zeitgemäß?

Es gibt natürlich Künstler und Künstlerinnen, die außergewöhnlich sind. Die Frage ist aber immer, ob man mit diesen Bildern nicht von dem Eigentlichen ablenkt und Ersatzbewertungskriterien schafft, die einfach etwas behaupten. Der Geniebegriff kann auch eine Ausrede sein, um sich in gewissen Belangen gar nicht richtig anzustrengen. Ich mag so knappe Verkürzungen nicht. Vieles ist im Moment im Umbruch. Ich glaube, dass die Institutionen am besten durch die Krise gekommen sind, in denen es gleich zu Beginn ein geteiltes Bewusstsein dafür gab, dass man nur gemeinsam über die Ziellinie kommt. 

Sie leiten in Graz das zweitgrößte Opernhaus Österreichs, können dort ein offenes und vielfältiges Programm gestalten, sind unumstritten. In Dresden gibt es dagegen andauernd Querelen, den starken Wunsch nach Repräsentation und Traditionspflege und in Teilen des Dresdner Bürgertums das Abfeiern von allem ›Anti-Zeitgeistigem‹. Gleichzeitig findet die Semperoper mit ihren Inszenierungen seit Jahren kaum große Beachtung. Warum tun Sie sich das an?

Ich glaube, Dresden steht für ganz vieles. Da wird vieles zu eindimensional dargestellt. Aus meiner Zeit als Chefdramaturgin an der Semperoper kenne ich den Ort, kenne das künstlerische Potential dieses Hauses, habe einen Bezug zu der Stadt. Die Tradition ist ja nicht nur eine Last, sondern auch ein großer Schatz. Ich werde sie sicher pflegen, aber eben auch auf eine vielleicht unerwartete Art reflektieren und weiterentwickeln. Ich habe in meiner Zeit damals in Dresden gemerkt, dass es auch dafür eine Bereitschaft und Offenheit gibt. Die Tradition gibt es ja überhaupt nur deshalb, weil man an diesem Ort früher viel Neues gewagt und sich darauf eingelassen hat.

Der Intendant der Oper Frankfurt, Bernd Loebe, hat einmal gesagt, er programmiere nur das, was ihn persönlich interessiert. Er liege nicht nachts im Bett und denke darüber nach, was das Publikum will oder wie die Stadtgesellschaft tickt. Denken Sie über so etwas nach, oder machen Sie in Dresden dasselbe Programm wie in Graz?

Ich sehe das ganz anders, für mich ist die Stadt und der Ort wichtig, auch die Geschichte eines Opernhauses, die Rezeptionsgeschichte. Ich würde nicht einfach meine Lieblingsopern überallhin mit hinnehmen, wo ich tätig bin. Ich entscheide mich sehr bewusst für einen Ort. Darin liegt auch viel Inspiration. Ich glaube, ein Opernhaus kann dann überregional strahlen, wenn es eine Identität hat, die vor Ort verankert ist. Wir haben hier in Graz sehr bewusst Stücke programmiert, die eine Anbindung an die Stadt haben, über Komponisten oder über Themen. Natürlich gibt es Meisterwerke, bei denen man sagen kann, dass sie komplett unabhängig von Ort und Zeit sind, aber viele Stücke sind es nicht. 

Sie bieten seit 2015 in Graz Aufführungen mit Live-Audiodeskription für Menschen mit Sehbehinderung an. Wie relevant ist das Thema Diversität für Sie?

Ich finde es sehr wichtig, mich damit zu beschäftigen, wie wir zum Beispiel Menschen mit Behinderungen einen Besuch der Oper erleichtern können. Wir sind nach wie vor das einzige Opernhaus in Österreich, das solch ein Angebot für Menschen mit Sehbehinderung macht. Das beinhaltet nicht nur die Audiodeskription. Die Besucherinnen und Besucher können schon nachmittags ins Opernhaus kommen und auf einer Art Parcours hinter der Bühne Elemente vom Bühnenbild, Kostüme und Requisiten haptisch entdecken. Wir gehen außerdem gemeinsam auf die Bühne, um ein Gefühl für den Raum zu kriegen. Ich bin selber immer dabei, da kommt es zu sehr schönen Gesprächen. Viele Menschen haben mir erzählt, dass sie durch unser Angebot Oper noch einmal ganz anders wahrnehmen konnten. Ich werde nie eine Dame vergessen, die mitten auf der Bühne vorne an der Rampe stand, hingewendet zum Zuschauerraum, Tränen in den Augen hatte, und sagte: ›Ich hätte in meinem Leben nie gedacht, dass ich nochmal so was Schönes sehen werde.‹ Das sind Momente, die mir zeigen: Es ist wichtig, dass wir das machen.

Vonseiten der Kulturpolitik war jetzt in Dresden von einem ominösen Masterplan ›Perspektive Semper 2030‹ die Rede. Was genau damit gemeint ist, blieb aber unklar. Ihr Vertrag in Dresden läuft zunächst bis 2030. Wie würden Sie denn dann rückblickend Erfolg messen?

Die Semperoper hat eine unglaubliche Geschichte, sie ist wunderschön in ihren Proportionen, sie gehört zur DNA von Dresden und Sachsen. Aber es gibt ganz viele Menschen, die jeden Tag an der Semperoper vorbeigehen, ohne ihr wirklich je nahe zu kommen. Da möchte ich anknüpfen. Ich wünsche mir, dass das Haus etwas nahbarer wird für viele. Das kann über bestimmte Themen entstehen, über die Ansprache, die Inhalte… Mein Wunsch wäre, dass viel mehr Leute sagen: Es reicht nicht, dass ich sie von außen bestaune und dass sie zu Dresden dazugehört, ich muss jetzt auch wirklich wissen, was da drinnen passiert, weil es etwas mit mir zu tun hat. 

Welche Art von Generalmusikdirektorin oder Generalmusikdirektor würden Sie sich denn wünschen?

Natürlich eine künstlerisch herausragende, die ganz bewusst ihren Hauptfokus nach Dresden verlegt. Selbstverständlich kann man als Gast noch hier und da aktiv sein, aber ich würde mir nicht jemanden wünschen, der parallel mehrere Positionen hat. Für mich ist klar: Wenn man Chefdirigentin oder Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle ist, dann ist das was ganz Exklusives. Außerdem würde ich mir jemanden wünschen, der im Konzert und im Musiktheater gleichermaßen interessiert und profiliert ist. 

Seit Jahren werden immer wieder neue Fälle von Machtmissbrauch an Theatern und Opernhäusern öffentlich. Was sind die Gründe? Sind die Strukturen schuld?

Ich tue mich da schwer mit Verallgemeinerungen. Viele Strukturen sind nicht von Grund auf falsch oder laden zum Missbrauch ein. Die Frage ist immer, wie eine handelnde Person mit der ihr anvertrauten Verantwortung umgeht. Das allerwichtigste ist eine offene, angstfreie, respektvolle, soweit wie möglich transparente Kommunikation. Dazu gehört auch die Frage, wie ich Kritik äußern kann, ohne dass sich jemand persönlich angegriffen fühlt, und auf eine Art und Weise, dass jemand daraus wachsen kann. Ich glaube nicht daran, dass jemand besser wird wenn man sie oder ihn klein macht. Es ist viel Arbeit und Energie, so eine Art der Kommunikation an einem Haus zu etablieren, aber es ist eine der großen Grundvoraussetzungen. Es ist wichtig, dass ich als Intendantin oder Intendant nicht immer nur sende, sondern auch gut zuhören kann und das Bewusstsein habe, dass man gemeinsam viel mehr schafft als alleine. Es gibt keine größere Teamarbeit als die Oper, einer allein kriegt da gar nichts zustande. Die Zeiten, in denen man etwas nur qua Position durchdrückt oder erzwingt, sind vorbei.

Ist es ein Vorteil, keine inszenierende Intendantin zu sein?

Ich denke schon. Da kommt man nicht in den Interessenskonflikt, für die eigene Produktion immer das Maximum herauszupressen, vielleicht auf Kosten von etwas Anderem. Dadurch, dass ich aus der Dramaturgie komme, steht bei mir das Vermitteln im Fokus – in die Belegschaft, ins Haus, ins Publikum. Das ist das, was meine Arbeit ausmacht. Ich glaube, dass das für ein Haus ab einer bestimmten Größenordnung ein Vorteil ist.

Das Kulturleben fährt langsam wieder hoch. Geht es jetzt einfach darum, den Lichtschalter wieder anzuknipsen, oder muss und wird es anders weitergehen?

Ich glaube, es geht gar nicht, zu sagen: ›Wir gehen zurück zu allem, wie es vorher war und tun so, als wäre nichts gewesen.‹ Die Zeit war viel zu prägend für uns alle. Was uns die Krise vor Augen geführt hat, ist vielleicht, wie kostbar das ist, was wir tun: das große Gemeinschaftserlebnis im Musiktheater, das Live Erlebnis, das In-den-Dialog-Treten mit dem Publikum. 

Einige Sänger:innen, insbesondere in Österreich, haben sich in den letzten Monaten sehr darüber echauffiert, dass sie aus ihrer Sicht von Politik und Publikum nicht für relevant genug gehalten werden. War die Krise da vielleicht ganz heilsam, hat einige von ihrem hohen Ross heruntergeholt?

Vielleicht war es auch für diese Künstler heftig: mit 180 auf der Autobahn, heute da, morgen dort – und dann in diese Vollbremsung zu gehen. Ich habe mich in der ganzen Krise immer dagegen verwehrt, die eine Branche gegen die andere auszuspielen. Es war einfach von heute auf morgen die Welt eine andere, da brauchte es Solidarität. Trotzdem hat die Krise gewisse Ungleichgewichte aufgezeigt, feste Ensembles an mittleren und größeren Häusern vielleicht wieder attraktiver gemacht. Möglicherweise gibt es auch eine Entschleunigung, ohne dass das mit einer Qualitätseinbuße einhergeht. Aber wenn jeder einfach schreit: ›Nur ich komme zu kurz‹, dann ist der Blickwinkel zu eng. Wir sind in Graz gut durch die Krise gekommen, weil wir von Anfang an immer wieder mit den Betriebsräten an einem Tisch saßen, die Situation analysiert und die Entscheidungen gemeinsam getragen haben. Wir können nur dann reüssieren, wenn uns klar ist, dass es ein Miteinander ist, sonst verpuffen die Energien, die wir für das Eigentliche brauchen, in die komplett falsche Richtung. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com