Der Auftritt beginnt mit einem Aufschrei. Oder ist es ein Knall gefolgt vom Heulen des Windes? In der nächsten halben Stunde faucht, pfeift, keift, meckert, schreit, kräht, flirrt, klappert, säuselt, brummt, summt, singt und zwitschert es in den unterschiedlichsten Facetten auf der Bühne. Alle diese Klänge entlockt Dora Donata Sammer ihrem Instrumentarium, das von einer Renaissance-Sopran- zu einer elektronisch verstärkten Kontrabassblockflöte im Kastenformat reicht. So unterschiedlich wie die einzelnen Instrumente sind die Stücke, die die in Wien lebende Blockflötistin im Gepäck hat: Zwischen Giorgio Teddes Austro und Luciano Berios Gesti erklingt die Partita in A von Johann Sebastian Bach; mit dem ältesten Stück Engels Nachtegaeltje aus dem Fluyten Lusthof von Jakob von Eyck endet die Reise, die die Hörer zuvor noch mit Fausto Romitellis Seascape klanglich in maritime Gegenden mitgenommen hat. Am Ende fragt man sich, ob man gerade wirklich immer nur eine Blockflöte hat spielen hören. Dora Donata Sammer, die in Salzburg in den letzten Zügen ihres Masterstudiums bei Dorothee Oberlinger steckt und parallel an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien einen Klavierbachelor macht, erweckt dabei den Anschein, als sei das Ganze für sie die leichteste Übung der Welt. 

Wir sind im Café in Berlin-Friedrichshain verabredet, Dora Sammer ist dort, »um zu arbeiten«. Es ist laut, zu laut für ein Gespräch, aber sie ist bereits vorbereitet: »Sowas hab ich mir schon gedacht und deshalb gefragt, ob es einen ruhigeren Ort zum Zurückziehen gibt.« Wir dürfen in den Whiskey Room und nehmen in einer lederbezogenen Chesterfield-Sitzgruppe Platz.

VAN: Woran arbeitest du gerade?

Dora Donata Sammer: Eigentlich ist das hier gerade ein bisschen mein Kurzurlaub, weil ich nach dem Wettbewerb gleich nach Salzburg musste, und dann war so viel los mit Studienkonzerten und meiner Masterarbeit: Ich habe eine CD aufgenommen mit dem Titel ex tempore. Es geht um frühe und ganz neue Musik, die ich kombiniere, drei Komponisten aus Italien. Es ist sozusagen eine geografische und zeitliche Italienreise. Wie der Titel ex tempore sagt, geht es darum, ›aus der Zeit zu gehen‹: um Diminutionen, Verzierungen und das Spiel mit dem tempo rubato. 

Ist das bei dir normal, dass du so viel machst, oder liegt das daran, dass dein Studium zu Ende geht und alles zusammenkommt?

Das ist eher normal. Das Unnormale ist, dass ich jetzt ein paar freie Tage in Berlin habe.

Im Programmheft vom Wettbewerb stand, dass du dich mit der Blockflöte und nicht mit dem Klavier beworben hast, weil du gerade ein Programm für dieses Instrument hattest. Wo kam das dann her, hast Du das so aus dem Ärmel geschüttelt?

Ich hatte Stücke, von denen ich wusste, dass das Lieblingsstücke von mir sind, absolute Favoriten, die ich sehr gern spiele. Ich finde diesen Wettbewerb extrem toll: dass man stilistisch vollkommen freie Wahl hat und es nur solistisch sein darf. Es geht um das eigene Konzept und dass man sich künstlerisch präsentieren kann. Das ist sehr selten. Am Klavier ist man gewohnt, Solowettbewerbe zu spielen, aber bei der Blockflöte nicht. Es gibt natürlich einige rein blockflötenspezifische Wettbewerbe wie die Moeck Solo Recorder Competition oder den Telemann-Wettbewerb.

Foto © Verena Brüning

Sind die reizvoll für dich?

Wettbewerbe finde ich immer in dem Sinne reizvoll, dass man Ziele hat, auf die man hinarbeitet und sich anders vorbereitet. Es ist eine andere Motivation. 

Wie bist du auf dein Wettbewerbsprogramm gekommen?

Ich hatte Fixpunkte und habe geschaut, was sich ergänzen lässt.

Was waren deine Fixpunkte?

Seascape von Romitelli, dann Berios Gesti, Austro von Giorgio Tedde. Und dann entstand das Konzept ›From Imitations to Illusions‹: Mich hat fasziniert, dass es meistens um Imitationen und das Imitieren von Naturgeräuschen geht. Dass da eine Illusion entsteht, von der Simulation bis zur Differenz. Dieser Unterschied zwischen dem, was man hört, und der Imitation, die gewollt ist vom Komponisten. Nehmen wir zum Beispiel Austro: Das klingt ja nicht wie Wind. Und wenn man die Hintergründe des Stückes nicht kennt, weiß ich nicht, ob man da dann auch sofort an Wind denkt. Und genau das ist für mich das Spannende. Es ist eine Imitation, aber es ist trotzdem noch immer nicht ›der Wind‹, sondern eine Stufe darunter oder darüber. Es ist eine Abstraktion. Und genau diese Diskrepanz finde ich spannend. Ein weiterer Aspekt war für mich auch, dass Imitation von Natur musikgeschichtlich schon ewig lang existiert. Ich finde es spannend, dass bei van Eyck und auch bei Vivaldi im Hochbarock oft die Natur imitiert wird, aber in einer stilisierten Form. Und dann imitieren Romitelli und Tedde in den 1990ern auch wieder die Natur, aber auf eine ganz andere Weise, naturalistischer, aber es ist wieder eine Annäherung.

Du reizt fast die ganze Instrumentenfamilie aus.

Ja, das spielt schon eine wichtige Rolle: die Vielfalt der Instrumente und Stile. Alte und Neue Musik sind ja auch meistens im Studium fast gleich schwer gewichtet. Natürlich manchmal weniger, manchmal mehr, aber ich habe auch immer bewusst einen großen Schwerpunkt auf Neue Musik gesetzt. Die ist für mich näher am Heute dran und oft schneller verständlich. Und eben auch im großen Kontrast zum Barocken.

Was ist für dich daran schneller verständlich?

Wenn ich mich mit Barockmusik, Renaissancemusik und auch noch früherer Musik beschäftige, habe ich viele Traktate, in denen ich nachlesen kann. Ich kann mich damit beschäftigen, wie es zu der Zeit war und mich über die Komponisten und Komponistinnen informieren. Bei der Neuen Musik ist das anders: Manchmal leben die Komponisten und Komponistinnen noch. Das heißt, ich kann mit ihnen in Kontakt treten und auch wirklich nachfragen. Das mache ich auch sehr gern. Und dann ist das Klangbild näher dran an der Klangwelt, die uns alltäglich umgibt. Vom klanglichen Verständnis ist es natürlicher, näher am aktuellen Leben dran.

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Suchst du dir danach auch deine Stücke aus, mit denen du dich beschäftigen willst?

Das spielt schon eine Rolle. Das Klangliche ist schon immer das Um und Auf. Aber Austro zum Beispiel war ein Stück, das ich davor noch nie gespielt habe. Ich kannte das und wusste: Das ist so eine magische Klangwelt, ich möchte das Stück unbedingt spielen. Das Lustige daran ist, dass es Zirkularatmung erfordert und das konnte ich Anfang Jänner noch gar nicht, aber da war die Programmabgabe. Ich hatte schon jahrelang vor, dieses Stück zu lernen, aber ich wusste nicht, ob ich es lernen kann. Bei der Zirkularatmung ist das ja so: Manche lernen’s, manche lernen’s nicht. Aber ich habe gemerkt: Ich brauche eine riesige Motivation, dass ich diesen Schritt im Kopf gehe und diese Koordination lerne, gleichzeitig ein- und auszuatmen. Allerdings habe ich auch gedacht: Das ist so ein zentrales Stück für mich, ich möchte das unbedingt lernen, ich gebe das jetzt ins Programm. Und dann habe ich begonnen, das zu trainieren. Zu dem Moment, in dem ich erfahren habe, dass ich im Finale bin, konnte ich zwar das Prinzip, aber ich konnte das noch nicht am Instrument. Einerseits habe ich mich extrem gefreut, aber im nächsten Moment dachte ich dann: Oh, ok, jetzt muss ich es schaffen.

Man atmet ja eigentlich nur am Anfang einmal ein und dann geht das …

… 9 Minuten mehr oder weniger, ja. Das stimmt, das ist vor allem eine muskuläre Angelegenheit, das muss man einfach trainieren. Einen Marathon kann man auch nicht von heute auf morgen laufen. Das Körperliche ist aber auch, was mich an allen Stücken fasziniert. Ein so langes Soloprogramm spielt man ja nicht jeden Tag. Und jedes einzelne Stück ist eine eigene Herausforderung. Zum Beispiel, dass man nach einem Stück wie Austro überhaupt weiterspielen kann. Und dann zum Beispiel Gesti: Das Stück ist dafür geschrieben, dass man körperlich komplett an seine Grenzen geht. Es will provozieren, es irritiert, es führt komplett aus der Komfortzone. Und bei Seascape kommt noch dazu, dass man beim Aus- und Einatmen Klänge produziert. Das heißt, dass auch keine Pausen entstehen. Es fließt immer, die Wellen bewegen sich immer weiter. Das ist alles körperlich extrem herausfordernd. Genau das fasziniert mich auch so an der Blockflöte, dass man wirklich Eins mit dem Instrument wird und dass man so extrem körperlich arbeiten muss. 

Wie viel Selbstbestimmung hattest du denn in deiner Ausbildung?

Unterschiedlich. Den Bachelor habe ich ja in Wien gemacht und den Master dann in Salzburg. Grundsätzlich ist es schon so, dass die Gewichtung auch von den Professor:innen abhängt, aber ich hatte das Glück, dass ich in beiden Studien Professor:innen hatte, die sehr offen waren für beide Stile, und dass ich wirklich auch Freiheit hatte. Aber es gibt eben einfach vom Curriculum her Vorgaben. Zum Beispiel jetzt bei der Masterprüfung: Ich kann da kein freies Programm zusammenstellen, sondern muss Vorgaben erfüllen. Und das war eindeutig der Reiz des Wettbewerbs. Da war es wirklich das erste Mal nur meine Entscheidung, was ich spielen kann und will. Das war für mich wirklich das Schönste.

Du hast auch Klavier studiert. Und Blockflöte und Klavier sind ja beides Instrumente, wo man jetzt nicht unbedingt…

… Chancen hat [lacht] …

… ins Studium geht und weiß: Hinterher habe ich die Möglichkeit, eine Stelle irgendwo zu finden. Wie denkst du darüber nach?

Insofern hab ich wirklich eine ›blöde‹ Wahl getroffen [lacht]. Ich meine: Als ich mich für diese beiden Instrumente entschieden habe, habe ich mir darüber wahrscheinlich nicht so viele Gedanken gemacht. Aber Orchesterspielen hat nicht so einen großen Reiz für mich. Ich finde es sehr spannend, wenn man miteinander agieren kann, aber eben besonders in kleineren Ensembles oder auch solistisch. Freiberuflich zu sein, reizt mich und na klar hoffe ich, dass ich davon leben kann.

Kannst du schon einen Einblick geben in das, was du vorhast in der nächsten Zeit?

Ich möchte unbedingt das Programm vom Wettbewerb auf Konzertlänge erweitern, sodass ich Veranstaltern ein ›ganzes Programm‹ anbieten kann. Außerdem sind verschiedene Zusammenarbeiten geplant. 

Ist das Klavier für dich eine Ergänzung, ein Ausleben in einer anderen Epoche, die du vielleicht mit der Blockflöte nicht bedienen kannst?

Ich habe mit Blockflöte begonnen und dann recht bald auch mit dem Klavier. Das lief immer parallel und das war für mich selbstverständlich, dass ich beides mache. Natürlich wird man dann konfrontiert. Leute sagen: ›Du musst dich entscheiden!‹, ›Du musst dich spezialisieren!‹. Ich sage aber nicht Entweder-Oder, sondern Und. Es ist gerade diese epochale Lücke, die man bei der Blockflöte hat, die mit dem Klavier komplett aufgefüllt ist. Und dann mache ich auch viel Neue Musik mit dem Klavier, da gibt es so viele spannende Sachen. Solange es möglich ist, möchte ich gern beides machen. Beide sind so spannende Instrumente mit so verschiedenen Klangwelten, von denen ich keine missen möchte.

Das heißt, der Fokus liegt bei dir beim Klavier auch stark auf dem Zeitgenössischen?

Ich habe das Glück, dass ich einen Professor habe, der sehr offen für Neue Musik ist. Aber ich mag ja das andere Repertoire auch. Es ist natürlich eine Zeitfrage. Mal hat man mehr Zeit für das Eine, dann wieder mehr Zeit für das Andere. Ich überlege, vielleicht noch einen Master in Neuer Musik zu machen. Andererseits merke ich auch gerade: Bei zwei Studien geht die gesamte Zeit für das Studium drauf. Es ist schwierig, alle Projekte, die ich außerhalb noch habe, weiterzuverfolgen. Irgendwann muss man ja mal raus in die echte Musikwelt [lacht].

Hast Du die Universität als einen künstlichen Raum wahrgenommen?

Es ist eine eigene Bubble. In jeder Arbeitswelt, jedem Studium ist man ein bisschen abgeschottet. Das braucht es aber auch, um die Zeit zu haben, die Technik zu lernen und die musikalische Entwicklung in einem geschützten Rahmen passieren lassen zu können.

Indem sie den Raum lässt, die Projekte zu machen, auf die man Lust hat?

Ich glaube, den muss man sich sehr bewusst nehmen. Ich habe schon Zeiten gehabt, in denen ich von diesen zwei Studien sehr eingenommen war und das aber auch so wollte. Und dann ist für einen selber noch nicht so richtig klar, was man alles machen kann. Das Schöne am Studieren ist ja, dass man, wenn man sich den Raum nehmen will, das auch einfach machen kann. Man muss gewisse Erwartungen schon erfüllen, aber ich hatte auch immer Professor:innen und habe sie noch, die das sehr unterstützen.

Was ist für dich zeitgenössisch?

Das, was gestern geschrieben wurde [lacht]. Das ist schwierig, finde ich. Das ist ja eine viel diskutierte Frage. Aber Begriffe wie Alte und Neue Musik sind eben irgendwo auch nur Begriffe. Mir ist das Zeitliche nicht so wichtig. Es sind verschiedene Sprachen, aber es ist immer klar: Für mich ist das alles Musik. ¶

… lebt und arbeitet als freie Oboistin und Instrumentalpädagogin in Berlin. Darüber hinaus leitet sie die Jugendmusiziergruppe »Michael Praetorius« in Leipzig. Ihr musikalisches Interesse gilt insbesondere der (ganz) Alten Musik und dem Musiktheater. Nach ihrem Abschluss in Instrumentalpädagogik begann sie außerdem ein Stadt- und Regionalplanungsstudium an der TU Berlin.