Das KharkivMusicFest läutet eigentlich traditionell den Frühling in Charkiw und der gesamten Ukraine ein, mit Konzerten, Vorträgen, Performances und Vermittlungsformaten. Im letzten Jahr fand es wegen der russischen Invasion nicht im eigentlichen Sinne statt, stattdessen organisierten wir das symbolträchtige »Konzert zwischen den Explosionen« am 26. März 2022 in einer Charkiwer U-Bahn-Station. So ließen wir die ganze Welt wissen, dass Charkiw lebt und sich verteidigt.

Für mich als Programmdirektorin des Festivals war es darum keine Frage, ob wir das Festival in diesem Jahr machen oder nicht. Und so war es auch für das gesamte Team. Heraus kam ein fast 70-tägiger Marathon mit verschiedensten Veranstaltungen, der mich an eine Merezhka (eine traditionelle ukrainische Hohlsaumtechnik zur Verzierung von Stoffen, bei der Gewebefäden aus dem Stoff herausgelöst und die verbliebenen vernäht und mit weiteren gestalterischen Stickelementen kombiniert werden, sodass kunstvolle Ornamente entstehen) erinnerte.

Charkiw ist gerade dabei, sich von den russischen Angriffen zu erholen. Kultur und Kunst werden wiederbelebt, die Geschichte wird neu interpretiert. In Charkiw gibt es zum Beispiel ein bekanntes Gebäude, Derzhprom: groß, aus Eisen, Beton und Glas, im Stil des Konstruktivismus – ein international bekanntes Symbol der Sowjetzeit. Den Zweiten Weltkriegs überlebte Derzhprom gerade dank der (damals) innovativen Bauweise. Während des Krieges schuf Patrick Cassanelli jetzt mit Blick auf Derzhprom das Meme »Kharkiv is reinforced concrete« (was soviel heißen kann wie Charkiw ist Stahlbeton«, aber auch »Charkiw ist wirklich wehrhaft«). Es geht also nicht nur um das Gebäude, sondern um unsere Beständigkeit, unsere Stärke, unseren Willen, unsere Gelassenheit. 

Foto © Oleksandr Osipov

Der Schwerpunkt des Festivals lag natürlich auf Musik von ukrainischen Künstler:innen, in Kombination mit Klassikern. So wurden im Eröffnungskonzert zum Beispiel vier Konzerte gespielt, die sich den vier Jahreszeiten widmen: die berühmten Werke von Antonio Vivaldi und Astor Piazzolla und zwei Uraufführungen mit Musik von Oleksandr Gonobolin (einem Künstler aus Cherson, der derzeit evakuiert wird) und dem jungen Komponisten Zoltan Almashi. In diesen Stücken geht es nicht nur um Natur, sondern auch die menschliche Existenz: Der Frühling kann für den Beginn des Lebens stehen, der Sommer für die Blüte, der Herbst für die Reife und der Winter für den Höhepunkt und das Vergehen. Die ukrainische Geigerin Bohdana Pivnenko übernahm den Solo-Part. Sie ist gebürtige Charkiwerin und hat alle bestehende Pläne über den Haufen geworfen, als ich ihr anbot, ein Festival in Charkiw zu eröffnen. Aus Sicherheitsgründen können wir in Charkiw aktuell keine Großveranstaltungen durchführen, aber zum Eröffnungskonzert versammelte sich eine große Fangemeinschaft. 

Außerdem habe ich das Projekt Musik des Widerstands und der Hoffnung entwickelt. Seine Wurzeln hat es im November 2022 in einem Luftschutzkeller, wo Musik junger ukrainischer Komponist:innen aufgeführt wurde. Ich erinnere mich, wie das Publikum damals mit angehaltenem Atem lauschte. Natürlich leisten die ukrainischen Künstler:innen nicht erst seit einem Jahr Widerstand. Der lebt schon so lange wie auch unsere Hoffnung. Drei Konzerte gab es in diesem Kontext auf dem Festival: eines mit Musik für Violine und Klavier, von Charkiwer Künstler:innen aus verschiedenen Epochen, eines mit Kompositionen junger Charkiwer Komponist:innen der Jahre 2022 und 2023 und eines mit Klavierkompositionen der Charkiwer Komponisten Valentyn Bibik, Volodymyr Ptushkin und Oleksandr Shchetynsky. Die Komponistinnen und Komponisten dieser Reihe haben auf denselben Straßen gelebt, die auch wir jeden Tag gehen, auch sie haben Krieg erlebt, Angst vor Explosionen, haben geliebte Menschen verloren und waren gezwungen, ihre Stadt wegen Bombardierungen zu verlassen. Deshalb hat diese Musik so viel mit unserer Gegenwart zu tun.

Beim Konzert Inside the war stand ebenfalls Musik, die 2022 komponiert wurde, auf dem Programm: Die Gewinner:innen der vergangenen Jahrgänge des Lyatoshynsky Wettbewerbs für junge Komponist:innen wurden gebeten, ein Kammermusikstück zum Gefühl des Krieges zu schreiben. Überraschenderweise waren diese Stücke nicht nur geprägt von Spannung und Dramatik, sondern auch von Licht und Optimismus, Ironie und ungewohnten Blickwinkeln. Nach der Charkiwer Premiere wird das Programm Inside the war nicht nur in der Ukraine, sondern auch beim belgischen Walden Festival in Brüssel beim Usedomer Musikfestival zu hören sein.

Foto © Festivalarchiv

Im Rahmen des ArtPiano-Projekts wurden Klaviere im öffentlichen Raum aufgestellt, eines zum Beispiel auf dem Gelände eines Kinderkrankenhauses. Eine Psychologin, mit der wir im Krankenhaus an kunsttherapeutischen Projekten arbeiten, berichtete: »Jeden Tag ›improvisieren‹ kleine Patient:innen, deren körperliche Verfassung es erlaubt, auf dem ArtPiano. Manchmal bilden sich dort Duos oder Trios, es spielen sogar ganze Familien! Es ist ein Traum!«

Bei den Charkiwer Kunsttherapietagen für Kinder im Alter von 6 bis 96 Jahren konnten alle Besucher:innen, genau wie die Organisator:innen, ihr inneres Kind und die eigenen Emotionen erforschen, Trommeln bauen und spielen, Comics zeichnen oder ein Theaterstück mit dem Titel Hab keine Angst, Angst zu haben erarbeiten. Die Aufführung basierte zum Beispiel auf Liedern, die wir mit den Kindern in der Kunsttherapie über ihre Ängste geschrieben haben und die dann von jungen Komponist:innen professionell arrangiert und einem kleinen Orchester interpretiert wurden, zum Puppenspiel der Teilnehmenden. Die Kunsttherapietage in Charkiw wurden zu einer Art verrücktem Marathon, einer überraschenden Vielstimmigkeit, bei der gesungen, gespielt, gezeichnet und in verschiedensten Formen kreiert wurde. Dieses Projekt wird auch über das Festival hinaus weitergeführt.

Foto © Festivalarchiv

Leben und Tod sind in unserer Gegenwart eng miteinander verwoben. Wenige Tage vor dem Beginn der Proben für die kunsttherapeutische Aufführung starb der Bruder des Regisseurs – ein junger, talentierter Mensch, Schauspieler, Lehrer und Musiker. Und kurz vor dem Festival starb plötzlich unser Klavierstimmer, der in diesem schrecklichen Jahr alle Instrumente in der Stadt in mehr oder weniger gutem Zustand gehalten hat, trotz der Angriffe, der schlechten Lagerung der Instrumente in Bunkern und Kellern, an einem Herzinfarkt. Ein junger, zupackender Mensch. Sie beide zählen jetzt zu denen, die dem Krieg zum Opfer gefallen sind. 

In der aktuellen Situation ist jedes Konzert in der Ukraine mehr als ein Konzert. Egal, wo es stattfindet – in einem Luftschutzkeller, einem Krankenhaus, einer Schule, einem Freiwilligenzentrum – es ist immer auch eine Art Stärkung. Man fühlt die Schultern der Person neben einem, oft auch den Händedruck. Man fühlt Wärme. Man entdeckt die Menschen, die einen alltäglich umgeben, neu, als wichtige Ressource. Eine Person im Publikum, einen Pianisten, ein Kind, eine Klavierstimmerin, einen Kollegen, eine Passantin, die einem auf der Straße sagt: »Ihre Konzerte geben uns die Kraft, weiterzuleben.« ¶

Julia Nikolaevskaya ist Professorin am Institut für Musikanalyse an der Nationalen Universität der Künste I.P. Kotljarewski in Charkiw.